Helfen statt HamsternSirPlus aus Berlin verkauft gerettete Lebensmittel und expandiert weiter

Sirplus Laden in der Bergmannstrasse

Trotz Pandemie kommen auch in diesem Frühjahr wieder zehntausende Saisonarbeiter*innen aus Osteuropa nach Deutschland – die Ernte muss eingebracht werden, Risiko hin oder her. Den sorgsamen Umgang mit Lebensmitteln haben die Deutschen aber auch 2020 noch nicht gelernt. Jede Minute landet rund eine LKW-Ladung im Müll. Das zu ändern, hat sich Raphael Fellmer schon seit einigen Jahren auf die Fahne geschrieben. Mit Erfolg. Der ehemalige Tonnentaucher betreibt in Berlin gemeinsam mit seinem Team dank jeder Menge Crowdfunding mehrere Lebensmittelläden, in denen Waren, die nicht den ästhetischen Standards entsprechen oder nahe am Verfallsdatum liegen, für kleines Geld verkauft werden. Kürzlich eröffnete die sechste Filiale, geplant ist eine landesweite Expansion. Die Menschen finden es super. Aber es gibt auch Kritik.

Eigentlich ist die Bergmannstraße in Kreuzberg ein Touristenmagnet. Kleine Geschäfte, Kneipen, asiatische Restaurants, Arztpraxen, Friseure, ein Optiker – all das gehört hier her. Eigentlich. Jetzt allerdings ist alles anders. Corona ist schuld. Das Virus und die verordneten Schutzmaßnahmen verhindern das sonst so quirlige Leben dieser Straße, die in jedem Reiseführer auftaucht. „Alles ziemlich öde jetzt gerade“, sagt ein älterer Mann, der auf einer der Holzbänke am Straßenrand sitzt. Aber: Ganz so öde ist es dann doch nicht. Vor dem Haus mit der Nummer 101 ist viel los. Ein Supermarkt der besonderen Art eröffnete vor Kurzem.

SirPlus – dein Retterladen steht in großen Lettern auf der Schaufensterscheibe. Es ist die mittlerweile sechste Filiale in Berlin. Und die Initiatoren verstehen sich ausdrücklich als Lebensmittelretter. Sie verkaufen Obst, Gemüse, Brot, Milch, Butter, Joghurt Schokolade, Kekse und fast alles was sonst in jedem Supermarkt auch in den Regalen steht. Bei SirPlus gibt es die Produkte deutlich preisgünstiger. Der Grund: Die meisten liegen dicht am aufgedruckten Verfallsdatum. Aber: „Dieses Datum kannst du vergessen, die Lebensmittel sind trotzdem lecker und gesund“, sagt Raphael Fellmer. Er ist sozusagen der Erfinder und Gründer der Retterläden. Bereits seit 2012 rettet er Lebensmittel – anfangs noch als Tonnentaucher. Jetzt steht er im Laden in der Bergmannstraße und sagt, was ihm am Herzen liegt: „Jeden Tag werden in Deutschland rund 50 Prozent der Lebensmittel weggeworfen. Wir wollen das ändern und die Lebensmittel vor der Tonne retten“.

Sirplus Laden in der Bergmannstrasse rotes Band

Besonders vor Ostern war im Laden viel los. Viele junge Leute kamen mit großen Taschen und leeren Rucksäcken. Die Kühlschränke mussten schließlich gefüllt werden. Im Laden war es eng, aber die vorgeschriebenen Sicherheitsmaßnahmen wurden eingehalten. SIRPLUS wird übrigens mit „Überschuss“ übersetzt – das musste die Kassiererin den Kunden immer wieder erklären. Seit fast zwei Wochen gibt es den Laden und viele Kunden warten geduldig, bis sie eingelassen werden. Sicherheit geht schließlich vor. „Überall wird von Pleiten und Entlassungen, Kurzarbeit und Ladenschließungen berichtet, hier entsteht etwas Neues, trotz Corona“, sagt eine Kundin und stapelt ihren Einkauf in den Rucksack.

Der Shop ist ziemlich klein, und erinnert an einstige Tante-Emma-Läden. Noch vor kurzem war hier „Lindner“, auch bekannt als „Butter Lindner“ Inhaber. Vor allem Backwaren, die einen oder zwei Tage alt waren, hatte das Unternehmen im letzten Jahr an SirPlus regelmäßig abgegeben, damit sie in den schon vorhandenen Retterläden verkauft oder auch nur verteilt werden konnten. Man kennt sich also. Die Geschäftsleitung von Lindner spricht von Wertschätzung für die Retterläden. „Wir sind dankbar für die Arbeit von SirPlus“, heißt es in einer Stellungnahme der Geschäftsleitung. „Als die Übernahme geregelt war, musste alles ganz schnell gehen“, erzählt Anton vom Retter-Team. „Der 50 Quadratmeter große Laden wurde ein bisschen umgebaut und renoviert und neue Retterware aus dem Lager einsortiert. Aber alles kein Problem. Wir sind ein gutes Team und gewöhnt, auch mal Überstunden zu machen, wenn es um die Rettung von Lebensmitteln geht“, lacht Anton.

Aber es gibt auch Kritik am Konzept der Lebensmittelrettung. Mitarbeiter*innen der Tafeln sehen darin zum Beispiel eine Art Konkurrenz zu ihrer Lebensmittelausgabe an Arme und Bedürftige. Sabine Werth, die Gründerin der Tafeln, sagte vor kurzem in Interviews, dass immer weniger Lebensmittel an die Tafeln verteilt werden. Manchmal gebe es einfach nicht genug, um alle mit dem Nötigsten zu versorgen, meint sie. Grund: Die sonst sehr großzügigen Händler und Lebensmittelkonzerne würden ihre Überschüsse jetzt auch SirPlus anbieten, die sie in ihren Retterläden aber verkaufen, während die Tafeln die Lebensmittelspenden an die Bedürftigen verschenken. Der „Konkurrenzkampf“ sei ausgeräumt, heißt es bei SirPlus. Es sei genug für alle da.

Raphael Fellmer weist aber auch auf den Unterschied zwischen seinen Läden und den Tafel-Ausgabestellen hin. Fast 50 davon gibt es in Berlin. Keine Läden sind das – die Lebensmittel werden in Kirchen und Gemeindehäusern verteilt. „Laib und Seele“ heißt das Programm, an dem die Kirchen beteiligt sind. Einmal pro Woche kommen diejenigen, die an Existenznot leiden, von Hartz IV leben, von kleinen Renten. Immer öfter kämen auch arme Studenten, deren Bafög nicht zum Leben reicht. Sie alle müssen – wenn sie Tafelkunden werden wollen – ihre Armut und Bedürftigkeit nachweisen. Also Bescheide vorlegen, die diese bestätigen. Dann werden sie registriert und haben damit die Möglichkeit einmal pro Woche Lebensmittel in einer der Ausgabestellen zu bekommen. Doch auch nur dort, wo sie registriert sind und es wird jedes Mal überprüft, ob sie auch tatsächlich in der Liste stehen. Also sie haben keine Wahl, einfach mal in eine andere Ausgabestelle zu gehen.

„Meine Postleitzahl entscheidet, in welche kirchliche Ausgabestelle ich gehen muss“, erzählt Marisa. Sie ist 40 Jahre alt und erzieht ihre vier Kinder allein. „Ich lebe von staatlichen GeIdern“, sagt sie. Marisa nimmt die Tafel-Spenden gern an. „Aber ich kann nicht wählen. Jeder muss halt nehmen, was gerade da ist zum Verteilen.“ Jetzt geht die junge Mutter auch öfter mal in den Retterladen in ihrer Wohnnähe. Sie nimmt die Kinder mit, weil es dort auch eine Spielecke mit Büchern und Bausteinen gibt und die Kinder dort so lange warten bis Mama alles eingekauft hat. „Ich fühle mich dort auch nicht als arm und abgehängt wie bei der Tafel. Ich stehe mit anderen Menschen an der Kasse, und keiner fragt, ob jemand arm ist oder wohlhabend. Denn alle haben in diesen Läden ja die gleiche Motivation: nämlich Lebensmittel zu retten. Dass diese dann auch noch ziemlich preiswert sind, ist doch super.“

Diese Tatsachen zu verbreiten ist den SirPlus-Leuten wichtig. „Wir denken nicht in erster Linie an die Armen, sondern wir wollen, dass Menschen eine Kehrtwende machen und ein bisschen darüber nachdenken, was sie kaufen und was sie tatsächlich brauchen“, sagt Raphael Fellmer. Er weiß, dass mit den Retterläden nicht das große Geld zu machen ist, aber das Bewusstsein der Menschen ein bisschen zu schärfen und vielleicht zu ändern, ist ihm wichtiger als der große Gewinn. „Wir wollen mit den Läden auch eine wichtige politische Aufgabe erfüllen“, sagt er. Der Gründer der Retterläden weiß natürlich, dass die Tafeln anders denken und handeln: Also eher caritativ. Bei den meisten kommt das sozial-orientierte Konzept auch gut an. In Deutschland gibt es inzwischen fast 1.000 Tafeln und damit ein Heer von Freiwilligen, die abholen, sortieren und verteilen. Die meisten sind übrigens auch arm und machen ihren „Tafeldienst“ im Ehrenamt.

Sirplus Laden in der Bergmannstrasse 03

Bei SirPlus bekommen die rund 100 Mitarbeiter Gehälter. „Wir haben einen guten Draht zu den Jobcentern“, erzählt Fellmer. Langzeitarbeitslose zum Beispiel werden vermittelt und viele von ihnen arbeiten jetzt bei SirPlus: in der großen Lagerhalle, als Fahrer, die die Produkte in die Läden liefern oder vor Ort in den Filialen. Auch Geflüchtete sind unter den Mitarbeiterinnen. Sie sortieren das Obst, sitzen an der Kasse oder bearbeiten die Online-Bestellungen. Und die nehmen merklich zu. Fellmer: „Die Kunden bestellen ihre Sachen und wir bringen sie bis vor die Wohnungstür. Meistens noch am Tag der Bestellung“.*

Dann berichtet er noch über die Zusammenarbeit mit insgesamt den 700 Produzenten und Großhändlern, die täglich wertvolle Lebensmittel liefern. Lebensmittel, die bei diesen übrig bleiben und sonst in der Tonne landen würden. „Die stellen wir dann bei uns in die Regale, weil sie frisch und genießbar sind, aber eben oft eine andere Form haben: krumme Gurken, superkleine Kartoffeln oder eben Lebensmittel mit nahem Ablaufdatum“. Und dann sagt der Retter noch einmal, dass allein in Deutschland pro Minute eine LKW-Ladung Lebensmittel in der Tonne landet und nennt das „ein ethisches Desaster“. „Schließlich leiden 800 Millionen Menschen weltweit an Hunger. Mit den verschwendeten Lebensmitteln könnten wir diese Menschen viermal ernähren“. Der neue Laden in der Kreuzberger Bergmannstraße ist also auch ein Aufruf in Zeiten von Corona: „Helfen statt hamstern“.

Mix der Woche: Mark & Christoph de BabalonPost-konkrete Ansage

Heimkino: OutrageDer Tod des Individuums ist besiegelte Sache