Per Anhalter durch den BalkanGeschichten vom Beifahrersitz, Teil 4: Bosnien und Herzegowina & Kroatien
10.4.2020 • Gesellschaft – Text & Fotos: Livia LergenmüllerDie Europawahl im vergangenen Jahr und der Brexit haben Europa zu einem der wichtigsten Gegenstände der medialen Debatte des letzten Jahres gemacht. Plötzlich trug man Europapullis, forderte in Sozialen Medien kollektiv zum Wählen auf und sprach über die Notwendigkeit des Zusammenhalts, die fortschrittliche Kultur, die Wichtigkeit der Union. Ein großer Teil des Kontinents blieb in diesem europäischen Narrativ jedoch außen vor: Der Osten und Südosten scheinen nicht in unser Bild europäisch-westlicher Einheitskultur zu passen und bleiben dadurch häufig unerwähnt.
Auf ihren ersten großen Reisen nach dem Schulabschluss zog es unsere Autorin Livia Lergenmüller stets in die Ferne. So weit hinaus wie möglich, um maximalen Kulturaustausch zu erreichen, lautete das Mantra. Denn Europa glaubte sie bereits bestens zu kennen. Dementsprechend fasziniert blieb sie zurück, als sie im Sommer 2019 für einen Monat durch den Balkan trampte – und mitten in Europa eine ihr ganz neue Kultur mit vollkommen eigenständiger Historie entdeckte. Auf zahlreichen Autofahrten durch die serbischen Wälder und bosnischen Berge durfte unsere Autorin eine Menge lernen. Dass der Islam zweifellos zu Europa gehört zum Beispiel. Und dass unser eurozentrischer Blick vor Allem ein west-eurozentrischer ist, der auch Teile des eigenen Kontinents nicht mit sieht.
Gespräche vom Beifahrersitz: Teil 4 von 4 – Bosnien und Herzegowina & Kroatien
In Sarajevo läuft unsere Autorin in kurzem Sommerkleid neben Frauen in Burka her und lernt über Identitäten und wie genau man damit manchmal sein muss. In Kroatien scheint die Balkan-Mentalität vergessen und der Tourismus omnipräsent, doch auch hier lauern die Nachwehen des Krieges.
Die dritte Woche unserer Reise ist mittlerweile angebrochen. Schritt für Schritt arbeiten mein Freund und Reisebegleiter Julius und ich entlang des Adriatischen Meeres voran, stets von Temperaturen weit über dreißig Grad begleitet. Vom Norden Albaniens war es ein Leichtes, die Grenze Montenegros zu erreichen, dennoch soll das Land für uns lediglich ein Zwischenstopp bleiben. Einige Tage zelten wir auf einer kleinen Insel nahe der Grenze. Ada Bojana heißt sie, der Ort, wo sich die slawischen Hippies treffen. Der Rest der Küste steht im fundamentalen Kontrast dazu, hier tummeln sich Yachten, Restaurants und Clubs, mit gut gekleideten Menschen darin und teuren Speisekarten davor. „Alles Russen“, erklärt uns selbstsicher ein Mann, der uns für ein Stück mitnimmt. „Das erweckt einen falschen Eindruck. Die kommen her und machen sich breit. Die montenegrinische Bevölkerung selbst ist sehr arm.“
Wenige Tage später finden wir uns im bergigen Norden des Landes wieder. Es herrscht Hochsommer, überall kreisen surrende Insekten um die sattgrüne, fruchtbare Natur der Umgebung. An einem sandigen Straßenrand treffen wir Denis, einen Bosnier, der in Montenegro Urlaub gemacht hat und uns bis nach Sarajevo bringen kann. Sein Auto ist klein und rostig, es kämpft sich langsam den steilen Straßenverlauf auf und ab. „Genau genommen bin ich Bosniake. Also bosnischer Muslim“, erklärt er, während wir kurz darauf in der endlosen Schlange vor der bosnischen Grenze warten. Der Übergang liegt inmitten der Berge, zahllose Autos reihen sich die kurvige Straße entlang. „Die Menschen hier erzählen euch, woher sie kommen“, spricht er weiter. „Das spielt eine große Rolle: Bist du Bosniake? Serbischer Bosnier? Bosnischer Serbe? Die Menschen geben viel auf ihre Identität.“
Ich erinnere mich an ein Kapitel aus Saša Stanišićs Buch Herkunft, in welchem er eine Situation aus seiner Schulzeit in einer Heidelberger Flüchtlingsklasse beschreibt. Sein Klassenkamerad Zoki kommt darin herein, legt ein Blatt Papier auf den Tisch und fordert die anderen auf, sich in eine der drei Spalten einzutragen: Moslem / Serbe / Kroate. Die Kinder machen mit, zögern jedoch, sind sich unsicher. Im Laufe des Erzählung eröffnen die Kinder erst die Kategorie „Weiß nicht,“ dann „Jugoslawe“ und als letztes „Fickt euch,“ woraufhin die Situation eskaliert und die Liste verschwindet. Es sind Kinder, die in einem Land aufgewachsen sind, das mit einem Mal zerbrach und in dem alle gegen alle kämpften. In dem Muslime verfolgt wurden und das Autokennzeichen alles bedeutet hat. In dem Identität sich über die Herkunft definiert.
Bosnien
Etliche Stunden später, die Dunkelheit hat uns bereits eingeholt, haben wir die Grenze passiert und Sarajevo erreicht. Ein Mann an einer Tankstelle erklärt sich bereit, uns ins Zentrum zu fahren, um gemeinsam mit uns nach einer Unterkunft zu suchen. Als er uns nach unserer Herkunft fragt, schießen seine Augenbrauen freudig in die Höhe und er antwortet auf Deutsch: „Oh, ich spreche Deutsch! Das ist ein gutes Land. Die Deutschen waren sehr gut zu mir.“ Er erzählt, wie er seine Eltern im Krieg verlor und daraufhin nach Deutschland gebracht wurde, wo er mehrere Jahre in Heidelberg zur Schule ging. „Nach Ende des Krieges musste ich jedoch wieder zurück. Heute arbeite ich in einem Callcenter, für Deutsche. Wenn du eine Frage zu eurem Laptop hast und die Kundennummer anruft, wirst du mit mir hier in Sarajevo verbunden und ich versuche dein Problem zu beheben“, lacht er. Dann spricht er uns auf die Geflüchteten in Deutschland an. „Ich weiß, ihr habt große Probleme mit den ganzen Menschen, die zu euch kommen. Ich habe gehört, sie sind kriminell und lernen kein Deutsch“, sagt er. „Ich habe alles gegeben, um schnell Deutsch zu lernen. Wenn man in einem Land aufgenommen wird, muss man sich an das Land anpassen. Ich fühle mich schlecht für Deutschland, dass die Flüchtlinge das nicht tun.“
Die nächsten Tage verbringen wir damit, wahllos durch die Stadt zu flanieren. Wir essen Börek und Baklava, durchsuchen die zahlreichen kleinen Läden voller Geschirr und Schmuck. Täglich begleitet uns der Gesang der Imame, nicht selten verschönern jedoch auch Kirchen das Stadtbild. Viele Frauen verschleiern sich, auch Frauen in Niqab gehören zum alltäglichen Stadtbild. Gleichzeitig laufe ich in kurzem Kleid und mit offenem Haar durch die Straßen und erhalte nicht einmal annähernd das Gefühl, dafür in irgendeiner Form verurteilt zu werden. Das selbstverständliche Miteinander verschiedener Ethnien und Religionen bleibt mir als eine der prägendsten Erinnerungen dieser Stadt. Von wegen der Islam gehört nicht zu Europa. Und von wegen, ein Nebeneinander-Existieren sei nicht möglich. Als wir einige Tage später wieder aufbrechen wollen, lernen wir gleich an der ersten Auffahrt einen LKW-Fahrer kennen, der bis nach Zagreb durchfahren will und ergreifen unsere Chance.
Kroatien
„Jeder der hier lebt, liebt die Region Kroatiens. Der Lebensstandard, in Bezug auf persönliche Freiheit und die Möglichkeit Entscheidungen treffen zu können, ist eine der höchsten, die ich jemals getroffen habe.“ Wir sitzen im Wohnzimmer einer stattlichen Villa nahe Rijeka und lauschen den Erzählungen Etiennes. Kennengelernt haben wir ihn über Couchsurfing, sehr spontan hat er sich bereit erklärt, uns bei sich übernachten zu lassen. Etienne ist ein junger Kroate, vielleicht Mitte dreißig, und wohnt derzeit gemeinsam mit seiner Freundin Ines im ehemaligen Haus seiner Eltern. Durch das Fenster bietet es uns einem gigantischen Ausblick auf die kroatische Küste. Bei einem guten Glas Wein, welchen die beiden fleißig nachschenken, erzählt er uns von seiner Sicht auf die Balkan-Region. In fünf Ländern habe er bereits gelebt. Verglichen mit England zum Beispiel sei Kroatien ein Paradies. „Das Wetter ist perfekt, wir haben wunderschönes Meer und wunderschöne Berge. Jeder hier würde für die Schönheit des Landes sterben“, sagt er mit pathetischem Unterton. „Wir sind sehr patriotisch. Aber nicht wegen unseres Erbes, sondern wegen der Ehre, hier leben zu dürfen.“
Kroatien ist, damit hat er recht, nach Slowenien das wohl fortschrittlichste der ehemaligen jugoslawischen Länder. Der Tourismus hat dem Land enormen wirtschaftlichen Aufschwung beschert und nicht zuletzt der Beitritt zu der EU hat den Menschen eine neue, nicht selbstverständliche Bewegungsfreiheit geschenkt. Etienne selbst hat seine Kindheit noch in Jugoslawien verbracht. „Damals war das Leben sehr gut, denn wir waren ein mächtiges Land. Wir waren die Leader des dritten Blocks“, erzählt er beinahe aufgeregt. „Länder wie Libyen und der Irak folgten uns. Wir hatten ein vollständig integriertes System, eine eigene Auto- und Waffenindustrie. Damals haben uns die Rumänen und Bulgaren mit viel Respekt betrachtet. Denn wir hatten Einfluss, wir hatten Geld – und wir waren friedlich“, sagt er und fügt stolz hinzu: „Von allen kommunistischen Ländern war Jugoslawien das Beste!“
Neben uns hat Etienne noch zwei weitere Couchsurfer*innen aufgenommen. Eine Ungarin im Urlaub und ein junger Australier auf Europareise leisten uns zum Abendessen Gesellschaft. Wir haben uns dafür in ein kleines Häuschen im hinteren Teil des Gartens verzogen. Hier versteckt sich neben einer hauseigenen, üppig ausgestatteten Bar eine große Feuerstelle, über der Etienne beginnt, frische Meeresfrüchte zuzubereiten. Ines schenkt uns erneut Wein ein, während wir um den Tisch sitzen und das Gemüse schnippeln. „Nachdem Tito starb und es niemanden mehr gab, der die Beziehungen zum Westen aufrecht erhielt,“ setzt Ines die Erzählung Etiennes fort und setzt sich, ebenfalls mit Brettchen und Messer ausgestattet zu uns, „begannen alle die Schuld für unsere Probleme bei anderen zu suchen.“ Alle nicken interessiert. Die Historie und Beziehungen dieser Region erscheinen derart komplex, das alle, die sie einmal bereisen, jede Meinung und Information aufzusaugen scheinen, um die Situation der Länder Stück für Stück verständlicher werden zu lassen.
Stanišić bedient sich in seinem bereits erwähnten Buch „Herkunft“ einem ähnlichen Erklärungsmodell: „Spätestens nach Titos Tod in den Achtzigern taten sich Lücken auf in der multiperspektivischen Erzählung Jugoslawiens und Risse im Fundament der Föderation. Mit Parolen der Einheit und Brüderlichkeit waren vor allem die wirtschaftlichen Gräben nicht mehr zu schließen. (…)“ schreibt er darin. „Tito als wichtigste Erzählstimme des jugoslawischen Einheitsplots war nicht zu ersetzen.“
Von der Gastfreundschaft berührt, verweilen wir, entgegen unserer Pläne, die restlichen Tage unserer Reise bei Etienne. Bei gutem Wein, besserem Essen, Sonne und Salzwasser auf der Haut schließen wir einen Monat der kontinuierlichen Fortbewegung, des Fragens und Lernens ab. Schweren Herzens begeben wir uns an einem weiteren heißen Augusttag zum Busbahnhof in Rijeka, um Richtung Berlin aufzubrechen.
Den Balkan lasse ich mit Gefühlen der Ambivalenz hinter mir. Ich habe gestaunt und genossen, war verschämt über meine Privilegien und beeindruckt von Menschen und ihrer Gastfreundschaft. Ich war erschrocken über die selbstverständliche Hinnahme der Umstände und habe zweifellos Europa neu kennengelernt. Es haben Kriege gewütet auf europäischem Boden, und hier ist er noch nicht lange vorbei. So vieles von dem, was als vermeintlich europäisch geglaubt wird, wurde in den vergangenen Wochen über Bord geworfen. Das geeinte Europa ist ein geeintes Westeuropa, die abendländische Kultur lediglich Teil des Kontinents und das marktwirtschaftliche Wachstum lässt in vielen Ländern noch immer auf sich warten.
Das letzte Wort dieser Reihe gebührt nun nochmals Saša Stanišić, dessen Worte nicht nur auf der Reise eine wichtige Begleitung waren:
„Alle sind hier irgendwann aufmarschiert, alle! Haben sich breitgemacht, wurden besiegt (oder auch nicht), zogen sich zurück. Und sie alle ließen etwas da. Rom, Venedig, die osmanischen Heere, Österreich-Ungarn. Und all die Slawen. Juden kamen von der Iberischen Halbinsel und blieben. Roma-Enklaven existieren im gesamten Raum. Die Deutschen schliefen in Betten meiner Vorfahren. Alle waren hier, wo du dasselbe Lied in verschiedenen Tonarten anstimmt, je nachdem. Hier wo du türkischen Kaffee trinkst, deutsche und arabische Lehnwörter selbstverständlich benutzt, mit urslawischen Vielen in den Wäldern tanzt und auf Hochzeiten zu gleichermaßen miesen kroatischen oder serbischen Schlagersongs. (…) Auf diesem Balkan, Mann! An der Kreuzung zwischen Orient und Okzident!“