Willkommen im 21. JahrhundertBuchrezension: „Realitätsschock“ von Sascha Lobo
26.9.2019 • Kultur – Text: Jan-Peter WulfSascha Lobo hat ein Buch geschrieben und es behandelt vom Klimawandel über KI und Gesundheit bis zum Rechtsruck ein breites Themenfeld. Was sie aus Sicht des Autoren eint: Sie alle sind anders als wir glauben, dass sie es sind. Weil wir gefühlt und analytisch immer noch im 20. Jahrhundert stecken – von den Spätgeborenen abgesehen. Jan-Peter Wulf hat das Buch gehört und stellt es vor.
Was ist ein Schock? Im allgemeinen, nichtmedizinischen Sinne ist es eine „durch außergewöhnlich belastendes Ereignis bei jemandem ausgelöste seelische Erschütterung [aufgrund deren die Person nicht mehr fähig ist, ihre Reaktionen zu kontrollieren]“, sagt das Google-Ergebnis.
In dem Sinne wäre ein „Realitätsschock“ ein Schock, der durch das Ereignis Realität ausgelöst wird, das über jemanden hereinbricht und seine Kontrolle versagen lässt. In der Psychoanalyse spricht man vom „Einbruch des Realen“, der dann passiert, wenn die durch Symbole und Repräsentationen konstruierte (Schein-)Welt in sich zusammen stürzt oder ganz einfach die Realität durchschimmert wie das Spiegelbild eines Kameramanns, der ungeplant im Bild auftaucht wie in schlecht produzierten Filmen oder in No Limit von 2 Unlimited.
„Realitätsschock“, das ist der Begriff, den Sascha Lobo für sein neues Buch zum Titel geprägt und gewählt hat. Dahinter lässt sich ein dramatisches Buch vermuten. Vermutlich will es sich auch so verkaufen – das Marketing stimmt und zur Print-VÖ (der erste Schub Bücher wird handsigniert) ist auch das Hörbuch nebst einer Micropage mit weiterem Content am Start.
Tatsächlich aber ist es eine sehr sachliche, für Lobo weitestgehend und daher ungewohnt unpolemische Analyse geworden. Eine Analyse-Analyse oder Analyse zweiter Ordnung in vielen Teilen sogar, denn Lobos übergreifende These ist, wie er in einem Podcast erklärte, dass „die meisten von uns, die Erwachsenen fast alle, im 20. Jahrhundert geprägt worden sind (und) mit dem Blick des 20. Jahrhunderts auf Probleme schauen, auf Analysen schauen, auch auf die Datenlage schauen, dass wir es aber eigentlich aber längst mit Phänomenen des 21. Jahrhunderts zu tun haben.“ Die Zukunft – oder vielmehr Gegenwart – ist schon da, wir haben es nur noch nicht gecheckt und versuchen, sie mit einem obsoleten Instrumentarium zu begreifen und auf sie zu reagieren. Wenn das nicht funktioniert, was meistens der Fall ist, dann bricht sie ein, die Realität: Von einem „Überdosis Weltgeschehen“ spricht Lobo, von der Kollision messbarer Wahrheiten, von Ent-täuschung.
Und das in allen Bereichen: Zehn Kapitel hat sein Buch, es geht um den Realitätsschock Klimawandel (klar), um Migration, um Integration, um Rechtsruck, um Arbeit und KI, um China, um Digitale Gesundheit, um Soziale Medien und Shitstorms, um „Emotional Economy“ und am Ende auch um Hoffnung. So. Bis auf die Einleitung und Kapitel 10, das sollte tatsächlich zum Schluss gelesen oder gehört werden, kann man sich in der Reihenfolge frei bedienen – take your reality shock pic. Zum Thema Klimawandel (und Artensterben) hat Lobo viel Wichtiges zu sagen, vornehmlich in Darlegung von Fakten, aber auch Veranschaulichungen wie etwa von Eisbären, die in arktische Wohnsiedlungen vordringen in Ermangelung von Nahrung. Hier hat David Wallace-Wells allerdings einen Schock abgeliefert, den so schnell niemand übertrumpfen kann, in die Tiefe kann Lobo nicht gehen, hat er doch noch eine Menge anderer Themenäcker zu bestellen.
Migration, die sich auf unmenschliche Art stauen, aber nicht stoppen lässt, das Bevölkerungswachstum Afrikas und die dort „programmierte Ausweglosigkeit“ machen sie zu einem immer stärker werdenden normativen Druck. Was zugleich zu einem Braindrain in den Ländern, die verlassen werden, führt. Die „Bekämpfung der Fluchtursachen“ enttarnt der Autor als Bullshit-Begriff, er hat selbst auch nicht wirklich eine Lösungsidee parat. Was man ihm kaum vorwerfen kann.
An dieses schließt sich der nächste Schock an, der ebenfalls eher einer im Sinne einer lähmenden Erkenntnis ist: Integration in Europa ist kaputt, sagt Lobo, so wie er einst sagte, das Internet sei kaputt. Stimmt: Anerkennung, Teilhabe – setzen, fünf minus. Das Versprechen des sozialen Aufstiegs hat sich, belegt er, als Chimäre entpuppt, die Armut bleibt vor allem für Migranten, über viele Generationen hinweg, Realität. Und dass vor dem Hintergrund eines wachsenden Autoritarismus und Nationalismus in der islamischem Bevölkerung in Deutschland – auch ein Element des Integrations-Scheiterns – die Stimmen der liberalen Muslimen zu wenig gehört werden, betont er völlig zurecht.
Ein Ruck müsse durch Deutschland gehen, sagte ein Bundespräsident mal. Den aktuellen Rechtsruck dürfte er nicht gemeint haben, doch der geht durchs Land, Lobo schreibt darüber ständig in seinen Kolumnen. Seine zentrale These, dass das Gegenteil von Rechtsradikalismus nicht Linksradikalismus ist, taucht in modifizierter Form im Buch auf: Da ist kein Mittelweg zwischen menschenfeindlich und nicht menschenfeindlich. Warum der Ruck? Unter anderem weil auf dem Land (unter anderem im Osten) die Infrastruktur marode ist, die Schulen kaputt sind, die digitale Katastrophe auch einen Brain Drain verursacht, vor allem einen weiblichen: Die besser ausgebildeten Frauen gehen weg, frustrierte, in diesem Fall tatsächlich abgehängte Männer bleiben zurück (die Ratio mancher Orte liegt bei nur sechs Frauen auf zehn Männer) und es entstehen Frustration, Hass, Aggression, Gewalt und so weiter. Recht überzeugend, ebenso das Kapitel über Künstliche Intelligenz: Wie ein Frosch, der längst im Wasser gart, sitzen wir da und sehen die Automatisierung am Horizont, dabei ist sie längst Teil unserer Gegenwart, ein Prekariat ist längst im Entstehen begriffen.
Am stärksten ist – persönliche Meinung – das Kapitel über China. Ja, was da abgeht, digital, darüber hat man vielleicht schon was gelesen oder gehört. Doch Lobo packt ordentlich aus. Er legt dem im Museum Europa Lebenden gigantische Umsätze durch mobiles Bezahlen auf den Tisch. Mega-Influencer, die Tausende Autos in wenigen Minuten verkaufen, Vorschüler die KI lernen, während Deutschland plant, alle Schulen ans Netz zu bringen, Überwachung/Selbstüberwachung mit Shaming-Apps, die gesamte Breite und Tiefe der digitalen Hegemonie. Das 21. Jahrhundert ist ein „chinesisches Jahrhundert“, denn die Geschwindigkeit und Entschlossenheit, mit dem China daran arbeitet, sei enorm. Dort ist übrigens, nach vier Jahren Bauzeit, gerade der weltgrößte Flughafen eröffnet worden, der BER weiterhin eine Stelle, von der man nicht weiß, ob dort gebaut wird.
Während die Welt kaum mitbekommt, was China gerade macht, steht der große Realitätsschock in der Medizin uns als Patienten noch bevor, sagt Lobo: Der kommt spätestens dann, wenn unser „digitaler Zwillingskörper“ geboren ist, ein virtuelles Abbild mit Daten, die unseren Körper beschreiben. Die dafür nötige Konnektivität – Gentests, Stimmanalysen als Diagnoseinstrument und weitere Teilkonzepte liegen schon vor – sei nur eine Frage der Zeit, weil das Gesamtgefüge zu wertvoll sei, um davon abzulassen.
Mit Social Media und Shitstorms kennt Lobo sich aus, die Analyse betreibt er seit vielen Jahren, und er ist permanent selbst Gegenstand von Shitböen, praktisch erwartungsgemäß nach einem neuen Text. Durchs Netz geisternde Verschwörungstheorien, über die er sich umfassend äußert, helfen zumindest gegen eines: von der Realität schockiert zu werden. Weil sie alles – ihr Fürsprechendes, Neutrales und Widersprechendes – in sich aufzusaugen wissen. Da bleibt man immun und die Welt am Ende eine Scheibe. Fast ist man etwas neidisch, nicht selbst in einer derart gemütlichen Dimensionalität zu leben.
Und dann ist da noch das Kapitel „Emotional Economy“, brand-einsiger könnte der Begriff kaum sein. Klar: Wer über die ganze Gesellschaft schreiben will, muss auch die Wirtschaft einbeziehen. Ein wenig weist dieses Kapitel, in dem grob verkürzt beschrieben wird, dass junge Menschen wie Kylie Jenner und Marie Kondo besser wissen, wie man Dinge/Erlebnisse verkauft, schon auf den Schluss des Buches hin: Die Alten können und müssen von den Jungen lernen, wie die Welt anno 2019 läuft oder es eben nicht so richtig rund tut. Junge Menschen – die Millennials und die Generation Z – können besser, sprich reflektierter und unsüchtiger mit Social Media umgehen, zeigen Studien. Und generell mit der Informationsflut, die uns mit Weltgeschehen wichtiger und unwichtiger Art überdosiert. Vor allem aber mit dem Wichtigsten: dem Klimawandel, weil ihre Bereitschaft, ihr Leben zu ändern, qua später Geburt und dem Leben im 21. Jahrhundert, nicht mehr dem 20., am größten ist.
Es ließe sich über jedes Thema locker ein eigenes Buch schreiben, das passiert natürlich auch schon. Der thematische Rundumschlag dieses Buchs aber adressiert ein breiteres Publikum, und das scheint zu funktionieren, sagt die Sachbuch-Bestseller-Liste. Was am Ende zu kritisieren bleibt: Manchmal hätte noch deutlicher herausgearbeitet, resümiert werden können: Das ist der Realitätsschock bei diesem Thema, das ist das Problem. Und vielleicht auch: Das könnte eine Lösung sein, oder zumindest – mit diesem Instrumentarium können wir die Sache angehen.