Fragmente einer GroßstadtProaktiver Inaktivismus
26.10.2016 • Leben & Stil – Illustration: Kristina WedelDas letzte Mal gezielt Blätter sammeln war ich wohl in der neunten Klasse, als ich ein Herbarium anfertigte. Nicht aus eigenen Stücken, sondern für meinen wehrten Biologielehrer Herrn Dörr. Im Grunde bekam ich eine drei oder vier, weil nicht alle Bezeichnungen richtig zugeordnet waren.
Heute könnte ich das wohl auch nicht besser. Mal ehrlich, wer hat das noch drauf – vor allem als Stadtkind? Eher kann ich Grammatur und Papierart eines Blatt Papiers richtig einschätzen. Nerdig, ja … Und auch ein bisschen traurig. Aber es ist nie zu spät, denke ich. Eine kleine Naturkunde in der Stadt ist an einem sonnigen Herbsttag echt nett. Und erdend. Die Woche am Rechner lähmt meinen Rücken, den ich dann im Fitness-Studio wieder aufzupäppeln versuche. Die Woche am Rechner lähmt auch mein Hirn, insofern sie es einseitig belastet. In meine Kunden und Kundinnen hineinversetzen und ein Projekt zielstrebig und markenorientiert verwirklichen … das schafft mein Hirn ganz gut. Aber gezielt Sauerstoff tanken und abschalten – da hapert es gewaltig. Proaktiv inaktiv sein. Klingt nach einem ganz und garnicht zeitgemäßen, weil wenig zielorientierten Vorhaben. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass proaktiver Inaktivismus der Wunsch vieler GroßstadtbewohnerInnen ist. Wahrscheinlich auch ein hoch gestecktes Ziel, das zu erreichen unwahrscheinlich schwieriger ist, als bis zum Umfallen zu ackern aus Angst vor dem Stillstand des Hamsterrädchens.
Mein Spaziergang am Wochenende war banal. Banal schön. Und so produktiv und effektiv. Die Blätter kann ich immer noch nicht alle biologisch korrekt benennen. Aber lieber Herr Dörr, es ist mir auch wirklich egal. Ich kann sie sammeln und trocknen und angucken und mich freuen. Und ich kann sie nerdig einscannen und für ewig digital in einem Ordner auf meinem MacBook konservieren.
Gerührt sage ich „Danke, Mutter Natur“ und fordere euch freundlich aber inständig zum produktivem Inaktivismus auf.