Per Anhalter durch den BalkanGeschichten vom Beifahrersitz, Teil 3: Albanien
26.3.2020 • Gesellschaft – Text & Fotos: Livia LergenmüllerDie Europawahl im vergangenen Jahr und der Brexit haben Europa zu einem der wichtigsten Gegenstände der medialen Debatte des letzten Jahres gemacht. Plötzlich trug man Europapullis, forderte in Sozialen Medien kollektiv zum Wählen auf und sprach über die Notwendigkeit des Zusammenhalts, die fortschrittliche Kultur, die Wichtigkeit der Union. Ein großer Teil des Kontinents blieb in diesem europäischen Narrativ jedoch außen vor: Der Osten und Südosten scheinen nicht in unser Bild europäisch-westlicher Einheitskultur zu passen und bleiben dadurch häufig unerwähnt.
Auf ihren ersten großen Reisen nach dem Schulabschluss zog es unsere Autorin Livia Lergenmüller stets in die Ferne. So weit hinaus wie möglich, um maximalen Kulturaustausch zu erreichen, lautete das Mantra. Denn Europa glaubte sie bereits bestens zu kennen. Dementsprechend fasziniert blieb sie zurück, als sie im Sommer 2019 für einen Monat durch den Balkan trampte – und mitten in Europa eine ihr ganz neue Kultur mit vollkommen eigenständiger Historie entdeckte. Auf zahlreichen Autofahrten durch die serbischen Wälder und bosnischen Berge durfte unsere Autorin eine Menge lernen. Dass der Islam zweifellos zu Europa gehört zum Beispiel. Und dass unser eurozentrischer Blick vor Allem ein west-eurozentrischer ist, der auch Teile des eigenen Kontinents nicht mit sieht.
Gespräche vom Beifahrersitz: Teil 3 von 4 – Albanien
Unsere Autorin entdeckt den Massentourismus des Balkans und lernt Menschen lediglich flüchtig kennen, denn niemand scheint länger als einen Tag frei zu bekommen. Sie trifft Menschen, die ihr Land nicht kennen und dies in drei Tagen nachholen wollen und Jugendliche, deren Freunde fast alle in Deutschland sind.
Knapp zweieinhalb Wochen lassen wir uns nun bereits, den Rucksack von Kofferraum zu Kofferraum hievend, über die Balkan-Halbinsel treiben. Nach einer Nacht in der Hauptstadt Tirana, zieht es uns hitzebedingt in Richtung Meer. Die ersten Tage verbringen wir damit, entlang der Küste von Strand zu Strand zu trampen und wann immer sich die Möglichkeit auftut, ins türkisfarbene Wasser der Adria zu springen. Wir finden großartige Strände, kristallklare Buchten, manche einsam abgelegen, andere eindeutig vom Massentourismus entdeckt und auf dem besten Wege, von diesem ausgenommen zu werden. Zahlreiche Luxushotels haben sich bereits niedergelassen, teils ganze Strandabschnitte für sich gepachtet. Vielen Albaner*innen scheint das zu imponieren. „Wie gefällt dir mein Land?“ fragt mich ein junger Mann mit Porsche, der uns mitnimmt. Wir bringen unsere Begeisterung für die Natur zum Ausdruck, er nickt stolz. „Albanien ist ein großartiges Land“, erklärt er. Dann wird sein Blick ernster. „Gut zum Besuchen. Aber nicht gut zum Leben“, korrigiert er. „Hier gibt es keine Jobs. Und wenn du Arbeit hast, dann verdienst du nichts – und arbeitest pausenlos. Deshalb gehen alle von hier weg.“
Gjipe-Strand
Empfehlungen Einheimischer folgend, lassen wir uns zum Gjipe-Strand bringen, eine abgelegene Bucht der albanischen Riviera. Die Fahrt führt uns über eine einsame Serpentinstraße, Kurve für Kurve schieben wir uns durch die albanischen Alpen, durchqueren vereinzelte Bergdörfer. An einem Seitenpfad lässt man uns raus. Von hier aus machen wir uns zu Fuß auf den steinigen Weg abwärts. Knappe anderthalb Stunden Wanderung später stehen wir zwischen einem majestätischen, rotbraun gefärbten Canyon und dem tiefblauen Wasser des Ionischen Meeres und fühlen uns winzig.
Während wir unser Zelt in einer der Höhlen des Canyons aufbauen, ruft uns aus ein paar Meter Entfernung eine Gruppe Jugendlicher zu sich. Sie haben ein Lagerfeuer entfacht, wir sollen uns zu ihnen gesellen. Wenige Minuten später sitzen wir Schulter an Schulter um die kleine Feuerstelle. Zwischen den Fingern das, wie mehrfach versichert, beste Gras, das man hier finden könne. Sie seien nur für eine Nacht hier, erzählen sie. Sie hätten lange gebraucht um einen Tag zu finden, an dem sie alle gemeinsam frei haben. Morgen um sechs in der Früh wollen sie wieder aufbrechen – die Arbeit ruft. Einer von ihnen freut sich besonders, als er hört, aus welcher Stadt wir kommen. In zwei Wochen wird er selbst nach Berlin ziehen. Eine Arbeitsstelle habe er schon, auf einem Bau in Neukölln. „Viele unserer Freunde sind schon nach Deutschland gegangen“, erzählt ein anderer. „Hier kann man nicht einmal annähernd so viel verdienen wie dort. Es gibt so viele Albaner auf der Welt“, meint er. „Doch nur so wenige in Albanien selbst.“ Als wir am nächsten Morgen erwachen, ist das Feuer erloschen, die Zelte sind abgebaut und die Jugendlichen verschwunden.
Einige Tage später zieht es auch uns zurück auf die Straße. Es soll Richtung Norden weitergehen. Schon bald nehmen uns eine Mutter und ihre Tochter mit. Sie kommen aus dem Kosovo, die Tochter kehrt gerade von einem Auslandssemester in Deutschland zurück. Ihre Rückkehr zelebrierend, wollen sie sich noch etwas Urlaub an der albanischen Küste gönnen. „Wir lieben Albanien,“ erklärt die Tochter. „Wir sehen uns im Übrigen selbst als Albaner.“ Tatsächlich stellen die sogenannten Kosovo-Albaner*innen 93 Prozent der Bevölkerung des Kosovo. Auch die Mutter und ihre Tochter gehören dazu und sprechen muttersprachlich albanisch, nicht serbokroatisch. Ob ihr die Frage der Zugehörigkeit, als junge Frau wirklich wichtig sei, will ich wissen. „Mein Vater hat damals im Krieg für die Unabhängigkeit gekämpft“, antwortet sie. „Ich bin mit dieser Thematik aufgewachsen. Niemand von uns will Teil Serbiens sein. Wir sind Albaner.“ Ihre Mutter nickt zustimmend. Kurz vor der Metropole Vlora lassen uns die beiden an einer Tankstelle raus, verabschieden sich und fahren davon.
Die Frage nach Identität zieht sich durch unsere Reise. Doch Identität gibt es nur im Plural. Identitätsbildungen erzählen die unterschiedlichsten Geschichten. Sie zeigen, wie Werte und Haltungen sich bilden in unseren Auseinandersetzungen, Erfahrungen mit anderen, mit unserem Herkommen, der Aneignung der Wirklichkeiten und unseren Entwürfen für ein gelungenes Leben.
Identität?
Das nächste Auto, das für uns hält, wird von zwei jungen Männern gefahren, die sich als Tarek und Nasir vorstellen. Beide sind gebürtige Tiraner. Wir könnten einsteigen, sagen sie, sie würden jedoch oft Pause machen. Knapp einen Kilometer weiter halten sie ihr Versprechen und biegen nach links auf einen ungepflasterten, steilen Weg ab, der uns hinunter ans Meer führt. In zügigem, erprobtem Tempo steigen beide aus, Tarek stellt sich vor die Meereskulisse, posiert, Nasir schießt einige Fotos, dann tauschen beide. „Tarek hat das Meer noch nie gesehen“, erklärt uns Nasir grinsend. Wie das sein kann, fragen wir ungläubig. „Wir beide haben, seit wir aus der Schule raus sind, jeden einzelnen Tag gearbeitet. In unserer Woche gibt es nicht einen freien Tag. Deshalb hat Tarek Tirana noch nie verlassen.“ Drei Tage haben sie sich Zeit genommen – es ist ihr Jahresurlaub. Drei Tage haben sie, um ihr Land kennenzulernen. Drei Tage, um möglichst viele Strände zu sehen. Von jedem schönen Ort wollen sie ein Foto machen, dann muss es weitergehen. Der Zeitplan ist stramm, wenn man in 72 Stunden ein ganzes Land entdecken will.
Zwei Stunden Fahrt und einige Strandfotos später halten wir an einem kleinen Küstenrestaurant. Die beiden bestellen sich Braten und Pommes. Während wir Cola schlürfend auf das Essen warten, fragt uns Tarek, was wir eigentlich machen würden in Deutschland. Als ich ihm von meinem Studium und dem Gastrojob nebenher erzähle, wendet er sich seinem Freund zu und sagt: „Unfassbar. Sie ist Kellnerin und kann damit einfach so einen Monat lang hier herumreisen.“
Albanien beeindruckt uns mit seiner traumhaften Natur und erschreckt uns mit seiner unfassbaren Armut. Inmitten von Europa liegt hier ein Land, dessen Durchschnittsgehalt mit 305,83 Euro netto im Monat hinter dem des Irans, Venezuelas und Kolumbiens liegt. Ein Land, in dem die meisten Menschen kaum Freizeit und keine Perspektiven haben. Die einzige Option scheint für viele die Flucht. Im Jahr 2018 stellten fast 20.000 Albaner*innen Asylanträge in anderen Ländern. 98 Prozent davon wurden abgelehnt.
Die Idee des westlichen, fortschrittlichen, reichen Europas entpuppt sich einmal mehr als ein ziemlich ignorantes Narrativ, dessen Einheitskult nicht erst an den europäischen Grenzen endet, sondern vielmehr bereits an den Grenzen der EU. Einer Union, in der man es sich herausnimmt, über die Dringlichkeit der Fluchtmotive anderer zu entscheiden. Zwischen dem Land Albanien und seiner Bevölkerung scheint eine Hass-Liebe zu existieren: Die Menschen sind voller Stolz für die Natur ihres Landes, ihre wirtschaftliche Lage lässt sie diese jedoch kaum auskosten. Hilfsbereit und gewillt, uns mitzunehmen, bleiben sie jedoch. Und so erreichen wir einige Tage später die montenegrinische Grenze.