„Ich verließ das Kling Klang Studio, ohne mich nochmal umzuschauen“Über die Autobiografie von Karl Bartos, Ex-Schlagzeuger von Kraftwerk
11.12.2017 • Kultur – Text: Matti HummelsiepDie einflussreichste Pop-Band Deutschlands – Kraftwerk – hat mindestens zwei Leichen im Keller: die ehemaligen Mitglieder Wolfgang Flür und Karl Bartos. Letzterer hat nun seine Autobiografie veröffentlicht. Eine nicht ganz sehnsuchtsfreie Abrechnung mit den beiden Chefs der Band, Ralf Hütter und Florian Schneider. Matthias Hummelsiep hat das Buch gelesen und mit dem Autor gesprochen.
Keine Sorge, ich erspare mir die redundante Lobhudelei auf Kraftwerk, die Urväter der … na, ihr wisst schon. Das Oeuvre der maschinösen Elektropopper um Bandboss Ralf Hütter ist auf ewig ins pophistorische Gedächtnis eingemeißelt. Dabei hat die konservierte Mensch-Maschine mit ihrem 70er-Jahre-Charme immer noch nicht genug, denn seit 2015 ist Kraftwerk auf Dauertour. Faszinierend dabei ist, dass es in fast 50 Jahren Bandgeschichte nie ein Interview des Quartetts gegeben hat, keine roten Teppich-Bilder, keine Talkshows, nicht mal ein ordinäres Selfie. Das Blatt wendete sich, als Ex-Kraftwerker Wolfgang Flür 1999 seine launige Autobiografie „Ich war ein Roboter“ veröffentlichte, die eher einer Abrechnung mit seinen Ex-Kollegen glich. Die einstweilige Verfügung von Kraftwerk ließ nicht lange auf sich warten und es mussten einige zu intime Details auf ein anständiges Maß modifiziert werden. Jetzt folgt ihm Ex-Drummer Karl Bartos. Sein Rückblick ist definitiv lesenswerter als der von Flür. „Der Klang der Maschine“ liefert auf geschmeidigen 600 Seiten ein sehr ausführliches, erklärendes und reflektiertes Bild vom Innenleben der Band ab.
Karl Bartos sitzt vor mir
Ich war sieben Jahre alt, da war die Zeit für Karl Bartos bei Kraftwerk schon wieder vorbei. Jetzt sitzt er auf der Bühne des Columbia Theaters in Berlin und stellt seine Autobiografie vor. So sieht also eine Mensch-Maschine mit 65 Jahren aus – ganz künstlermäßig in Schwarz gekleidet. Mal blinzelt er verschmitzt in die Runde beim Lesen, dann wieder stützt er seinen Kopf mit dem Arm auf den Tisch ab und blickt aufmerksam zu Moderatorin Anja Caspary. Gerade mal 44 Fans sitzen im Publikum. Nicht gerade ein stürmischer Andrang für einen der größten Influencer der elektronischen Popgeschichte. Auf die Eröffnungsfrage von Caspary, wie er Kraftwerk kennengelernt hatte, zitiert Bartos prompt an einer falschen Stelle im Buch. Ups, nochmal von vorne. Trotz seiner klaren Ausdrucksweise wirkt er etwas steif, räuspert sich beim Lesen, bis ihm endlich Wasser nachgeschenkt wird. Ein kurzes Lachen, als er mit kleinem Seitenhieb in Richtung Machthaber Hütter anmerkt, dass sich bis jetzt noch keiner der im Buch vorkommenden Personen beschwert habe.
Ein Quartett, zwei Duos
Der Kraftwerk'sche Alltag wird im Buch bisweilen minutiös nachgezeichnet. So schreibt Bartos, dass er am 4.10.1974 um 17.30 Uhr das erste Mal das Kling Klang Studio betrat. Die beiden Heads Ralf Hütter und Florian Schneider seien sehr förmlich und distanziert gewesen, schon während der ersten Jam Sessions verzogen sie kaum eine Miene. Bartos fühlte sich dennoch pudelwohl. Alles, was ihm als Schlagzeuger (Examen mit Prädikat Summa cum laude) in Orchestern und Bands bislang aufgedrückt worden war, war hier verboten: Rock- und Jazzakkorde, Blue Notes und überhaupt der ganze angloamerikanische Kram. Schließlich ging es von Anfang an um die künstlerische Arbeit mit der deutschen Identität. Und um das Ästhetisieren von Maschinen. Am Ende war aber auch Kraftwerk immer Popmusik, wenngleich unkonventionell, nicht als basisdemokratische Boygroup mit eigenem Manager.
Prekäre Arbeit für eine Kult-Band
Bartos beleuchtet im Laufe des Buches aber auch jene Themen, die bislang noch weitestgehend im Dunkeln lagen: Dazu gehören die Ungleichheit und das Machtgefälle innerhalb der Gruppe. Auf der einen Seite die golfspielenden Hütter und Schneider aus gutem Hause, stets die Taschen voller Geld für neuestes Gear. Auf der anderen Seite die beiden Auftragsmusiker Bartos und Flür, die nicht abhängig von Einnahmen entlohnt wurden, sondern entsprechend zuvor festgelegter Gagen. Für Bartos bedeutete das mitunter weniger zu verdienen, als bei seinen anderen Jobs als Klavierlehrer und Drummer auf der Bühne. Bartos macht seinem Ärger, seinen Zweifeln zwar Luft, ohne jedoch den Respekt oder das Projekt selbst aus den Augen zu verlieren. Ein echtes Mitspracherecht blieb ihm jedoch verwehrt, auch als äußerer Erfolg und Anerkennung längst Alltag waren. Er beschreibt sich als selbstständigen Unternehmer mit Kraftwerk als einzigem Kunden. Am Ende des Buches erklärt er offen, wie naiv es von ihm war, sich darum nicht gekümmert zu haben. Es gab nie etwas Schriftliches, nur mündliche Vereinbarungen, die sich auf das nächste Projekt bezogen. Er wurde als Musiker bezahlt – dabei war sein kreativer Input immens. Bartos sprach die ungerechte Verteilung schließlich an. Nach „Radio-Aktivität“ und „Trans Europa Express“ wurde er beim Album „Die Mensch-Maschine“ endlich auch an den Tantiemen beteiligt und als Co-Autor genannt.
Interessante Anekdoten
Der Inhalt wäre ohne die zahlreichen Anekdoten nur halb so spannend: Als es beispielsweise um die Anfertigung seines Namens in Neonschrift für die Bühnenshow ging, wurde sein Name kurzerhand eingekürzt, weil Karlheinz, wie es richtig heißen müsste, das Budget gesprengt hätte. Ein Einschnitt, der bis heute nachwirkt, denn „-heinz“ blieb für immer verloren. An anderer Stelle erzählt er von der ersten US-Tour: Ralf Hütter trug einen Mantel mit Pelzkragen, schwarze Lederhose, dazu weiße Schuhe, in der Hand einen schwarzen Diplomatenkoffer mit goldenem Zahlenschloss. Florian trug einen beigefarbenen Kamelhaarmantel mit Pelzkragen, dazu einen weißen Schal, sein Koffer war goldfarben. Bartos fiel dagegen in die Kategorie Stundent: Jeans, Pulli, Parka und höchstens noch ein Brustbeutel, womit er vor allem dann grotesk in Erscheinung trat, wenn die produktionsmittelbesitzende Hälfte der Band zu Champagner, Austern und Filet Mignon samt Anfahrt in der Stretchlimo lud.
Komponieren
Der Drummer erklärt auch immer wieder die technischen Hintergründe im Kling Klang Studio, die Rolle von Hütters Minimoog, die selbstgebauten Multipads, der Synthanorma Sequenzer oder das Synclavier, das sich als extrem teurer Flop entpuppte. Man kann sich gut vorstellen, wie es bei den Writing Sessions zuging. Erst nachmittags traf man sich in der Mintropstraße, schaute im Sozialraum, wie Bartos ihn nennt, Fernsehen oder ging gleich an die Geräte. Dann spielten sie sich gegenseitig musikalische Schnipsel zu und kombinierten sie, wie bei der Single „Trans Europa Express“: „Ich glaube, Ralf schlug mir das Drum Pattern für Bass Drum und Snare Drum vor. Es hämmerte wirklich wie der Kolbenhub einer Lokomotive. Ralf setzte dann noch den Minimoog-Bass genau auf die ersten beiden Schläge der Bass-Drum – fertig war der Maschinen-Beat. (…) Was Ralf zu unserer Rhythmus-Formel auf dem Violinen-Preset des Vako Orchestrons spielte, (…) überzeugte uns alle sofort.“
Bartos über Florian Schneider: „Er hatte so eine Art ‚Action Painting in Sound‘ drauf, womit er mich gelegentlich ziemlich verblüffte. Immer wenn es in einer Tonart geradeaus ging, war es Florian, der einen absolut unerwarteten Sound, verbunden mit einem akzeptablen Timing brachte.“ An anderer Stelle heißt es weiter: „Florian besaß von uns die mit Abstand besten Kenntnisse in Sachen Studiotechnik. Was ihm aber fehlte, war eine fundierte Ausbildung. Ganz zu schweigen von einer professionellen Ausbildung als Toningenieur. Gleichwohl förderte seine unorthodoxe Herangehensweise mitunter erstaunliche Ergebnisse zutage. Das Kling Klang Studio war mit den besten Equalizern, Kompressoren, Phasern, Flangern, Digital Delays, Spectrum Analysern und anderen Zauberkästen ausgestattet, an denen er unentwegt rumfingerte und Sachen ausprobierte.“
Bartos ergänzt, dass Schneider vermutlich der erste Musiker überhaupt war, der die Sprachsynthese auf diese Art und Weise einsetzte. Wenn es dann ans Aufnehmen ging, wurde es kompliziert. Schnell kam ein Tonschnipsel auf den analogen Tonbändern auch mal abhanden. Die Bänder des Mehrspurrekorders mussten noch physikalisch durchtrennt werden. Ralf habe „die Stelle mit einem weißen Stift markiert und sie mit einer Rasierklinge zerschnitten, um ein anderes Stück, das (...) seitdem um seinen Hals hing, mithilfe eines Klebestreifens zu insertieren.“, beschreibt Bartos die Arbeitsweise.
„Computerwelt“ in Berlin
Besonders hängen geblieben ist ihm das einzige Konzert im damaligen West-Berlin, auf der „Computerwelt“-Tour 1981, im Metropol am Nollendorfplatz: „Einige Minuten vor Beginn der Show läuft wie immer zur Einstimmung eine bizarre Tonsequenz vom Band. Dann fadet Florian sie langsam aus und schaltet unseren elektronischen Ansager ein: 'Meine Damen und Herren (…) die Mensch-Maschine, Kraftwerk´, spricht mit knarziger Stimme der Sprachsynthetisator Votrax.“ Der Numbers-Beat setzte ein, der Vorhang öffnete sich, alle in schwarz gekleidet betraten die Bühne und stellten sich an ihre Pulte mitten in die Kulisse aus Sequenzern, Mischpulten, Fernsehern, Telefonen, Messgeräten, Beleuchtungen, elektronischen Schlagzeugen, die Neonschriften flackerten auf. Es war die laborartige, ca. 14 Meter lange, leuchtende, v-förmig angeordnete Schaltzentrale. Bartos weiter: „Mit seinem kombinierten Kopfhörer-Mikrofon sieht Florian aus wie ein Hubschrauberpilot. Normalerweise bewegt er sich auf der Bühne nicht viel und ist konzentriert. Heute allerdings haben es die Berliner geschafft, ihn aufzutauen. (...) Auch Ralf bewegt sich heute lockerer, geht sogar hin und wieder in die Knie und singt mit rheinischem Einschlag in sein Headset: ‚Interpol und Deutsche Bank ...‘“ 24 Mark hat die Show damals gekostet, und Bartos ergänzt, dass „diese Performance im Metropol eine der besten war, die wir mit diesem Line-up unter dem Namen Kraftwerk abgeliefert haben.“ Mit sieben Tonnen Equipment ging es auch nach Polen und es wurde sich erkundigt, ob die Textzeile „Ich bin dein Sklave. Ich bin dein Arbeiter.“ denn okay sei. Ja, die Menschen würden das schon richtig verstehen.
„Techno Pop“ floppt – Bartos geht
„Computerwelt“ sollte das letzte erfolgreiche Album von Kraftwerk werden. Die Produktion des Folgealbums „Techno Pop“ wurde zur reinen Farce. Bartos erklärt warum: So wurde die Single „Tour de France“ voreilig vom halbfertigen Album ausgekoppelt. Auch ein paar intensive Monate in einem New Yorker Studio halfen nicht weiter. Das Album „Techno Pop“, das letztendlich in „Electric Café“ umbenannt wurde, brauchte Jahre bis zur Fertigstellung. Gleichzeitig befand sich die Musikproduktion Anfang der 1980er-Jahre in einem riesigen Aufwind, der MIDI-Standard bot unglaubliche Möglichkeiten. Songs wie Madonnas „Holiday“, New Orders „Blue Monday“, oder Peter Gabriels „Sledgehammer“ überschwemmten den Markt. Kraftwerks Alleinstellungsmerkmal war dahin, Bartos führt aus, wie man sich immer mehr mit anderen Bands verglich. Ein Novum, aber die kreative Energie der Anfangszeit war futsch. Das Album floppte und es begann ein jahrelanger digitaler Umbruch im Kling Klang Studio.
Die Stimmung war auf einem Tiefpunkt und Bartos fühlte sich nicht mehr gebraucht: Er würde nicht mehr exklusiv für Kraftwerk arbeiten, wenn er nicht ein sicheres Einkommen und mehr Mitspracherecht bekomme, erklärte er den Kollegen. Er forderte mehr Kommunikation, einen Zeitplan, mehr Transparenz. Die geschäftlichen Gespräche mit Hütter und Schneider beschreibt er als „extrem unangenehm“. Doch es half nichts: Schneider hätte ihm deutlich gemacht, dass ihm „diese Art der Kritik nicht zustehen würde“. Ralf sei wie immer „kontrolliert und sachlich“ geblieben. 1990 dann der Ausstieg: „Ich erklärte ihnen, dass ich aussteige, legte die Studioschlüssel aufs Mischpult, verabschiedete mich knapp und verließ ohne mich nochmal umzuschauen das Kling Klang Studio." Jahrelange juristische Auseinandersetzungen über das musikalische Erbe sollten folgen.
Nach der Lesung
Am Promotisch kaufen sich ein paar Fans die Autobiografie. Karl Bartos steht lässig daneben am Stehstisch und gibt Autogramme. Er weiß, dass Kraftwerk ihn auf ewig verfolgen wird. Einige wollen gern ein Foto mit ihm machen, er lehnt ab. Ein junger Typ fuchtelt mit seinem Handy rum, er versucht wenigstens ein Selfie von sich und Bartos im Hintergrund zu machen. Ich spreche ihn an: „Haben Sie noch Kontakt zu Ralf und Florian?“ – „Zu Florian manchmal, Ralf habe ich mal vor ein paar Jahren gesehen.“ - „Waren sie mal bei einem Konzert von Kraftwerk“? „Ja.“ – „Wie fanden Sie es?“ - „Ich fand es besser, wie wir das gemacht haben. Was die sonst noch so machen, ich weiß es nicht.“ – „Das Buch ist ganz schön langatmig geworden, immerhin 600 Seiten.“ – „Ach, einfach weiter blättern.“ Es ist eine freundliche, geradezu höfliche Mensch-Maschine. Am Ende wird mir klar: Die Zeit bei Kraftwerk ist so verdammt lange her. Er spricht gerne darüber, aber ganz abgeschlossen damit hat er irgendwie auch noch nicht. Morgen wird er Wolfgang sehen, zu dem hat er einen guten Draht. Und Kraftwerk? Die Ur-Mensch-Maschine Ralf Hütter sagt immer noch nichts beziehungsweise hält sich in Interviews recht bedeckt. Aber für 2018 ist seine Band mit „Kraftwerk 3-D Der Katalog“ für den Grammy Award in der Kategorie „Bestes Dance/Electronic-Album“ nominiert. Auch den Grammy für das Lebenswerk Kraftwerks hat er sich in Los Angeles schon abgeholt. Was soll man dazu noch sagen.