Tim Schenkl hat auch in diesem Jahr bereits vor dem Festivalstart das Programmheft gewälzt und präsentiert euch hier seine – erwarteten – Highlights der 70. Berlinale.
Heute Abend beginnt mit dem Eröffnungsfilm My Salinger Year von Philippe Falardeau die 70. Berlinale. Von dem neuen künstlerischen Leiter Carlo Chatrian, der dem Festival gemeinsam mit der Geschäftsführerin Mariette Rissenbeek von nun an vorstehen wird, versprechen sich vor allem die Kritiker des vorherigen Festivalleiters Dieter Kosslick eine spürbare inhaltliche Neuausrichtung. In seinem Grußwort im Programmheft stellt der Italiener in Anspielung auf den großen französischen Filmtheoretiker André Bazin gleich zu Beginn die alles entscheidende Frage: „Was ist Kino?“ Eine klare Definition folgt nicht, denn die scheint es für Chatrian, der das Festival mit einem eigenen Blog begleitet, nicht zu geben. Er stellt die Vielfalt des internationalen Filmschaffens in den Vordergrund und verweist darauf, dass die Filme, die er auf der Berlinale zeigen will, mehr Fragen stellen als Antworten geben. Einen radikalen Neuanfang hält Chatrian nicht für notwendig, er sieht sich eher in der Rolle eines sanften Reformers als in der eines Revolutionärs.
Nazis & Coronavirus
Um noch einmal auf das Fragenstellen zurückzukommen: In der Wochenzeitung „Die Zeit“ wurden in den Tagen vor der Berlinale Fragen zur Rolle des ersten Leiters der Berlinale Alfred Bauer als Teil der nationalsozialistischen Filmpolitik aufgeworfen. Bauers Verstrickungen waren zwar lange bekannt, vermutlich jedoch nicht im vollen Maße. Eine Historiker*innen-Kommission soll die Vergangenheit jetzt aufarbeiten. Außerdem wird der Alfred Bauer Preis für neue Perspektiven der Filmkunst ausgesetzt. Stattdessen soll in diesem Jahr ein Sonderpreis verliehen werden.
Auch das Coronavirus treibt der neuen Festivalleitung die eine oder andere Sorgenfalte auf die Stirn. In einer Pressemitteilung wurde dem Publikum versprochen, dass jedmögliche Vorsichtsmaßnahme ergriffen werde. So sollen z.B. auf dem kompletten Festivalgelände Spender mit Desinfektionsmitteln zur Verfügung stehen.
Wettbewerb
In vielen Berichten im Vorfeld wurde bemängelt, dass es der Berlinale in diesem Jahr am nötigen Glamour fehle, da nur sehr wenige Hollywoodstars nach Berlin kommen, wie Johnny Depp, der für den Film Minamata“ über den US-Fotografen W. Eugene Smith anreist. Auch der erste Blick auf die Filme des Wettbewerbes rief bei mir keine großen Jubelstürme hervor. Die leichte Hoffnung, Chatrian würde es gelingen, Stammgäste von den Festivals in Cannes und Venedig wie Michael Haneke, Pedro Almodóvar oder Lars von Trier ins kalte Berlin zu locken, erfüllt sich offensichtlich erstmal nicht. Doch beim zweiten Blick auf die diesjährige Auswahl musste ich feststellen, dass ich selten so viele Wettbewerbsfilme auf meine To-see-Liste geschrieben habe.
Toll wird bestimmt der neue Film der US-amerikanischen Indie-Filmemacherin Kelly Reichardt. Ihr letztes Werk Certain Women mit Laura Dern, Michelle Williams und Kirsten Stewart zählte für mich zu den Highlights des Filmjahres 2016. In First Cow setzt Reichardt nun nicht auf große Namen und erzählt von der Besiedlung Amerikas zu Beginn des 19. Jahrhundert.
Äußerst spannend klingt für mich auch DAU. Natasha, bei dem Ilya Khrzhanovskiy und Jekaterina Oertel Regie führten. Der Film entstand im Rahmen des sagenumwobenen DAU-Projekts. Die Filmbeschreibung verspricht einen Blick in die Abgründe der Psyche und eine Analyse des Totalitarismus. Außerdem sollen Trinkspiele eine entscheidende Rolle spielen.
Trinkspiele filmt eigentlich niemand so gut wie der südkoreanische Meisterregisseur Hong Sangsoo. Nachdem er mit seinem letzten Film Grass ins Forum abgeschoben wurde, ist er nun mit The Woman who ran zurück im Wettbewerb. In der Hauptrolle ist wie in letzter Zeit immer Kim Minhee zu sehen. Ich freu mich!
Ähnlich wie bei Hong sind auch die Filme des Franzosen Philippe Garrel ein ewiges Update ihrer selbst. Wiederholung ist hier sowohl formal als auch inhaltlich Methode. In Le sel des armes erzählte Garrel die Geschichte des Kunsttischlers Luc, der zwischen mehreren Frauen steht. Klingt nach einem recht männlichen Blick auf die Welt in einem Wettbewerb, in dem deutlich mehr Regisseurinnen ihre Arbeiten zeigen können, als dies bei anderen A-Festivals zumeist der Fall ist. Trotzdem sind wir von einer 50-50-Quote immer noch weit entfernt.
Außerdem gibt es in diesem Jahr im Wettbewerb einen Berlin-Schwerpunkt: In Berlin Alexanderplatz verlegt Regisseurs Burhan Qurbani Alfred Döblins Roman in das Berlin der Neuzeit. Im Mittelpunkt der Handlung steht jetzt der Westafrikaner Francis, der wie Franz Biberkopf an der Unerbittlichkeit seiner Umwelt zu zerbrechen droht.
Im Hauptstadtfilm des Schweizer Regie-Duos Stéphanie Chuat und Véronique Reymond mit dem Titel Schwesterlein spielen Nina Hoss und Lars Eidinger ein Geschwisterpaar in der Berliner Theaterszene, das durch einen Krankheitsfall aneinander geschweißt wird.
Auch Christian Petzold ist mit Undine aus Marseille zurück in Berlin. Er und seine beiden Transit-Stars Paula Beer, auch bekannt aus der Serie „Bad Banks“, und Franz Rogowski tauchen ein in die Gegend rund um das Humboldt Forum und verpassen E.T.A. Hoffmanns romantischer Oper einen märchenhaften Neuanstrich.
Encounters
Die vermutlich signifikanteste Änderung durch Chatrian und sein Team ist die Einführung eines zweiten Wettbewerbs. Die Sektion Encounters will internationales Filmschaffen zeigen und prämieren, das traditionelle Sehgewohnheiten herausfordert und sowohl ästhetisch als auch produktionstechnisch neue Wege geht. In der offiziellen Beschreibung heißt es, Encounters sei als ein Kontrapunkt zu verstehen. Was vermutlich heißt, dass hier Filme zu sehen sind, die zu sperrig oder künstlerisch-radikal sind, um im regulären Wettbewerb zu laufen.
In der Encounters Sektion werde ich mir auf jeden Fall die bereits zweite filmische Begegnung zwischen dem philippinischen Regie-Punk Khavn De La Cruz und dem Grandseigneur des Neuen Deutschen Films Alexander Kluge ansehen – bei der die wunderbare Lilith Stangenberg die Hauptrolle spielt. Orphea heißt das Werk und der Trailer sieht sehr, sehr wild aus.
Interessant wird sicherlich auch Shirley von Josephine Decker mit Elisabeth Moss aus Mad Men in der Hauptrolle sowie der Debütfilm der DFFB-Absolventin Melanie Waelde mit dem Titel Nackte Tiere, der von fünf jungen Menschen in der Trostlosigkeit der deutschen Provinz erzählt.
Forum & Panorama
Vor der Veröffentlichung des Programms der Berlinale wurde bereits geunkt, dass die neue Sektion Encounters dem Forum, welches in diesem Jahr zum fünfzigsten Mal stattfindet, Filme abgraben könnte. Ob dies letztlich eingetreten ist, lässt sich schwer beurteilen. Ich muss jedoch feststellen, dass mir nur sehr wenige Namen von Forums-Regisseur*innen bekannt vorkommen. Ausdrücklich empfohlen wurde mir El TANGO DEL VIUDO y su espejo deformante. Der nie zu Ende gebrachte erste Spielfilm des chilenisch-französischen Regisseurs Raúl Ruiz galt lange als verschollen und wurde jetzt in mühevoller Arbeit von Valeria Sarmiento fertiggestellt. Erzählt wird die Geschichte eines Witwers, der vom Geist seiner Frau heimgesucht wird.
Auch das Programm des Panoramas, in dem im letzten Jahr noch Highlights wie Mid90s zu sehen waren, lässt mich dieses Mal etwas ratlos zurück. Angucken werde ich mir auf jeden Fall aber A l’abordage des Franzosen Guillaume Brac, dessen Debüt Un monde sans femmes (2012) ich sehr mochte. Seinen neuen Film, eine romantische Komödie, hat er ausschließlich mit Laien und jungen Theaterschauspieler*innen gedreht.
Ausdrücklich zu empfehlen ist in diesem Jahr auch die Retrospektive der Filme von King Vidor. Da kann man nicht viel falsch machen! Fans des viel zu früh gestorbenen Jóhann Jóhannsson sei außerdem Last and first men ans Herz gelegt. In dem Film, bei dem der isländische Musiker selbst Regie führte, treffen seine Kompositionen in beeindruckenden Schwarz-Weiß-Bildern auf Bauwerke des Brutalismus und die Stimme von Tilda Swinton.
Tägliche Updates von der Berlinale findet ihr ab morgen in unserem Blog. Ich wünsche eine gute Projektion.