„Unsere Künstler-Existenzen sind bedroht!“Wieso die Berliner Volksbühne eigentlich besetzt wird
26.9.2017 • Kultur – Interview & Fotos: Benedikt BentlerSeit Freitag ist die Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz besetzt. Wir waren vor Ort, haben uns umgesehen und bei den Initiatoren nachgefragt, was die Ziele und Hintergründe der Aktion sind.
Dafür, dass die mehrtägige Party zum Kick-off der Besetzung noch keine zwölf Stunden zurückliegt, sieht es am frühen Montagabend ziemlich ordentlich aus im Inneren der Volksbühne. Seit Samstag ist die Berliner Volksbühne in den Händen eines Künstlerkollektivs. Gemunkelt wurde über dieses Vorhaben schon länger, auch der neue Intendant Chris Dercon hat sicherlich vorab Bescheid gewusst. Seit Bekanntgabe seines Engagements, wird über die Personalie Dercon gestritten. Man befürchtet die Kommerzialisierung und Eventisierung des traditionsreichen Theaters durch den Mann, der von der Tate Modern in London nach Berlin gekommen ist. Die Besetzung des Hauses erscheint zunächst als maximale und radikale Zuspitzung dieser Streitigkeiten. Aber das Kollektiv namens „Staub zu Glitzer“, das hinter der als „transmediale Theaterinszenierung“ bezeichneten Besetzung steckt, wünscht sich keineswegs die Ära von Frank Castorf zurück, der nach 25 Jahren Intendanz den Platz für Dercon freigemacht hat.
Man will den Chefposten ganz frei lassen und eine kollektive Intendanz etablieren. Außerdem die programmatische Tradition der Volksbühne bewahren, weiterentwickeln und obendrauf ein ordentliches Zeichen gegen Gentrifizierung setzen. Es geht also gar nicht bloß um und gegen Dercon persönlich. Obwohl, ein bisschen vielleicht schon. Es ist kompliziert. Das merkt man gleich, wenn man versucht sich durch die Zetteltapeten zu lesen, auf denen sich Bedarfslisten, Programmvorschläge und Plenumzeiten neben Texten reihen, die sich wie eine collagierte Tumblr-Version aus Marx und Weber lesen.
Die Stimmung ist offen, gelassen, vor allem aber überaus herzlich. Keine Spur von „Empörungs-Mob“ oder „Gesinnungsterroristen“, wie der Kulturchef des gehassten Springer-Ablegers B.Z. die Aktivisten nannte. Die bisweilen unangenehme Atmosphäre vom elitären Bildungsbürgertum üblicher Theaterpremieren zu überwinden, hat schon mal geklappt.
Dass die Umsetzung der Idee von kollektiver Führung mitnichten eine leichte ist, kann man allerdings spüren, wenn man nur wenige Minuten dem großen Plenum lauscht. In dem geht es um die Klärung grundsätzlicher Fragen zu Sicherheit, Versorgung und den Umgang mit dem Haus und seinen Angestellten. Ein bisschen unfreiwillige Ironie steckt schon darin, wenn die Sprecherin des Plenums im Streben nach Verwirklichung von kollektivistischer Leitung sagt: „Ich gebe der Runde hier jetzt noch drei Minuten für das Thema Hierarchie. Dann machen wir mit was anderem weiter.“ Verständlich ist das trotzdem, der Zeitplan ist eng. Es ist nach 20 Uhr und es stehen noch Arbeitsgruppentreffen und Konzeptmeetings auf dem Plan.
Die Gruppe ist noch keine drei Tage vor Ort, aber die Anstrengung ist bereits spürbar. Auch für Sarah Wartefeld, Autorin und Mitinitiatorin, die bereits ein Dutzend Interviews am Montag hinter sich hat und uns nochmal erklären soll, was es mit der Aktion tatsächlich auf sich hat.
Was und wer verbirgt sich hinter dem Kollektiv namens „Staub zu Gitzer“?
Wir sind ein Künstler*innen-Kollektiv – feministisch, antirassistisch und queer. Wir treten für eine klassenlose Gesellschaft ein.
Warum besetzt man dafür die Volksbühne?
Wir als Künstler fühlen uns in unseren Existenzen bedroht. Wir können von unserer Arbeit nicht leben, obwohl wir welche haben. Ich möchte keine Angst haben müssen, dass ich die Wohnung für mich und meine zwei Kinder nicht mehr bezahlen kann. Wir agieren also aus einer konkreten Lebensbedrohung heraus. Die Volksbühne hat eine linke Tradition, sie wurde von Arbeitern gebaut, vom Arbeitergroschen finanziert. Für uns ist der Name Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz Programm – und das soll eben auch so bleiben.
Sorry, mir leuchtet diese Kausalität vom künstlerischen Prekariat zur Besetzung immer noch nicht ein.
Die Volksbühne ist ein symbolischer Ort. Die Ausmaße der Gentrifizierung sind verheerend für uns, für die Menschen, die hier leben. Wir wollen ein Zeichen dagegen setzen und sind überzeugt, dass die Volksbühne der richtige Ort dafür ist. Und wir denken auch, dass Kunst das richtige Mittel ist. Wir sprechen ja auch nicht von Besetzung, sondern von einer transmedialen Theaterinszenierung.
Und die Intendanz von Chris Dercon gilt als Akt der Gentrifizierung, deshalb soll er weg?
Erstmal ist Chris Dercon ein Mensch, der sehr viele fähige Künstlerinnen und Künstler verpflichtet hat, die wir sehr schätzen, mit denen wir auch gern zusammenarbeiten wollen. Wir wollen hier niemanden vertreiben. Aber wir wollen, dass dieser Ort hier hierarchiefrei und im Kollektiv betrieben wird. Selbstverständlich kann Dercon hier als Mitglied des Kollektivs teilnehmen. Mit einer Stimme, gleichberechtigt, wie alle anderen auch.
Aber sein Vorgänger Castorf war auch Chef?
Wir wollen ja auch nicht den Intendanten Castorf zurück. Er ist auf seine Art ein genialer Künstler und es wäre toll, wenn seine Repertoire-Stücke hier weiter gezeigt werden könnten. Gleichzeitig verstehen wir aber auch die Verweigerungshaltung der ehemaligen Regisseure, die das unter diesen gegebenen Umständen nicht wollen.
Es gibt ein Foto von der 100-Jahr-Feier der Volksbühne, auf dem sich Tim Renner, Dercon und Castorf gegenübersitzen und zuprosten. Tim Renner hat dort in seiner Rede gesagt: „Auf die nächsten hundert Jahre mit Frank Castorf“. Dabei hatte er im Hinterzimmer längst den Millionen-Deal mit Dercon eingetütet. Legal ist das wohl, aber sicher nicht die feine Art. Die Volksbühne war eine Community, eine künstlerische Gemeinschaft. Dass so ein unehrliches Agieren Widerstand zur Folge hat, muss doch klar gewesen sein. Die Volksbühne war unsere Trutzburg, Widerstandspalast der letzten Jahrzehnte. Den lassen wir uns doch auf diese Weise nehmen. Chris Dercon ist nicht der Schuldige, es geht hier um eine politische Fehlentscheidung.
Auch wenn sich die Volksbühne vielleicht als Theater für jeden verstehen möchte, ist Theater auch in dieser Stadt eine ziemlich bourgeoise Angelegenheit.
Total. Natürlich waren diese intellektuellen Inhalte, wie sie bei Castorf oder Pollesch verarbeitet wurden, auf gewisse Weise bildungselitär. Aber alle Menschen haben eine Daseinsberechtigung. Nur weil jemand intellektuell ist, ist er ja nicht gleich böse, sondern liebt vielleicht bloß Philosophie und Literatur. Das kann man aus Arbeiterperspektive als elitär bezeichnen, muss man aber nicht zwingend. Es gibt Menschen, die arbeiten mit dem Kopf, andere mit der Hand, für mich ist das gleichwertige Arbeit.
Wie lang ist denn die Spielzeit des von euch aufgelegten Alternativprogramms?
Wir haben mit Kooperationen für drei Monate vorgesorgt. Aber hier strömen den ganzen Tag Menschen rein, die etwas machen wollen. Das potenzielle Programm ist schon jetzt endlos. Geplant ist eine Interimszeit von zwei Jahren, in der wir das Gesamtkonzept zu Ende diskutieren und entwickeln.
Nun gibt es Wünsche auf der einen Seite und realistische Erwartungen oder Befürchtungen auf der anderen. Klammern wir die große Zielsetzung mal aus: Mit welcher Reaktion rechnet ihr kurz- und mittelfristig?
Ich glaube, Wünsche werden sich erfüllen und Befürchtungen sich ebenfalls bewahrheiten. Wir werden schon jetzt stark angefeindet, teilweise als gewaltbereite Anarcho-Spinner diffamiert. Dabei sind wir alle sehr entspannt, wenn wir nicht gerade übermüdet und gereizt sind (lacht). In den Augen anderer Menschen vertreten wir natürlich radikale Ideen. Aber radikal bedeutet nicht feindlich. Es gibt Menschen, die für solche Aktionen überhaupt kein Verständnis haben. Es gibt Menschen, die nicht verstehen oder wissen, was außerparlamentarischer Widerstand ist. Oder dass man sich selbst organisieren möchte, anstatt jemandem hörig zu sein. Das ist ok, das ist eine Meinung, über die man diskutieren kann.
Auf der anderen Seite erreichen uns aber auch tolle E-Mails, Leute aus den USA, aus Kanada und ganz Europa rufen an. Wir hatten heute eine promovierende Theaterwissenschaftlerin der Stanford-University hier, die sich spontan als Übersetzerin gemeldet hat. Dann kam eine Rentnerin, ich schätze um die siebzig Jahre alt, die mal ein kleines Theater geleitet hat und mitmachen will. Es passieren wirklich schöne Dinge.
Mit unserem Programm wollen wir einerseits experimentieren, etwas völlig Neues machen. Zeiten ändern sich und die Anforderungen an Künstler und Künstlerinnen auch. Andererseits geht es aber darum, die Tradition zu wahren.
Sollte geräumt werden: Geht ihr oder bleibt ihr?
Der Senat hat gesagt, er wird uns nicht räumen. Da sehen wir uns nicht gefährdet. Der Senat kann aber nicht garantieren, dass Dercon nicht doch von seinem Hausrecht Gebrauch macht, Anzeige erstattet und uns räumen lässt. Ich habe auch gelesen, dass die Besetzung perfekt organisiert gewesen sein soll. Das würde ich ja selbst nie so sagen (lacht). Aber mal angenommen sie war perfekt organisiert, dann kann man auch davon ausgehen, dass wir noch Plan B), C), D) und E) in der Tasche haben, oder?
Und wenn jetzt Chris Dercon sagt: Alles klar, ich hab's verstanden – zumindest so halb. Wir setzen uns jetzt erstmal alle an einen Tisch.
Hoffentlich passiert das. Wir haben am Freitag bereits stundenlang verhandelt. Wir wollen ja reden, deshalb sind wir hier. Es gab einen offenen Brief der Mitarbeiterschaft. Über 170 Leute haben unterschrieben, dass sie ihn nicht als ihren Intendanten wollen. Wenn man in einen Betrieb geht und im Vorfeld schon von zwei Dritteln der Leute öffentlich abgelehnt wird, dann muss man sich doch was überlegen. Das Miteinander-Klarkommen hat doch dann Priorität. Man muss sich gemeinsam fragen, wie man das schaffen kann. Berlin ist ja eine Laberstadt. Sobald die ersten Sonnenstrahlen da sind, sitzen die Leute in Cafés und labern und labern. Und genau das muss Dercon lernen (lacht) – Dialog! Aber wir werden von der Forderung, dass er die Intendanz aufgeben muss, niemals zurückweichen.
Abschließend: Was ist mit den regulären Theaterproben?
Der Raum ist leer, allzu laut ist es hier auch nicht. Wir wollen, dass sie stattfinden.
Mehr zum Programm und der Aktion findet man hier.