Fragmente einer GroßstadtShake statt Essen – Was wäre das für 1 Gesellschaft?
28.9.2016 • Leben & Stil – Text & Illustration: Kristina WedelMit dem neu entwickelten Food-Replacement-Pulver würden wir und unsere Kultur ein ganzes Stück abstumpfen. Eine Liebeserklärung an das Essen.
Grundsätzlich gehöre ich zu jener Sorte Mensch, die revolutionären Neuerungen skeptisch, zuweilen sogar ängstlich gegenübersteht. Mag sein, dass ich mich für mein Alter (27) mehr als Digital Immigrant denn Native fühle. Aber mein erstes Handy hatte ich nunmal mit 15 (was ein Knochen!) und nicht mit zehn, wie sich das heutzutage weitläufig gehört. Wenn ich das Gefühl habe, mir könnten künftig Freiheiten und geliebt-gewohnte Tätigkeiten abgesprochen werden, stellt sich in meiner Brust ein beklemmendes Gefühl ein. Im Nachhinein, wenn ich aufgehört habe, mich dagegen zu wehren und anfange, die Vorzüge zu genießen, mag ich durchaus Dinge wie Smartphones und Spotifys intelligente Running-Playlists und kann sie wahnsinnig gut leiden.
Es gibt aber eine Sache, von der ich mir wirklich wünsche, sie auf ewig hassen zu dürfen, und mich nie von ihren Vorzügen breitschlagen lassen zu müssen: Nutritionally Complete Human Fuel – Huel. Es ist ein aus rein pflanzlichen Bestandteilen zusammengesetztes Pulver, das alle wichtigen Nahrungs- und Mineralstoffe enthält und angerührt mit Wasser einen Shake ergibt, der beliebig viele Mahlzeiten am Tag ersetzen soll. Zweifelsohne ein First-World-Problem, das ich mit der Angelegenheit habe, dessen bin ich mir bewusst! Aber ich möchte nicht nur eine einzige Mahlzeit am Tag ersetzen. Ich liebe Essen. Dass ich es vergesse zu tun, passiert ungefähr einmal im Schaltjahr, unabhängig von meiner seelischen Verfassung. Jedesmal wenn eine Mahlzeit zu Ende ist, bin ich ein kleines bisschen traurig. Ein gesundes, ansprechend angerichtetes Essen, macht mich zuweilen sehr glücklich.
Auf der Hersteller-Seite heißt es, die Welt brauche Huel, da die Nahrungsmittelproduktion ineffizient, unverantwortlich und wenig nachhaltig sei. Trotz riesiger Nahrungsmittelverschwendung hungern weltweit rund eine Milliarde Menschen. In Deutschland seien 60 Prozent aller Menschen übergewichtig oder fettleibig – Folgeerkrankungen wie Diabetes keine Seltenheit. Schön und gut. Oder eben ganz und gar nicht. Ja, es ist absolut Zeit, dagegen etwas zu unternehmen. Aber kann ein Pulver all diese Probleme angehen, geschweige denn lösen? Aber ohne Idealismus kommt man heute nicht weit, das sehe ich ein. Dennoch: Das Essen gehört zur Kultur wie der Traum zum Schlaf. Nicht jeder mag Kochen. Aber Menschen, die Essen nur als lästige Nahrungszufuhr betrachten, um zu überleben, tun mir Leid. Essen raube ihnen kostbare Zeit, die sie sinnvoller nutzen könnten. Sie könnten ihren Tag effizienter gestalten, produktiver sein. Die Frage ist: Braucht man allein Nahrungszufuhr, um Produktivität zu erreichen? Und ist eine höhere Effizienz überhaupt ein erstrebenswertes Ziel?
Ich sehe Kochen als eine intuitive Kunst, die Körper, Geist und Sinne schult. Aufgrund der Digitalisierung kommt das Erschaffen mit eigenen Händen sowieso bei vielen inzwischen viel zu kurz. Jemandem beim Kochen zusehen, hat etwas Beruhigendes. Wenn ein Mann für mich kocht, finde ich das zudem auch noch ziemlich attraktiv. Wie sähe unser Alltag aus, wenn Essen keine soziale Bedeutung mehr hätte? Wie oft rettet uns das Thema Essen den Arsch, wenn wir nicht wissen, was wir sagen sollen – im Kundenmeeting, beim Tinder-Date oder auf Familienfesten. Aber auch alleine mag ich an Pulvershakes nicht denken: Wie wäre ein einsamer Filmabend auf dem Sofa ohne Schokoladeneis, Nüsschen, Salzstangen und Chips? Wenn Huel wirklich irgendwann gesellschaftlich anerkannt und in unseren Alltag integriert sein sollte, was passiert mit all den Filmszenen, in denen gegessen wird?
Eine Sache muss man dem Pulver zugute halten: Platzsparend ist es. Es wäre ein Leichtes, einen Vorrat für zehn Tage anzulegen für den Notfall. Wahrscheinlich nur eine Frage der Zeit, bis die Regierung den Kauf von Huel subventioniert. Psychologen bräuchte es dann aber mehr. Mein Depressionsrisiko ohne Kochen und gesellschaftlichem Essen wäre jedenfalls deutlich erhöht.