Pageturner: Literatur im September 2019Ronald E. Purser, Mareike Vennen, Özlem Özgül Dündar, Ronya Othmann, Mia Göhring, Lea Sauer
2.9.2019 • Kultur – Text: Frank EckertWer schreibt, der bleibt. Das gilt vor allem dann, wenn das Geschriebene auch gelesen, bewertet und eingeordnet wird. In seiner Kolumne macht Frank Eckert genau das: Er ist unser Pageturner. Das können dringliche Analysen zum Zeitgeschehen sein, aber auch belletristische Entdeckungen – relevant sind die Bücher immer. Im September geht es zunächst um Roland Purser, der sich mit dem Geschäft mit der Mindfulness, zu Deutsch Achtsamkeit, auseinandersetzt und der irreführenden Bedeutung, die das Wort heutzutage hat. Dagegen ist die Wissens- und Kulturgeschichte des Aquariums von Mareike Vennen echter Balsam für die Seele – und erhellend noch dazu. Wer hätte gedacht, dass dieses Miniatur-Ökosystem hinter Glas auch großen Einfluss auf die Kunst hatte? Zuletzt bietet der Sammelband „Flexen” ein vielstimmiges Plädoyer für das Flanieren durch die Stadt – keine Selbstverständlichkeit, wenn man von der Gesellschaft nicht akzeptiert ist.
Ronald E. Purser – McMindfulness (Repeater Books)
Dieses Buch hatte ich tatsächlich ein halbes Jahr vor Erscheinen vorbestellt. Weil mich das Thema fasziniert und weil eine fundierte Kritik an all dem Unfug, der mit und um die Idee der Achtsamkeit getrieben wird, einfach dringend nötig war. Ronald Pursers „McMindfulness“ ist definitiv kein schlechtes Buch, löst diesen Euphorievorschuss meinerseits aber leider nur partiell ein. Und das obwohl der Autor, Professor für Management in San Francisco, doch quasi an der Quelle der Unbill sitzt. Dort, wo in direkter Nachbarschaft die „kalifornische Ideologie“ der Selbstoptimierung, Individualisierung von Problemen und Monetarisierung von Spiritualität eine ungute Synthese eingehen konnten und im Konzept der „Mindfulness“ konvergierte – inzwischen ein globales Business und vom Erfinder und erstem Propagandisten John Kabat-Zinn cleverst vermarktet. So hat die Achtsamkeit frühere Hypes der Selbstfindungs-Szene wie Hatha-Yoga oder Transzendentale Meditation ökonomisch sinnvoll ergänzt oder sogar weitgehend ersetzt.
Pursers von kleinen intellektuellen Eitelkeiten und offenbar persönlichen Animositäten Kabat-Zinn gegenüber nicht freie Argumentation folgt zwei Hauptfiguren: Einerseits wird das Sein, die Aktualisierung der Achtsamkeitsbewegung kritisiert als Derivat des Buddhismus, das aber jeglicher Spiritualität und Ethik, die untrennbar zum Buddhismus gehören, entleert ist. Stattdessen wird die Achtsamkeit mit einem umstrittenen bis fragwürdigen Mäntelchen der Wissenschaftlichkeit aus dem Bereich der Neuro- und Kognitionsforschung beworben und als universelle Stress-, Angst- und Traumatherapie vermarktet. Zudem kritisiert Purser als Buddhist und Marxist die Ziele der Achtsamkeit: Nicht die unmittelbaren und nachgewiesenen Wirkungen bei der individuellen Stressreduktion, sondern das mit den individuellen Zielen von Resilienz, Ich-Stärke und Glück verknüpfte gesellschaftliche Kalkül der Individualisierung. Es ist eine mit dem Neoliberalismus verknüpfte oder mindestens kompatible ideologische Volte, sämtliche Ursachen für Leiden im Individuum selbst zu suchen und soziale Gründe auszublenden – was übrigens schon Erich Fromm vor fünfzig Jahren bemerkte und was David Smail (und in Folge Mark Fisher) an der Praxis der Psychologie kritisiert hatten.
Diese beiden Hauptpunkte iteriert Purser nun auf über 250 Seiten wieder und wieder. Seine Argumente sind durchaus stimmig. Die kommerzialisierte Fast-Food-Variante der buddhistischen Achtsamkeit ist zweifellos wissenschaftlich und politisch fragwürdig und sollte tiefgehend analysiert werden. Leider dreht sich Pursers Analyse oft um sich selbst, wie um die berühmte Rosine, die in den Einführungskursen zur Mindfulness so ausgiebig betrachtet und ausgelutscht wird. Was die tatsächlichen sozialen und gesellschaftlichen Wirkungen des Achtsamkeitsbooms angeht, bleibt Purser ziemlich vage und abstrakt. Genau das hätte mich am meisten interessiert. Wie eine emanzipative oder gar revolutionäre Achtsamkeit aussehen könnte, lässt Purser offen. Er verweist nur auf Mark Fishers Kritik des „Capitalist Realism“ als Fluchtpunkt. Diesen mit Achtsamkeit zusammen zu denken, ist tatsächlich eine gute Idee. Das Buch dazu muss aber leider erst noch geschrieben werden. „McMindfulness“ ist höchstens ein Absprungspunkt.
Mareike Vennen – Das Aquarium (2018)
Eine Wissens- und Kulturgeschichte des Aquariums? Ja, das ist spannend. Weil Aquarien von Beginn ihrer Geschichte an ein seltsames Zwischending waren, an dem sich Wissensproduktion und Ästhetik verschränken und Ökologie in einer maximal artifiziellen Umgebung erfahrbar wird. Das Aquarium ist also eines dieser hybriden und seltsamen Dinge, die die Wissenschaftstheoretikerin Lorraine Daston „Things That Talk“ genannt hat. Ein epistemisches Objekt, an dem sich einiges über die Gesellschaft und ihre Zeit ablesen lässt. Die Geschichte des Aquariums als Miniatur-Ökosystem hinter Glas beginnt erst Mitte des 19. Jahrhunderts, als man zunächst in Großbritannien und dann auch schnell im Resteuropa und den USA damit beginnt, verschiedene Spezies von Fischen, Krebsen, Schnecken, Seeanemonen, Seesternen mit Wasserpflanzen und einem speziell zusammengemischten oder aus der Natur geholten Schlamm/Sand-Boden in einer quasi-natürlichen Umgebung zu arrangieren.
Die Wissenschaftshistorikerin Mareike Vennen zeichnet in ihrem Buch die faszinierende Geschichte der rapiden Entwicklung der Aquaristik nach – von einer exotischen Sparte der „Natural Philosophy“ zu einer populären wie standardisierten Laienwissenschaft von der Mitte des 19. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts. Obwohl die Anfänge der Aquaristik bei professionellen Wissenschaftlern liegen, etwa den Pflanzenforschern des britisch-royalen „Kew Gardens“ oder dem Londoner Chemiker Robert Warington, lag die mühsame experimentell-ausprobierende Suche nach selbsterhaltenden physiologisch-metabolistischen Gleichgewichtszuständen zwischen den Pflanzen, Tieren und unerwünschten Gästen wie Schnecken und Algen in den Glaskästen weitgehend in der Hand von Hobbyforschern, an der neuen Wissenschaft interessierten Privatiers und vor allem auch bei Frauen, die im offiziellen Wissenschaftsbetrieb damals keinen Platz hatten.
So wurde das Aquarium innerhalb erstaunlich kurzer Zeit von einer geteilten experimentellen Praxis zu einem (groß-) bürgerlichen Hobby – eine Entwicklung, bei der die gefällige Darstellung immer eine wichtige Rolle spielte. Denn im Aquarium war es erstmals möglich, maritimes Leben nicht in toter Form als Präparat zu betrachten, was kontroverse Diskussionen über die Natürlichkeit solcher Ökosysteme nach sich zog. Auch die Naturmalerei und Fotografie bekam durch Aquarien neue Impulse. So wurde und blieb das Aquarium ein Objekt der bürgerlichen Selbstdarstellung, das doch immer mit der „seriösen“ offiziellen Wissenschaft wechselwirkte: Das Wissen um aquaristische Zusammenhänge ist eine der Quellen für ein modernes Verständnis der Ökologie. Mareike Vennens schönes Buch zeichnet diese Evolution mit all ihren Kuriosa detailverliebt nach. Weil das Aquarium so ein besonders schönes seltsames Ding ist, das uns von der Welt und von uns selbst erzählt.
Özlem Özgül Dündar, Ronya Othmann, Mia Göhring, Lea Sauer (Hg.) – Flexen (2019)
„Flexen“ bedeutet neben vielen anderen Dingen auch Flanieren, bewusst zielloses Spazieren durch eine Stadt. Wobei traditionell davon ausgegangen wird, dass der Flâneur männlich, weiß und europäisch ist. Nichtweiße und/oder queere Flâneusen* sind in der Weltliteratur dagegen unerfreulich selten zu finden. Von den wenigen Ausnahmen ist Teju Cole eine aktuelle und Walter Benjamin eine klassische. Der Hauptgrund dafür dürfte sein, dass für diese Individuen ein selbstverständlicher und angstfreier Gebrauch des städtischen (Frei-)Raums eben nicht einfach so gegeben ist.
Der Sammelband „Flexen“ gibt nun 30 Positionen, die diese Selbstverständlichkeit in Frage stellen und für ein emanzipatives Flanieren eintreten. Immer im Bewusstsein, dass es etwas anderes ist, mit dem Kinderwagen durch Berlin-Mitte zu flanieren, als durch das kriegstraumatisierte Sarajevo oder als alleinstehende Frau durch Mumbai (eine Art der Bewegung, die mittlerweile zu einer feministischen Protestbewegung in Indien wurde). Die größtenteils nach 1980 geborenen Autor*innen agieren stilistisch extrem unterschiedlich. Es gibt klassische Short Stories, Ultrakurz- und Langgedichte, Biografisches und feuilletonistische Theorietexte. Schön, dass wohlreflektierte Selbstermächtigung so viele und so verschiedene Stimmen hat. Nicht alle Texte sind einfach zu entschlüsseln, gefallen sich in poetischer Dunkelheit. Obwohl es inhaltliche wie personelle Überschneidungen zu den ähnlich aufgestellten Sammelbänden „Eure Heimat ist unser Albtraum“ und „Sagte sie“ gibt, bleiben viele Text merkwürdig vage und wollen sich nicht so recht ins Lesegedächtnis einbringen. Sogar der Text der sonst immer so tollen Anke Stelling wirkt etwas dahingehuscht ohne Punch. Doch es gibt Ausnahmen: Katia Sophia Ditzlers eiskalte Innenaufnahme besser gestellter Jungmenschen, die für ein Jahr in ein exotisches Land mit gutem Wetter fahren, um dort irgendwas mit Kunst zu machen und den Einheimischen irgendwie zu helfen und sich dabei selbst finden, aber nicht das geringste Interesse an den dort Lebenden und ihrer Kultur haben, sie nur als Material für ihren Insta-Account und ihren CV brauchen, für eine gute Ausgangsposition in der Erfahrungsökonomie. Es gibt mehr Gutes von Anneke Lubkowitz, Kamala Dubrovnik, Bettina Wilpert, Leona Stahlmann: So schlecht ist die Quote dann doch nicht. Das abschließende Interview mit der Psychogeographin Laura Elkin rückt dann noch einiges in Kontext.