Water Works – Geschichten aus Südafrikas (Wasser)kriseTeil 6 | Lockdown
29.4.2020 • Gesellschaft – Text & Fotos: Julia KauschWie ist die Corona-Situation in Südafrika? Julia Kausch hat mit dem Fotojournalisten Armand Hough gesprochen, der die Lage tagtäglich für Zeitungen und auf Instagram dokumentiert. Mit seinem Presseausweis gehörte er in den vergangenen Wochen zu den wenigen Menschen, die sich im Land frei bewegen konnten. Zwischen überfüllten Townships, improvisierten Lagern für Obdachlose, Suppenküchen und Polizeigewalt zeichnet er ein Bild der Überforderung. Die Folgen sind noch nicht abzusehen. Denn Südafrika ist ein Hotspot der besonderen Art.
Less than Zero: oder Tag -4, Montag, 23. März 2020
Die Zahl der Covid-19-Infizierten in Südafrika ist um 128 auf 402 gestiegen.
19.45 Uhr. Der Präsident ist zu spät. Ich sitze am Computer und warte, nun schon seit 15 Minuten, dass Südafrikas Präsident Cyril Ramaphosa am Podium erscheint. Er will der Nation mitteilen, wie das Land die Coronakrise bewältigen soll. Dauert noch, also: zurück zum Facebook-Tab, der Feed wurde geupdated. Nun zu sehen sind eine Reihe ominöser, dem Selbstoptimierungswahn folgende Artikel: Fit in der Quarantäne, die besten DIY-Projekte für zu Hause, Online-Sprachkurse, als wäre es nicht genug, dass sich ein Drittel der globalen Bevölkerung derzeit im Lockdown befindet. Anstatt Lockerung werden die Riemen nochmal richtig angezogen, sodass zum nächsten weihnachtlichen Familientreffen nicht nur das Sixpack und fünf neue Sprachen vorgewiesen werden können, Geschenke sind ab diesem Jahr nur noch in selbstgebastelter Form erlaubt, oder was hast du die ganze Zeit gemacht, während kollektiv jede(r) für sich allein die Produktivität um ein Tausendfaches angezogen hat? Die länderspezifischen Vorlieben hinterlassen klaffende Lücken: Wo Deutschland Jahresvorräte an Toilettenpapier hortet, kaufen Franzosen vor allem Wein, Italien ist mit Kondomen groß im Geschäft und in den USA, wie sollte es anders sein, haben viele den Waffenschrank aufgerüstet. „Auf den freeways in Los Angeles werden die Leute auch immer rücksichtsloser“ – „People are afraid to merge on freeways in Los Angeles.”, schreibt Bret Easton Ellis da in „Less than Zero“ (Unter Null). Das galt natürlich schon immer und nicht nur für Los Angeles: Das metaphorisch-gesellschaftliche Einfädeln im Reißverschlussverfahren scheint jedoch nun mehr denn je der Rücksichtslosigkeit zu weichen.
Fenster zu, zurück zu Ramaphosa. Die Kamera flackert und der Präsident steht am Podium. Mit Echo verkündet er den 21-tägigen Lockdown des gesamten Landes: 57 Millionen Menschen, deren Lebenssituationen unterschiedlicher kaum sein könnten. Die Quarantäne, so Ramaphos, gelte für alle, die keine Sondergenehmigung haben. „Individuen ist es nicht gestattet, ihre Häuser zu verlassen, außer unter streng kontrollierten Bedingungen: um medizinische Versorgung aufzusuchen, Essen, Medizin und andere Vorräte zu besorgen oder soziale Zuschüsse zu erhalten. Temporäre Notunterkünfte, welche den Hygienestandards entsprechen, werden für Obdachlose bereitgestellt“, erklärt er. Vier Tage habe die Nation Zeit, Vorräte zu besorgen und sich auf die bevorstehenden 21 Tage vorzubereiten. In diesem Zeitraum, so wird schnell klar, sollen keine Alkohol- oder Tabakwaren verkauft werden, sportliche Aktivitäten, die außerhalb des Hauses stattfinden, inklusive das Spazierengehen mit Hunden, sind streng untersagt. Wer keinen Garten hat, denke ich, dem wird im wahrsten Sinne des Wortes ans Bein gepisst. Ich lese die Kommentarleiste – 5.423 Menschen sehen den Livestream –, die in Quarantänezeiten im global village à la Marshall McLuhan ja nie fehlen darf. „Ich glaube, alle Sound-Engineers sind bereits ausgereist“, schreibt einer über die schlechte Tonqualität „Corona Virus started watching“, poppt an der Browserfensterseite auf. Zeit, den Livestream zu verlassen.
The Hunger Games: oder Tag 20, Mittwoch, 15. April
Covid-19 Fälle in Südafrika 2.506. Anzahl der bislang durchgeführten Tests: 90.515.
Das Land harrt seit 21 Tagen in einem der striktesten Lockdowns der Welt aus. Zeit, so erklären meine Freunde vor Ort, wird relativ. Natürlich ist das mittlerweile ein globales Phänomen. Memes zur Tageseinteilung nach Getränk im Behältnis – Wein oder Kaffee –, 300 Tage im März und 3 im April, Jogginghose 24/7.
20.30 Uhr, natürlich in Jogginghose: Die Sonne ist gerade untergegangen und ich starre auf den nun meine kleine Küche erleuchtenden Bildschirm. Ich bin mit Armand Hough verabredet, der noch auf sich warten lässt. Also neuer Tab und mal sehen, was er heute so erlebt hat. Armand arbeitet seit 15 Jahren als Fotojournalist. Die Stationen sind beeindruckend: Acht Jahre verbrachte er in Bahrain, Oman und Khobar in Saudi-Arabien, wo er, nachdem seine ursprünglichen Kund*innen aus dem Werbebereich geflohen sind, den Arabischen Frühling dokumentierte. Seit sechs Jahren ist er bei Independent Media angestellt, Schirmunternehmen der African News Agency – genauer als Picture Editor für die Zeitung „The Cape Argus“. Mit Presseausweis und Sondergenehmigung ist Armand einer der Wenigen, die sich in Südafrika außer Hauses bewegen dürfen. Um die Geschehnisse direkt auf die Bildschirme der Menschen zu bringen, lädt er seit 21 Tagen täglich Stories bei Instagram hoch, die seine Erlebnisse festhalten. Das Leben in Zahlen, auch hier in binären Einsen und Nullen codiert, übermittelt durch Glasfaserkabel, die sich durch die Ozeane ziehen, scheint unter COVID-19 den Zenit erreicht und in der absoluten Vernetzung jeglichen Bezug zur Realität verloren zu haben.
Als @thehumansnarrative versucht Armand die Diskrepanz zwischen Zahlen und Leben aufzubrechen. Vor zwei Minuten hat er die letzte Story hochgeladen. Sie zeigt ihn in einem der ärmeren Stadtteile Kapstadts, Lavender Hill. Er ist zu Besuch bei Lucinda Evan, einer Menschenrechtsaktivistin. Ohne Hilfe von Seiten der Regierung leitet sie eine Essensausgabe und Hilfen für die Nachbarschaft.
Bei Spotify läuft gerade Daniel Norgrens Isolationsmelancholieverstärkeralbum „Buck“, als leise der Skype-Klingelton durchschallert. Armands Gesicht erscheint auf meinem Bildschirm, wie ein neu abgezogenes Foto. Er entschuldigt sich für die Verspätung, ein hectic day sei es gewesen. Den konnte ich natürlich schon ein bisschen nachverfolgen, sage ich. Für Armand ist dieser nicht der erste Lockdown: „(In Bahrain) habe ich meine Passion für Fotojournalismus entdeckt und den Sprung von Fotografie zu Storytelling und Realismus gewagt.“ Instagram nutzt er als virtuelles Fenster zur Welt, welche den meisten Südafrikaner*innen derzeit unzugänglich ist. Eine der wenigen Ausnahmen, um das Haus zu verlassen, ist der wöchentliche Einkauf, der mit spürbarer Polizei- und Militärpräsenz und Verkehrskontrollen zur Durchsetzung der Ausgangssperre immer mehr einem Grenzgang gleicht. Je nach Gebiet, so versichert Armand, habe es apokalyptische Ausmaße angenommen: „Die Situation in den verarmten Gegenden gleicht den Hunger Games – Tribute von Panem.“ Und setzt nach: „Die Gehälter wurden gestoppt und viele Menschen leben ohnehin von Cash-In-Hand oder wöchentlichen Zahlungen. Sie haben nichts mehr übrig,“ erklärt er. „‚Wir sind am Verhungern‘“, haben Eltern gesagt, die ihre Kinder zuerst haben essen lassen. Wie jeder Tag in Armands Instagram-Stories, endet auch dieser mit #clapforourcarerssa – dem allabendlichen Klatschen für die Helfer*innen in Südafrika.
14+14 = 35, oder: Tag 14, Donnerstag, 9. April 2020
+89 Fälle in Südafrika.
Noch eine Woche, denke ich, wie wohl alle. Vor vier Tagen tauchte das erste Video bei Facebook auf, das Menschen dabei zeigt, wie sie einen Liquor Store überfallen, diesmal im Township Langa. Diese sind seit Beginn des Lockdowns geschlossen, der Verkauf von Zigaretten und Alkohol ist untersagt, obwohl ersteres Verbot in der Politik des Westkaps gelockert wurde. „Viele Politiker*innen sind im Streit. Die ANC und DA Ratsmitglieder sind Kopf an Kopf und vergessen, was die eigentlichen Probleme sind. Jeden Tag tauchen neue Videos auf, die Einbrüche in Liquor Stores, Metzgereien oder Supermärkte zeigen“, erklärt Armand. „Die Leute leiden, sie sind hungrig!”*
Es ist 20 Uhr, der Präsident soll später noch eine Ansprache halten. Neuer Tab: Oxfam warnt, eine halbe Milliarde Menschen könnte in die Armut getrieben werden, würde ärmeren Ländern nicht geholfen. Tab zu, neuer Tab: In Australien sieht es etwas besser aus: Nur 96 neue Fälle am Vortag wurden verzeichnet. Ich sehe, dass gestern Passahfest war. Karfreitag ist dann wohl morgen. Tab zu und zurück zu Facebook: Eine Guardian-Überschrift informiert über Boris Johnsons Zustand: Es gehe ihm besser, aber er verbleibe fürs Erste auf der Intensivstation. Ramaphosas Stimme klingt aus den Lautsprechern meines Macs. Musik aus und jetzt irgendwie das Fenster mit dem Livestream finden. „Weltweit gibt es nun mehr als 1,5 Millionen Fälle. Über 90.000 Menschen auf der Welt sind bereits an dieser Krankheit gestorben. Die globale Beweislage ist überwältigend“, erklärt der Präsident. Anzahl der Fälle, durchschnittliche täglicher Anstieg: „Wenn wir den Lockdown zu früh oder zu abrupt stoppen, riskieren wir ein unkontrollierbares Wiederauftreten.“ 14 Tage, so erklärt er, soll die harte Ausgangssperre nach Ablauf der zuvor festgelegten 21 Tage verlängert werden: „Für uns ist es von besonderer Wichtigkeit einen Weg zu wählen, der nicht nur Leben rettet, sondern auch Existenzen sichert.“ Ich schließe das Fenster und öffne Netflix: Banalitätsbalsam.
There is no place like ... home? Oder: Tag 5, Dienstag, 31. März 2020
Die Zahl der Infizierten ist in Südafrika auf 1,353 gestiegen; +46.
Neuer Tab. David Geffen, Dreamworks-Gründer und Musikmogul, vielleicht der derzeit bekannteste Pseudophilantrop, schippert derweil auf seiner 590 Millionen US-Dollar teuren Luxusyacht „Rising Sun“ in der Karibik umher, dem Sonnenuntergang entgegen. „Isoliert in den Grenadinen“ – so funktioniert dann wohl Quarantäne für die Milliardäre der Welt. Ich schließe das Browserfenster, jetzt wirklich sauer, neuer Tab: Vielleicht hilft John Oliver? Er ist virtuell bei Stephen Colberts „Late Show“ zu Gast – Colbert barfüßig aus dem Arbeitszimmer, John Oliver in Peanutbutter-beschmierter Jogginghose aus dem Himmel. So sieht es zumindest aus, weißer Raum, sterile After-Life-Optik. Auch sie haben Geffens „revolutionsinduzierenden“ Beitrag gesehen: „Ein Mann mit dem Finger am Puls Amerikas,“ erklärt John Oliver.
Klassenkampf-Fantasien, in denen Supermärkte gestürmt werden, erscheinen vor dem inneren Auge. Die Superreichen am oberen Ende der Nahrungskette, hinter hohen Mauern, in Riesenvillen oder eben gleich auf der Yacht. Das Leben in Isolation erscheint hier oft wie ein Retreat. Augenscheinliches Ziel: Selbstfindung, mindestens aber -optimierung. Zum Einkaufen geht es in SUVs, die einem Rap-Video-Set gleichen – wenn social distancing, dann aber richtig, am besten noch hinter kugelsicherem Glas.
Das Konzept eines „Zuhauses“ hat sich unter COVID-19 global rapide gewandelt. Die Ausgangssperre in einem Land wie Südafrika, das eine hohe Zahl an Obdachlosen verzeichnet – 200.000, so die offizielle Ziffer Stand 2015, wobei die Dunkelziffer weitaus höher sein dürfte – und wo Millionen Menschen in verarmten Gegenden und Townships leben, entblößt das Schwellenland, das an der touristischen Oberfläche doch als Industriestaat vermarktet wird. „Für Obdachlose musste ein Rahmen für den Lockdown geschaffen werden. Die City of Cape Town hat also versucht sicherzustellen, dass sie sich an einem sicheren Ort aufhalten können, an dem medizinische Versorgung und Essen bereitgestellt werden“, sagt Armand. Heute ist er in einer Zeltstadt im Culemborg Cargo Yard unterwegs. Diese wurde unter einer Brücke für Obdachlose aufgebaut: Die Zelte erinnern an Hurricane-Zelte wie beim Fyre-Festival, flankiert von Dixiklos und einer Essenausgabe. „Das Essen in den Unterkünften reicht nicht aus. Diese Menschen haben eine Routine: Sie stehen an bestimmten Orten oder gehen von Tür zu Tür, um nach Essen zu fragen. Jetzt ist alles genau rationiert, was viel Konfliktpotential bietet. Viele verstehen nicht, was passiert und wie die genauen Bestimmungen im Camp sind.“
The Roaring 20s, oder: Tag 19, Dienstag 14. April 2020
Bestätigte Fälle: 2,415 – 643 davon am Westkap.
„I was looking for some action, but all I found was cigarettes and alcohol“, brüllen Oasis aus den Lautsprechern. Neuer Tab: Armand ist unterwegs in eine der Tent Cities. Viele Obdachlose, so Armand, werden in Camps außerhalb Kapstadts wie dem in Strandfontein, etwa 20 km entfernt, untergebracht und aus ihrem üblichen Umfeld herausgerissen. Während sich Obdachlose fühlen, als wären sie in einem Internierungslager gefangen, schlägt der Stadt vermehrt Ärger der Anwohner*innen entgegen. Zum zweiten Mal wird Armand, wie viele andere Journalist*innen, abgewiesen.
Neuer Tab: Wie „Doctors Without Borders“ zu bedenken gibt, seien gerade Obdachlosencamps wie dieses potentieller Herd für einen Ausbruch. Zudem haben viele Obdachlose mit Suchtkrankheiten zu kämpfen, fühlen sich in den Camps eingesperrt und von Informationsquellen abgeschottet. „Es ist gerade dort volatiler, wo die Menschen ihre Zigaretten und ihren Alkohol brauchen.“ Wo Obdachlose in Zeltstädten, Menschen in ihren Blechhütten im Township oder hinter den hohen Mauern ihrer gated communities möglicherweise einen kalten Entzug durchmachen, kocht die Gewaltbereitschaft kollektiv hoch. „Es gibt viele Alkoholiker\innen in Südafrika, durch alle Gesellschaftsschichten hinweg. Dennoch glaube ich, dass dies der richtige Weg ist“, so Armand. Gerade wenn Alkohol vorhanden ist, komme es häufiger zu Versammlungen, wobei social distancing und die strikten Regulierungen bei steigendem Pegel in Vergessenheit geraten könnten. Der Schwarzmarkt gleicht Bootleggern der Prohibition. Viele Menschen haben begonnen, ihr eigenes Ananasbier zu brauen oder gar Gin zu destillieren. „Momentan wird die Nachfrage für Drogen und Alkohol größer.“ Entgegen einiger Medienberichte, sei die Gewalt durch Straßengangs nicht zurückgegangen, „ich hoffe, sie wird durch die aktuelle Lage nicht verstärkt“,* erklärt Armand. Wenigstens, so muss doch einmal festgehalten werden, gibt es Strom, solange der Lockdown anhält.
Guys with Guns, oder: Tag 2, Samstag, 28. März
Die Zahl der COVID-19 erkrankten ist von 1,170 auf 1,187 gestiegen.
Gestern wurde ein obdachloser Mann für eine Packung Zigaretten erstochen, wie Armand bei Instagram berichtet. Heute, so lese ich im Guardian, schießt die Polizei in Johannesburg mit Gummigeschossen auf Menschen, die vor einem Supermarkt warten. Die Bilder gleichen einem Kriegsgebiet: Armand in seinem „corona safety pod“, wie er sein Auto nennt: Desinfektionsmittel, Masken und Handschuhe liegen überall verteilt. Allein cruist er darin über die Highways, dahin, wo eine Geschichte ist. „Niemand kommt derzeit in mein Auto!“ Selbst bei Straßensperren, versichert er, lasse er niemanden seine Papiere anfassen, um das Distancing so gut wie möglich einhalten zu können. Vorbei an den Settlements Blue Downs und Mfuleni, wo Rinder die Straßen eingenommen haben, ist Armand heute nach Belhar unterwegs. Das Militär wird gebrieft und macht sich auf zum Township Khayelitsha Harare. „Das Training des Militärs ist nicht darauf ausgelegt, direkt mit der Öffentlichkeit oder den Medien in Kontakt zu stehen. Sie kommen rein und wollen Köpfe einschlagen, das ist die Mentalität, auf die sie eingeschworen sind. Diese können wir derzeit aber nicht gebrauchen.” Unzählige Videos, welche die Militärgewalt zeigen, schwirren derweil auf Social Media umher. Die Menschen, gerade in verarmten Gegenden, treten der Armee ängstlich gegenüber.
Neuer Tab: Ein Video des Cinematographers Chad Nathan zeigt, wie realistisch so ein Lockdown in Khayelitsha wirklich ist. Viele Menschen leben dort auf engstem Raum in oftmals selbstgebauten Blechhütten ohne fließendes Wasser. Ein Wasserhahn pro 100 Hütten ist keine Seltenheit. Vor Beginn des Lockdowns hatte Präsident Ramaphosa die Lieferung von Essen und Wasser angekündigt, um die Versorgung innerhalb der Townships sicherzustellen. Armand konnte solche Anlieferungen von Seiten der Regierung miterleben. „Gerade das Essensprogramm ist nicht sehr gut durchdacht. Die Regierung versteht bestimmte Gebiete nicht als dynamisch, obwohl jede Gegend natürlich eine ganz eigene Dynamik birgt, die in die Planung einbezogen werden muss. Kriminalität ist vielerorts omnipräsent, sodass nicht einfach mit Essenslieferungen reingefahren werden kann. Viele Menschen warten dann auf die Lieferungen, denken wohlmöglich, dass sie nichts abbekommen. Da sind Unruhen vorprogrammiert“, erklärt er. Im Umkehrschluss, setzt er nach, übe das Militär viel Gewalt aus, um die Regulierungen durchzusetzen. Eher, so meint Armand, solle die Armee anfangen, Essen an die Menschen zu verteilen, damit sie als Helfer*innen und nicht mehr nur „guys with guns“ wahrgenommen würden.
Ain’t no Sunshine, oder: Tag 8, Freitag, 3. April 2020
Bestätigte COVID-19-Fälle: 1,505, +43.
Spotify spielt mir sanfte Klänge von Bill Withers in die Ohren, der vor einigen Tagen verstorben ist. Ich drücke die French Press runter und command + t. Neuer Tab. Nachrichten aus Johannesburg: Der Körper der 14-jährigen Siphiwe Sibeko wurde an einem Fluss nahe des Soweto Townships gefunden. Laut Polizei, so schreibt Independent Media, wurde das Mädchen misshandelt und vergewaltigt. Zwar ist die Kriminalität vor allem in gut situierten Gegenden seit Beginn des Lockdowns zurückgegangen, doch seien gerade häusliche Gewalt und Gewalt gegen Frauen und Kinder global rapide gestiegen. Über 2.300 Beschwerden seien in Südafrika seit Ende März bereits eingegangen. „Es gibt viele Programme, die in Notfällen eine sichere Unterkunft bieten. Leider sind die meisten Safe Houses lediglich temporäre Unterkünfte, sodass Frauen und Kinder dort normalerweise nur eine Woche unterkommen, bevor sie in eine permanentere Unterkunft ziehen können, wenn nötig. Derzeit sitzen alle fest und leider sind diese temporären Unterkünfte nicht sehr komfortabel“, erklärt Armand. Heute ist er bei „Ladles of Love“ in Kapstadts District Six unterwegs, um die Essenausgabe zu dokumentieren. „Gründer Danny [Diliberto] ist ein fantastischer Mensch, der sein ganzes Leben für Obdachlose gibt, um sicherzugehen, dass sie nicht hungern müssen. Sie machen wirklich Riesenmengen an Essen und erhalten viel Unterstützung aus der Gesellschaft.“ Um Menschenmengen zu vermeiden, bietet man bei „Ladles of Love“ einen Abholservice an: Geschmierte Sandwiches, Dosenessen oder andere Vorräte werden bei Spendenden direkt eingesammelt, um den Ablauf für alle so sicher wie möglich zu gestalten.
Six degrees of ... distancing, oder: Tag 11-13, Montag bis Mittwoch, 6. bis 8. April 2020
Die Todesfälle sind bis Mittwoch auf 18 gestiegen. +5 zum Vortag.
Musik an, neuer Tab. Boris Johnson wurde auf die Intensivstation verlegt, die Staatsangelegenheiten zunächst an Dominic Raab übergeben. Lady Gaga, Billie Eilish und, wer hätte gedacht, dass diese Allianz mal zustande kommt, Paul McCartney planen ein Benefizkonzert: „One World: Together at Home“. Entertainment, so scheint es, kann wohl immer in die Cloud kondensiert werden. Super Sache, aber wenn wir ehrlich sind, hat keiner mehr Bock auf Brotbacken; kollektiv wollen wir doch nur, dass der Groundhog-Day-Wahnsinn vorbei ist und wir unsere Häuser verlassen können.
Am Dienstag war Armand mit Hilfsarbeiter\innen der Bishop Lavis Clinic unterwegs. Sie verteilen Informationsblätter und gehen mit Fragebögen von Tür zu Tür, um Menschen mit Symptomen zu den jeweiligen Teststationen schicken zu können. „Die Welle hat uns bislang noch nicht erreicht. Die Hilfsarbeiter*innen riskieren ihr Leben und werden sehr schlecht bezahlt. Ein guter Informationsaustausch mit der Bevölkerung ist wichtig, um sicherzustellen, dass die Kommunen wissen, wie der Status ist. Es ist eine Wahnsinns Herausforderung, die Menschen, denen es sowieso schon schlecht geht, weiter einzuschränken. Es ist fast unmöglich denen mit einem Cash-in-Hand-Job zu sagen, dass sie für fünf Wochen zu Hause zu bleiben müssen“, erklärt Armand. „In einem Land wie Südafrika ist es nicht unbedingt das Virus, das uns zum Verhängnis wird, sondern daraus resultierende zivile Unruhen.“*
Wie fatal ein Ausbruch in einer der dicht besiedelten Townships wäre, zeigen Statistiken zu Vorerkrankungen: Südafrika ist nach wie vor weltweiter Spitzenreiter, wenn es um HIV-Infektionen/Aids-Erkrankungen geht: 2016 waren es 7,100.000 Menschen, zwei Jahre später ist die Zahl auf 7,7 Millionen gestiegen. Auch Tuberkulose ist nach wie vor weit verbreitet. 2019 gab es 301.000 Fälle – bei 90 Prozent wird eine HIV-Infektion bzw. Aids-Vorerkrankung angegeben. Die medizinische Versorgung ist vor allem für Haushalte mit niedrigem Einkommen eher rudimentär. Dass die Corona-Krise ein globales Problem darstellt, sollte klar sein, doch scheinen die Maßnahmen oft eher kurzsichtig angelegt. Süd- und Kontinentalafrika bilden den optimalen Nährboden für Epidemien. Äthiopiens Premierminister Abiy Ahmed erklärte kürzlich: „Wenn das Virus nicht in Afrika besiegt wird, wird es wieder auf die restliche Welt zurückprallen.“
Gerade im Informationsaustausch werden kulturelle Diskrepanzen zwischen den verschiedenen sozialen Gefügen deutlich: fehlende Bildung oder unterschiedliche Glaubensrichtungen führen oft zu Verschwörungstheorien, wie Armand erklärt: 5G sei Schuld an der Krise, die Krankheit sei nur für die weiße Bevölkerung gefährlich oder die Familie einer infizierten Person sei mit schwarzer Magie gestraft worden. „In Khayelitsha gab es Fälle, in denen Infizierte mit Steinen beworfen wurden. Bei Krebsfällen ist es ganz ähnlich. Oft sterben Krebspatient\innen an Vernachlässigung und nicht an Krebs. Sobald das Umfeld mitbekommt, dass jemand Krebs hat, haben viele Angst, sich anzustecken. Sie lassen sie verhungern. Bildung spielt hier eine entscheidende Rolle”,* sagt Armand. Sea Point, 20 Uhr: Kollektives Klatschen. Gute Nacht.
Endspurt, oder: Tag 29, Freitag, 24. April 2020
3,953 Fälle, 75 Todesfälle, 1.473 genesen. Seit Montag wurden 7.698 Wassertanks in Südafrika installiert. Zudem 1.239 Wassertrucks wurden geliefert, um die Wasserversorgung zu gewährleisten. Noch fünf Tage, bis der Lockdown vorbei ist.
Heute beginnt Ramadan. Donald Trump, dem im Leben durch den Browser nur schwer zu entgehen ist, schlägt derweil vor, sich das Desinfektionsmittel selbst zu spritzen. Vielleicht sollte auch hier Informationsfluss von Wissenschaft und Politik optimiert werden. Fehlinformationen scheinen omnipräsenter denn je. Das Leben in Zahlen bricht die Corona-Krise in ein banales Konstrukt herunter, das die menschlichen Faktoren oftmals verschwimmen oder gar verschwinden lässt.
Diese Woche hat Präsident Ramaphosa ein Hilfspaket von 500 Milliarden Rand (rund 25 Millionen Euro) angekündigt. Die Lockerung des Lockdowns soll in fünf Stufen geschehen. Die Maßnahmen können so gebiets- und situationsabhängig nach Bedarf erhöht oder gelockert werden. Projekte wie das von Armand Hough helfen, den Daumen über die Perforierungen zu fahren und das Sichtbare spürbar zu machen. „Was immer eine Veränderung für die Gesellschaft bringt, wird uns am Ende zu Gute kommen. Ich hoffe, dass nicht zu viele Menschen ihr Einkommen oder gar Leben verlieren. Familien werden von diesem Virus auseinandergerissen werden. Ich sehe aber auch positive Veränderungen: Die Art und Weise, wie die Regierung die Menschen behandelt, wie Menschen sich klassenunanbhängig gegenseitig behandeln. Sie öffnen ihre Portemonnaies und ihre Herzen, öffnen sich dem, was um sie herum geschieht“, sagt Armand. Wenn die Krise bewältigt ist, möchte er in all die Gebiete reisen, die am schwersten vom Virus betroffen wurden, um auch ihre Geschichte zu erzählen. Ich klappe den Laptop, mehr denn je das Fenster zur Welt, zu. Die Vorhänge lasse ich an diesem milden Abend offen – vielleicht gibt es noch etwas zu sehen.