Die Einstellung als GefängnisFilmkritik: „1917“ von Sam Mendes
13.1.2020 • Film – Text: Christian BlumbergWenn technischer Schauwert die Erzählung schlägt: Von Sam Mendes mit zwei Golden Globes ausgezeichnetem Kriegsdrama erfährt man nur wenig über den Ersten Weltkrieg, dafür aber viel über die Risiken eines One-Shot-Movies.
It’s a trap! 1917, Weltkrieg, irgendwo an der französischen Westfront wollen die Deutschen ein britisches Bataillon in einen Hinterhalt locken. Doch zwei Engländer könnten dies verhindern. Die Soldaten Blake (Dean-Charles Chapman) und Schofield (George MacKay) werden auf ein Himmelfahrtskommando durch feindliches Territorium beordert, um die Warnung vor der todbringenden Falle zu übermitteln. 1917 begleitet ihren Weg, der naturgemäß entbehrungsreich, mitunter grausam sein wird. Regisseur Sam Mendes tut alles, dieses lineare, vergleichsweise einfache Setting in Form einer kinematografischen Großtat zu präsentieren: 1917 ist ein One-Shot-Movie, kommt also ohne (sichtbare) Schnitte aus. Eine zweistündige Einstellung. Dieses technische Setting scheint zunächst durchaus angemessen, spiegelt es doch die Situation der beiden Soldaten: Die haben zur Erfüllung ihrer Mission schließlich auch nur „einen Shot“.
So fährt die Kamera mit den Protagonisten durch vom Krieg gezeichnete Landstriche oder hängt sich beim Durchqueren von Schützengräben an ihre Fersen. 1917 sieht in solchen Passagen wie ein Videospiel aus. Doch frei flottieren kann diese Kamera auch, sie überfliegt dann Bombenkrater oder durchkreuzt verlassene Schlachtfelder, vermisst zerstörte Dörfer und brach liegendes Ackerland – allesamt Schauplätze einer eigentlich episodischen Erzählstruktur, die durch die nicht enden wollende Einstellung jedoch etwas sehr Fließendes bekommt.
Nun sind One-Shot-Movies und die ihnen verwandte Plansequenz wahrlich keine neue Erfindung. Im Hollywood-Kino griff Alfred Hitchcock schon in den 1940er-Jahren in die Trickkiste, um den Eindruck einer abendfüllenden Einstellung zu erwecken. Und an der Plansequenz haftet schon seit Orson Welles der Ruf einer filmsprachlichen Königsdisziplin. Darüberhinaus wurde sie als Mittlerin eines ungestörten Verhältnisses von Raum und Zeit oft als ein Stilmittel verstanden, das der natürlichen Wahrnehmung des Publikums in die Karten spielt. Ganz im Gegensatz zum Schnitt, der immer auch die Verfasstheit eines Films verrät, schlugen einige Filmemacher*innen und Autor*innen die Plansequenz einem filmischen Realismus zu, der vor allem Wahrnehmungsfragen berührte, sich aber auch – zumal in den Nachkriegsjahren – gegen die Gefahr ideologischer Einflussnahme durch die Mittel der Montagekunst in Stellung bringen ließ. „Schneiden verboten!“ betitelte der Filmkritiker André Bazin schon 1953 einen bis heute viel rezipierten Aufsatz.
Dass One-Take-Movies in den letzten Jahren wieder Konjunktur haben, liegt wohl am Eintritt ins digitale (Film-)Zeitalter, in dem unsichtbare Schnitte und nachträgliche Bearbeitung vergleichsweise leicht zu bewerkstelligen sind. In Musikvideos begegnet man dem Konzept regelmäßig, aber auch auf der Leinwand häuft sich Ungeschnittenes seit den 00er-Jahren. Filme wie Birdman oder Victoria wurden regelmäßig als besonders immersive Erlebnisse beschrieben und mutmaßlich wird es auch über 1917 heißen, dass der Verzicht auf den Schnitt einen visuellen Sog erzeuge, der das Publikum besonders tief ins Filmgeschehen verwickele.
1917 prahlt in erster Linie mit dem logistischen Aufwand seines Drehs, doch die durchchoreographierte Mammut-Sequenz bekommt bald den schalen Beigeschmack eines Kabinettstückchens.
Dabei ist das Gegenteil mindestens genauso wahr: Denn das Ausbleiben von Schnitten (oder deren Unsichtbarmachung) lenkt die Aufmerksamkeit erst recht auf technische Details. 1917 prahlt in erster Linie mit dem logistischen Aufwand seines Drehs, doch die durchchoreographierte Mammut-Sequenz bekommt bald den schalen Beigeschmack eines Kabinettstückchens. Die drängendste Frage, die 1917 aufwirft, ist eben keine an sein Sujet, sondern an die Produktion: „Wie haben die das nur gemacht?“ Wenn im Kinosaal jedoch ein Nachdenken über die Möglichkeiten von Seilkameras und Krankonstruktionen beginnt, schlägt das von Regisseur und Stab dezidiert gewünschte Immersionserlebnis fehl: Statt in die Erzählung wird das Publikum in Fragen der Filmproduktion involviert und somit zugleich aus der filmischen Geschehen geworfen. Die Einstellung wird zum Gefängnis, und kein befreiender Schnitt in Sicht: It’s a trap!
Die Landschaften mögen vom Krieg versehrt sein, der soldatische Ethos bleibt stets intakt.
Und so lässt sich 1917 vornehmlich als bildgewaltiger, technisch ambitionierter Blockbuster bewundern. Das ist vielleicht ganz gut so, denn jenseits der fraglos spektakulären Kameraarbeit findet sich nur wenig Beeindruckendes. Das Drehbuch hält für seine Hauptfiguren zwar viel vom berühmten Kriegsgreuel parat, stattet sie aber gleichzeitig mit einem alle Zweifel übertönenden Pflichtbewusstsein aus. Wo zwei Menschen ihr Leben aufs Spiel setzen, um das von über tausend Mitsoldaten zu retten (darunter auch noch Blakes Bruder), bleibt nur wenig Raum für innere Konflikte oder moralische Zwickmühlen. Die Landschaften in 1917 mögen vom Krieg versehrt sein, der soldatische Ethos bleibt stets intakt: Blake und Schofield bleiben Gefangene einer Welt, in der Handschläge unter Männern noch etwas gelten. In der Soldaten zwar fallen, dies aber irgendwie auch okay ist, solange man den Angehörigen nur mitteilt, dass der Verstorbene im Moment des Todes noch die unerschütterliche Liebe zur Familie versichert hätte. Es baumelt schon eine gute Portion heroischer Pathos durch diesen Film, und der dient immer da als Schmiermittel für das Weiterkommen des selbstmörderischen Botengangs, wo Überlebenswille allein nicht mehr plausibel erscheint: Was treibt einen durch ein Gewässer zu waten, dessen Oberfläche von aufgedunsenen Leichen bedeckt ist?
Dass selbst solche Szenen die Mägen des Publikums nicht allzu sehr belasten, hat damit zu tun, dass Sam Mendes sich erneut als Stilist erweist, in dessen Händen selbst Bilder von Kadavern noch zu Gemälden werden. Zumindest in diesen Bildkompositionen ähnelt 1917 denn auch seinem ersten Kriegsfilm Jarhead von 2005. Damals bediente sich Mendes allerdings bei Szenen kanonischer Kriegsfilme wie Full Metal Jacket oder Apocalypse Now, ließ die Zitate unter den aktualisierten Bedingungen des 2. Golfkriegs jedoch komplett ins Leere laufen. Jarhead war deshalb auch ein böser Kommentar auf den US-amerikanischen (Anti-)Kriegsfilm, der sich als Genre in stereotyp gewordenen Vietnam-Darstellungen verfangen hatte. Solche Ebenen fehlen in 1917 fast völlig. Hinter dem technisch perfektem One-Shot-Show-Off verbirgt sich ein recht konventionelles Kriegsabenteuer, das in seiner Schlichtheit weit hinter jene Filme zurückfällt, die Mendes in Jarhead noch herausgefordert hatte.
1917 (USA / UK, 2019)
Regie: Sam Mendes
Mit: George MacKay, Dean-Charles Chapman, Colin Firth
Ab dem 16. Januar im Kino