Krokodilstränen RockFilmkritik: „Rocketman“ von Dexter Fletscher

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Alle Fotos: © Paramount Pictures Germany

Verfilmte Musikerbiographien scheinen in Mode zu sein. Kürzlich das Biopic „Bohemian Rhapsody“, jetzt „Rocketman“ über Elton John. Kann unser Filmredakteur Alexander Buchholz mit diesem Film mehr anfangen als mit dem Queen-Kassenschlager?

Die Filmredaktion letztens so zu mir: „Sag mal, Alex, magst du dir vielleicht Rocketman anschauen und uns dann was dazu schreiben?“ Ich so: „Na klar, ich war und bin doch ein großer Elton-John-Fan!“ „Oh Gott. Na, wie dem auch sei: Sei so gut und tipp nicht einfach deine Bohemian Rhapsody-Rezension ab, ja? Auch wenn’s nahe liegt ...”

Hm. Na schön. Blöd. Aber wenn‘s denn sein muss. Der alte Text hätte es eigentlich auch getan, finde ich. Die Filmemacher haben nämlich, so scheint‘s, auch kaum mehr getan, als nur das Drehbuch von Bohemian Rhapsody zu recyceln. Wer das Queen-Biopic gesehen hat – und wer hat das nicht, denn irgendjemand muss dem Film ja das weltweite Einspielergebnis von bislang rund 900 Millionen Dollar beschert haben – weiß schon, was am Anfang, in der Mitte und am Ende von Rocketman passiert: Wieder ist es ein freaky Wunderkind, das sich ins Showbiz begibt, um sich so die Zuneigung seiner Eltern zu erkaufen. Seinem kometenhaften Aufstieg folgt ein tiefer Fall, katalysiert durch falsche Freunde und Rauschmittelkonsum, nur um später wieder aufzuerstehen und noch größer zu werden als je zuvor.

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Taron Egerton als Elton John

Rocketman beginnt damit, wie Reginald Dwight aka Elton John (Taron Egerton) in mächtig flamboyanter Bühnenkostümierung in ein Treffen der Anonymen Alkoholiker platzt, um dort seine Lebensgeschichte auszubreiten: Drogenabhängig sei er, ein Säufer, außerdem sex-, liebes- und kaufsüchtig. Doch damit sei jetzt Schluss, sagt er, und bricht sich die Teufelshörner von seinem Outfit ab. Weshalb er all das geworden ist, erzählt Rocketman unglücklicherweise in Form eines Musicals. Wie es in einem solchen üblich ist, bricht die Handlung immer wieder plötzlich ab, und es wird gesungen und getanzt, weil ja die ganze Welt eine Bühne ist. Da wird dann die Therapiegruppe zu seinem Publikum, und Elton swingt geradewegs zurück in seine Kindheit im einem beschaulichen Londoner Vorort, wo er sich selbst begegnet – als pausbäckigem, bebrilltem Bübchen, in dem ein unerschöpfliches Künstlertalent schlummert.
Dank der Förderung seiner Großmutter und nach einer Stippvisite an der Musikhochschule wartet eine Karriere als Rockstar auf ihn. Unglücklich verliebt in seinen Co-Songschreiber Bernie (Jamie Bell), treibt es ihn in die Arme von Satan persönlich, John Reid (Richard Madden), der als Eltons Manager und Liebhaber diesen rücksichtslos zum Goldesel zurichtet.
Wird es Elton gelingen, dem Fegefeuer der Unterhaltungsindustrie der ausgehenden 1970er-Jahre zu entkommen und seine Dämonen zu bändigen, um zu heiraten, Kinder zu adoptieren und sich ein fürchterliches Haarteil aufzusetzen? Könnte sein. Ich will euch den Film jetzt nicht gänzlich wegspoilern …

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Richard Madden spielt Eltons Manager und Lover John Reid

Von Beginn an schal

Was nimmt man mit nach dem Film, wenn der Abspann losrollt? Was für ein Scheißjob es sein muss, ein internationaler Popstar zu sein? Aber warum bloß wollen das dann immer alle werden? Hat Elton John eine Sekunde lang Spaß gehabt in seiner Karriere? Rocketman vermittelt nicht den Eindruck, als wäre es so gewesen. Über eine Laufzeit von über zwei Stunden kreiert der Film ein Kaleidoskop aus Popmythen und Superstar-Phantastereien, das jedoch bereits in dem Moment, in dem man es erblickt, schal und trüb ausschaut. Eingerahmt von dem Bild der Gruppentherapie, ist der ganze Exzess, den Rocketman durchaus temporeich schildert, von vornherein vollständig ausgebremst.
Der Film gibt dauernd Vollgas mit den Schilderungen von Johns glorreichsten Konzertauftritten und wildesten Aftershow-Partys und vergisst dabei, die Handbremse zu lösen. Egertons Elton John hat nie wirklich Spaß mit Sex und Drogen: Die Drogen werden nicht schal, sie sind es von Beginn an.

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„There is no such thing as addiction, there’s only things that you enjoy doing more than life“, so hat es ein weiser Mann einmal auf den Punkt gebracht. Hätte Rocketman diese Erkenntnis wenigstens für einen Moment im Herzen getragen, wäre Dexter Fletschers Film vielleicht wirklich so freigeistig und risqué geworden, wie man ihn jetzt kurz vor dem Kinostart mit dem bisschen Homosex noch verkaufen will. Nein, Rocketman schaut aus dem tristen ersten Quartal des 21. Jahrhunderts auf die Siebziger und kann nicht anders, als dauernd nur den Kopf zu schütteln. Das ist wirklich ein Jammer, kann das Genre des Biopics, wenn es seinen Gegenstand ernst nimmt, doch tatsächlich von vergangen Zeiten so erzählen, dass es uns die Gegenwart aufzuschlüsseln vermag. Soderberghs Liberace-Biografie Behind the Candelabra war so ein Porträt eines Bühnenarbeiters und seiner Epoche, welches eben das bewerkstelligt hat oder natürlich Martin Scorseses häufig unterschätzter The Wolf of Wall Street. Rocketman hat mit seiner schlichten Aneinanderreihung abgestandener Klischees schlicht nichts sagen. Einiges von dem, was der Film zeigt, ist vermutlich nah dran an den Tatsachen, anderes wieder bass gelogen, aber alles ist vor allem eins: mir ziemlich egal.

Rocketman
GB/USA 2019
Regie: Dexter Fletcher
Drehbuch: Lee Hall
Darsteller: Taron Egerton, Jamie Bell, Richard Madden, Bryce Dallas Howard, Gemma Jones, Steven Mackintosh
Kamera: George Richmond
Schnitt: Chris Dickens
Musik: Matthew Margeson
Laufzeit: 121 min
ab dem 30.05.2019 im Kino

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