Wir bleiben zu Hause, wir gucken Heimkino: Empfehlungen unseres Filmautors Sulgi Lie für die Wohnzimmerleinwand. Heute: „Two Lovers“ von James Gray. Der Regisseur baut in seinem vierten Film sein unverwechselbares filmisches Universum weiter aus: Die russisch-jüdische Community von Brighton Beach ist Grays Labor, der Verfall traditioneller sozialer Netzwerke das Forschungsfeld.
James Grays Filme gehören zum Schönsten, was das amerikanische Kino in den letzten zwei Dekaden hervorgebracht hat. Gray steht in denkbar größter Distanz zu Regisseuren, die mit jedem Film Thema, Stil und Genre auswechseln: Wie ein Maler variiert er im Grunde genommen immer wieder dasselbe Stillleben und gestattet sich nur minimale Veränderungen in Sujet, Tonfall und Farbpalette. Seine Filme fügen sich zu einem unverwechselbaren filmischen Universum, dessen „longue durée” mit jedem neuen Film die früheren in Erinnerung ruft – auch im Wortsinn, wenn man sich die Erscheinungsjahre vergegenwärtigt (1994: Little Odessa, 2000: The Yards, 2007: We Own the Night und 2008 Two Lovers, danach erschienen 2013 The Immigrant, 2016 The Lost City of Z und zuletzt Ad Astra – Zu den Sternen.
Es ist eine geschlossene Welt, in der Grays Filme situiert sind: die russisch-jüdische Community von Brighton Beach, einem östlichen Stadtteil New Yorks, in der die Straßenzüge und Geschäfte noch kyrillische Schriftzeichen tragen. Man glaubt in jedem Gray-Film gar dieselben alten Backsteinhäuser, Strandcafés und U-Bahnstationen wieder zu erkennen, als ob in diesem Milieu die Zeit zum Stillstand gekommen wäre. Auch wenn die Filme in der Gegenwart spielen, sind die braun- und sepiagetönten Bilder von der melancholischen Patina einer vergangenen Vormodernen bedeckt. Dazu passt, dass im Zentrum aller vier Filme Familiengeschichten stehen. Es sind Geschichten von verlorenen Söhnen, die als Gangster zurückkehren (Little Odessa), von verfeindeten Brüdern (We Own the Night) und liebenden Müttern, denen eine wunderbar gealterte Isabella Rossellini nun in Two Lovers Gestalt verleiht. Überhaupt ist es einzigartig, mit welcher Subtilität Gray alte New-Hollywood-Stars wie Ellen Burstyn, James Caan, Faye Dunaway oder Robert Duvall in diesen paternalen und maternalen Rollen inszeniert. Hier tritt er das Erbe der großen italo-amerikanischen Regisseure wie Francis Ford Coppola und Michael Cimino an, die in ihren Filmen die Familie als Vergemeinschaftungsmodell beschworen haben. So gibt es in jedem Gray-Film eine große Familienzeremonie, die an die verschwenderischen Rituale aus Coppolas Der Pate-Trilogie erinnert.
In einigen Szenen arbeitet Gray mit unmerklichen Bildverlangsamungen und Soundmodulationen, die an bestimmte Verfahren elektronischer Musik erinnern. Ambient Action könnte man das nennen.
Desorientierte Gewalt
Trotz seiner Affinität zum Hollywood-Kino der 70er-Jahre zielen Grays Filme dennoch nicht auf ein nostalgisches Projekt: Obwohl die solidarischen Strukturen von Familie und Nachbarschaft zelebriert werden, erzählen alle Filme auch von der Auflösung dieses organischen Bandes. Bei Gray gibt es die Familiengeschichte nur als Verfallsgeschichte: So zerstört Tim Roth als tragischer Held in Little Odessa seine Familie, die er liebt. Mark Wahlberg muss sich in „The Yards” gegen seinen korrupten Ziehvater stellen und Joaquin Phoenix ist in We Own the Night zwischen seiner Polizistenfamilie und einer kriminellen Kariere hin- und hergerissen. So erzählen die ersten drei Filme von der inneren und äußeren Zersetzung der Familie durch Big Business und Verbrechen. Die Gewalt hat ihre reinigende Kraft verloren und schlägt traumatisch auf die Familie zurück. In zwei fulminanten Action-Szenen in We Own the Night lässt Gray die spektakuläre Exhibition der Gewalt in eine somnambule Desorientierung kippen, die mit der Attraktionslogik sonstiger Hollywood-Ballereien nicht viel zu tun hat. Eine Verfolgungsjagd im Regen verwandelt sich durch destruktive Montage und ein Drone-artiges Sounddesign zu einem düsteren Alptraum und der finale Shoot-Out inmitten hoher Schilfgräser wird gar vom Rauch der Nebelgranaten verschluckt. Gray arbeitet in beiden Szenen mit unmerklichen Bildverlangsamungen und Soundmodulationen, die an bestimmte Verfahren elektronischer Musik denken lässt. Ambient Action könnte man das vielleicht nennen. Die musikalische Sensibilität Grays zeigt sich insbesondere auch in den Club- und Partyszenen, die wiederum leitmotivisch seit The Yards in allen Filmen auftauchen. Während die meisten Hollywoodfilme Clubs zu bloßen Hintergrundkulissen für machohaftes Geprotze und halbnackte Table-DanceGirls degradieren, nimmt Gray die Disko als Ort einer ekstatischen Körperlichkeit ernst.
Sei es der euphorische Tanz Charlize Therons zur Proll-Fußball-Hymne „Samba de Janeiro” oder die Kameratotale über einen koksgeschwängerten Brooklyner Tanztempel zu Blondies „Heart of Glass“ zu Beginn von We Own the Night – Gray gelingt es, sowohl den Affektrausch des Feierns als auch seine Zeitspezifik zu vermitteln: Ist „Samba de Janeiro“ untrennbar mit den 90ern verbunden, so setzt „Heart of Glass” genau so stark alle Zeichen auf die 80er, wie es einst „Call Me“ in Paul Schraders American Gigolo tat. In Fortführung dieser Szenen gibt es nun in Two Lovers eine großartige Breakdance-Einlage von Joaquin Phoenix zu Mobys „I love to move in here“.
Gebäudereinigung
Gray und Phoenix sind ein verschworenes Duo: Two Lovers ist bereits die dritte Zusammenarbeit in Folge und wieder erfindet Phoenix für seine Figur eine unnachahmliche Physiognomie. Two Lovers markiert aber auch die erstmalige Abkehr vom Gangster-Genre: Phoenix spielt den psychisch labilen Leonard, der nach einem Suizidversuch wieder zu seinen Eltern gezogen ist, und in der väterlichen Reinigungsfirma arbeitet. Er verliebt sich in seine ebenso neurotische Nachbarin Michelle (Gwyneth Paltrow), die aber mit einem verheirateten Mann liiert ist, und in Leonard nur einen besten Freund sieht. Zur gleichen Zeit beginnt Leonard aber auch eine Liaison mit der sanften Sandra (Vinessa Shaw), die Tochter des Geschäftspartners seines Vaters. Es ist die alte Story eines Mannes zwischen zwei Frauen: gespalten zwischen dem idealisierten Fantasieobjekt, das unerreichbar scheint und der realen Frau, die ihn liebt. Gray entgeht aber der Falle einer phantasmatischen Überhöhung dieses alten Kino-Szenarios, sondern entscheidet sich für eine gleichsam realistische Erzählung, die aber trotzdem nicht die Lust am Trugbild verrät.
Two Lovers ist ganz und gar der Film von Joaquin Phoenix, und man muss schon gesehen haben, wie er alle Register zwischen Schüchternheit, Verletzlichkeit, Übermut und Depression zieht. Aber auch Gwyneth Paltrow ist so gut wie lange nicht mehr. Gray hat mit Viscontis Dostojewski-Adapation „Weiße Nächte” aus den 50er-Jahren einen Film als Inspiration genannt, der wie Two Lovers um die unglückliche Liebe eines Mannes zu einer Frau handelt, die einen anderen Mann liebt. Die beiden Filme ähneln sich aber auch darin, dass sie eine eigentümliche Mischung aus Unmittelbarkeit und Künstlichkeit favorisieren, in der die Genauigkeit der Milieubeobachtung mit einem halluzinogenen Filter umflort scheint. Auf jeden Fall zeigt sich Gray auf der Meisterschaft seiner Ambient-Ästhetik: In der schönsten Sequenz des Films erscheinen die Ansichten Manhattans aus der Perspektive Leonards wie in hypnotische Trance-Langsamkeit heruntergepitcht. Manhattan erscheint wie ein fremder Planet. Darüber schwebt Henry Mancinis schwereloses „Lujon”. Movies is Magic.