Wenn das Schweigen endetFilmkritik: «Grâce à Dieu» von François Ozon
25.9.2019 • Film – Text: Christian BlumbergFrançois Ozons neuer Spielfilm thematisiert die realen Fälle von Missbrauch durch einen Priester in Frankreich. Grâce à Dieu („Gelobt sei Gott“) ist ein Film mit nobler Agenda, will er doch vor allem Öffentlichkeit schaffen: für einen Opferverein und für den Prozess gegen einen Kardinal, der die Fälle vertuscht haben soll. Der als Autorenfilmer gehandelte Ozon hält sich in seinem Gestaltungswillen deshalb ausdrücklich zurück. Und so zeigt Grâce à Dieu neben der Genese eines öffentlichen Skandals auch, warum es manchmal besser ist, unspektakuläre Filme zu machen.
Im März wurde gegen den Erzbischof von Lyon, Kardinal Philippe Barbarin, ein Prozess eröffnet, weil er sexuelle Übergriffe von Minderjährigen durch einen Priester seiner Diözese vertuscht haben soll. Etwa 70 Personen wurden in den 1970er- und 1980er-Jahren Opfer dieser Übergriffe. Fälle, die erst Jahrzehnte später durch den Zusammenschluss eines Opfervereins publik wurden und schließlich einen nationalen Skandal in Frankreich nach sich zogen. Dem Täter wurde von einem Kirchengericht zwar die Priesterwürde entzogen. Eine strafrechtliche Verfolgung ist indes nicht mehr möglich – die angezeigten Fälle sind verjährt. „Gott sei Dank“ verjährt, soll Kardinal Barbarin kommentiert haben: Grâce à Dieu. François Ozon hat diese wahlweise sehr unglückliche oder eben tief blicken lassende Formulierung zum Titel seines aktuellen Spielfilms erkoren, der die Aufarbeitung der Missbrauchsfälle zum Thema hat.
Grâce à Dieu allerdings als „den neuen Ozon“ zu verschlagworten wäre zwar nicht falsch, dennoch aber ziemlich unzutreffend. Schließlich gibt sich der Regisseur kaum zu erkennen. Nun ist stilistische Vielseitigkeit fraglos eine Eigenschaft Ozons. Seinen Filmen gemein ist jedoch, dass sie sich stets in eine Tradition des Autorenkinos stellen, manchmal auch quer dazu. Hier aber hält Ozon sich derart zurück, dass Fragen von Poetik und Autorschaft fast gänzlich verschwinden – das ist wenigstens ungewohnt.
Von Beginn an ein Film der Sprache
Im ersten Teil mag dieses Verschwinden dem Tempo geschuldet sein, mit dem sich Grâce à Dieu durch die Informationen wühlt, die ihm als „fictional work based on known facts“ zur Verfügung stehen. Der Film begleitet zunächst Alexandre (Melvil Poupaud). Durch Zufall erfährt er, dass ein Priester, der ihn Jahre zuvor in einem Pfadfinderlager missbraucht hatte, noch immer mit Kindern arbeitet. Alexandre ist Mitte 40, führt ein bürgerliches Leben, hat Familie und ist praktizierender Katholik – trotz der Übergriffe in seiner Jugend. Um deren Aufarbeitung kämpft er zunächst allein – seine Geschichte ist daher vor allem eine Abfolge von Briefwechseln mit der Amtskirche, unter anderem mit Kardinal Barbarin. Alexandres höflichem Drängen beantwortet dieser mit Beschwichtigungen, um jeden Millimeter des Fortkommens wird gerungen. Grâce à Dieu ist von Beginn an ein Film der Sprache. Aus den Briefen – deren Wortlaut den Originaldokumenten entnommen ist – wird aus dem Off fast ununterbrochen vorgelesen. Formal wirkt dieser Non-Stop-Kommentar etwas altbacken, wohl aber erzeugt er eine Dringlichkeit, als wolle der Film das jahrelange Schweigen über die Missbrauchsfälle mit Hilfe von Informationsdichte und Tempo kompensieren.
Erst nach einer knappen Stunde gibt Ozon diesen indirekten Erzählmodus auf. Es treten zwei weitere Betroffene an Alexandres Seite: Aus den Briefwechseln werden nun Dialoge. Das Verteilen der Erzählung auf mehrere Schultern mag in erster Linie ein Beharren darauf sein, dass Alexandres Geschichte kein Einzelfall ist. Die Systematik hinter den Übergriffen wird erkennbar. Zugleich kann Grâce à Dieu die Geschichten der Betroffenen nun anhand ganz unterschiedlicher Biografien und Milieus erzählen. Neben neuen Figuren kommen auch immer mehr Institutionen ins Spiel: Familien, Justiz, Medien, Polizei und schließlich der Verein, zu dem sich die Betroffenen zusammenschließen. In seiner stärkeren zweiten Hälfte multipliziert der Film die erzählerischen Perspektiven und entwickelt einen fast systemischen Blick auf die unterschiedlichen Interessen und Motive verschiedenster Akteure.
Schnörkelloses Erzählkino
Als solle nichts dieses aufklärerische Anliegen stören, setzt Ozon dabei auf nüchterne Inszenierung und konventionelle Filmsprache: Grâce à Dieu ist schnörkelloses Erzählkino, die Sachlichkeit ein ästhetischer Gegenentwurf zu jeder Form sakralen Pomps. Manchem mag das etwas dröge vorkommen, vielleicht sogar mutlos: Als wären Inhalt und Form natürliche Feinde. Doch der gestalterischen Zurückhaltung stehen einige Rückblenden entgegen, in denen die Geschehnisse in den Pfadfinderlagern angedeutet werden. Sie dauern nur wenige Minuten, in denen dieser Film zu rumoren beginnt. Da eröffnen sich plötzlich sinnliche Erfahrungsräume: Farben, Stimmungen und Geräusche schaffen körperliche Beklemmung. Man ahnt, dass Ozon den Stoff auch als Thriller hätte erzählen können. Doch wenn der junge Priester in diesen Rückblenden plötzlich an den einer David-Fincher-Produktion entstiegenen Serial Killer erinnert, dann ahnt man weiterhin, was für eine Geschmacklosigkeit so ein Thriller angesichts der realen Vorfälle wohl geworden wäre. Und so entpuppt sich Ozons Poetik der Unauffälligkeit als kluge Wahl: Inszenatorische Langeweile kann einem Film auch gut tun.
Grâce à Dieu hat schließlich auch keinen cineastischen Auftrag, sondern einen sehr realweltlichen. Im Februar wurde der Film im Wettbewerb der Berlinale uraufgeführt, sein französischer Kinostart folgte nur wenige Tage später und fiel damit mit der Prozesseröffnung gegen Kardinal Barbarin zusammen. Schon dieses Timing verrät, dass Grâce à Dieu sich selbst als eine Form von Öffentlichkeitsarbeit versteht, die sich den Aktivistinnen und Aktivisten konkret zur Seite stellt. Ob es geholfen hat? Anfang März wurde Barbarin zwar zu einer Haftstrafe verurteilt, jedoch nur in erster Instanz. Der Kardinal ist inzwischen in Berufung gegangen.
Grâce à Dieu
F/B 2019
Regie: François Ozon
Drehbuch: François Ozon
Darsteller: Melvil Poupaud, Denis Ménochet, Swann Arlaud
Kamera: Manuel Dacosse
Musik: Evgueni Galperine, Sacha Galperine
Laufzeit: 137 min
ab dem 26.09.2019 im Kino