Der Krieg der GeisterBuchrezension: Laurent Binet – Die siebte Sprachfunktion
27.1.2017 • Kultur – Text: Thaddeus HerrmannIn seinem zweiten Roman zeichnet der französische Autor ein konsequent irres Bild der mindestens genauso irren Philosophen-Szene im Paris des Jahres 1980. Mord und Totschlag mit großer, realer Besetzung. Nicht nur Wirklichkeit und Narrativ verschwimmen dabei zu einem mitreißenden Krimi.
Es gibt selten einen Stoff, der sich anbietet, vom Autor konsequent in Großbuchstaben geschrieben zu werden. Binets „Die siebte Sprachfunktion“ ist eigentlich dafür prädestiniert. Lange nicht mehr hat eine Geschichte in ihrem bewusst grell überbelichteten Wahnsinn einen derart angebrüllt. Und noch länger ist es her, seit diese Strategie die einzig angemessene Art und Weise war, einen Roman zu schreiben.
Paris, 1980. Bald wird gewählt, Giscard ist Präsident, Mitterand in den herausfordernden Startlöchern. Große Chancen werden ihm nicht attestiert, er ist zu schlaff auf den Bühnen, im Fernsehen, er kann die Menschen nicht begeistern. So weit, so real. Auch was dann geschieht, konnte man man damals in den Fernsehnachrichten sehen: Der Semiotiker Roland Barthes hat einen Autounfall und stirbt kurze Zeit später im Krankenhaus. Binet nutzt diesen Vorfall als Ausgangspunkt für seine Geschichte. Denn natürlich war es Mord. Schreibt Binet, beschreibt den Mörder und lässt die Sache einfach laufen. Barthes stirbt auf dem Rückweg von einem Mittagessen mit Mitterand, in seiner Tasche steckt ein Dokument, das die Welt verändern kann. Und nach dem Unfall ist es verschwunden. Weil sich Binet Barthes als Trigger für seine Story ausgesucht hat, dauert es nicht lange, bis die Crème de la Crème der französischen Intellektuellen durch den Roman tanzen. Foucault, Deleuze, Philippe Sollers mit seiner Frau Julia Kristeva, Bernard-Henri Lévy: alle da, alle geladen, alle hasserfüllt, alle neidisch, alle blind und unberechenbar vor lauter Selbstverliebtheit. Später gesellen sich noch Umberto Eco und Judith Butler hinzu. Es ist diese Inszenierung in der Realität, die Binets Geschichte so besonders macht. Hätte er einen anderen, einen komplett fiktiven Plot gewählt, um seine Story zu erzählen, dann würde jeder ZDF-Kommissar damit fertig werden.
So jedoch kümmert sich Jacques Bayard um den Vorfall. Der Kommissar wird auch nur eingeschaltet, weil Barthes von Mitterand kam. Verdächtig, so kurz vor der Wahl. So purzelt Bayard, ein bodenständiger und erzkonservativer Kriminalist, in die Pariser Intellektuellen- und Universitätsszene und versteht nur Bahnhof. Die Semiotik ist für ihn ein Buch mit sieben Siegeln, Unterstützung erfährt er als Vertreter der Staatsmacht in den Hörsälen, Instituten und einschlägigen Kneipen ohnehin nicht. Es ist nicht leicht, etwas über Barthes herauszufinden. Und über das gestohlene Dokument auch nicht.
Worum es dabei wirklich geht, lässt Binet nur in homöopathischen Hinweisen durchblicken. In kleinen Stücken fügt sich das Bild ganz langsam zusammen: Da geht es den Lesern genauso wie dem Kommissar. Um schneller ans Ziel zu kommen, um überhaupt etwas zu erfahren und einen Fuß in diese intellektuelle Hölle zu bekommen, zwangsverpflichtet er einen jungen Akademiker, der ihm mehr oder weniger vor die recherchierenden Füße fällt.
Rhetorische Macht
Worum geht es nun überhaupt? Warum wurde das Dokument entwendet? Warum verfolgt jeder jeden und warum zur Hölle nehmen gerade Agenten des bulgarischen Geheimdienstes, die mit ihren giftspritzenden Regenschirmen und Schnauzbärten Schulze und Schultze aus Tim & Struppi nachempfunden sind, eine tragende Rolle ein? Barthes trug die „siebte Sprachfunktion“ bei sich, erdacht vom russischen Linguisten und Semiotiker Roman Ossipowitsch Jakobson: der Schlüssel zur Macht über die Welt. Natürlich taucht auch Jakobson im Buch auf, aber das dürfte eh schon klar gewesen sein.
Wer die „siebte Funktion“ kennt, versteht und anwenden kann, gewinnt jedes Rededuell, kann jeder noch so großen Menschenmenge überzeugend einpeitschen, ist der Herrscher. Klare Verhältnisse schaffen, ganz ohne Waffen. Die „siebte Funktion“ gilt als Legende, als nicht existent, und doch jagen alle Beteiligten ihr hinterher. Die Politiker, die Philosophen, die Geheimdienste, der Kommissar und sein zwangsverpflichteter Assistent Simon Herzog, aber auch diejenigen, mit denen die Vorzeigeintellektuellen ihre Zeit verbringen. Es beginnt eine Jagd durch den Pariser Untergrund, durch die schwule Saunaszene, durch wilde und orgiastische Partys bis in das Private aller Beteiligten. Randvoll mit monologischen Ausschweifungen der protagonistischen Philosophen, subtilen Querverweisen, einem nicht enden wollenden verbalen Augenauskratzen, blanker körperlicher Gewalt und akribischen Beschreibungen sexueller Abhängigkeiten und Vergnügungen: reader discretion advised.
Abgerichtete Killer-Hunde gehen der französischen Popstar-Philosophie sprichwörtlich an die Gurgel.
Je weiter sich die Geschichte entspinnt, desto mehr verschwimmt dabei die Rolle von Binet als Erzähler. Vielleicht braucht das poststrukturalistische Hardboiled-Experiment keine klare Rollenverteilung und ebensowenig ein formgebendes Sicherheitsnetz. Binets Rückzug befeuert nur die generelle Hysterie. Und die tut der Geschichte gut. Vor allem dann, wenn sich langsam die persönlichen Motivationen der Beteiligten klären, sich das Spinnennetz der gegenseitigen Abhängigkeiten einerseits und der Leichen im Keller andererseits immer weiter verdichten, abgerichtete Killer-Hunde der französischen Popstar-Philosophie an die sprichwörtliche Gurgel gehen, die Bombenexplosion am Hauptbahnhof in Bologna das Ruder rumreißt und in einem hoch exklusiven Debattierclub das Abschneiden von Fingern schon schnell keinen thrill mehr bringt.
Am Ende kommt alles anders als gedacht. Was die Geschichte angeht. Mitterand wurde 1981 Präsident. Wie, das wissen nur der Kommissar und sein intellektueller Assistent, dem seine Rolle als Polizist immer mehr Spaß macht. Und dessen Geschichte ganz zum Schluss des Romans eine dann doch mehr als unerwartete Wendung nimmt.
Binets „Die siebte Sprachfunktion“ ist eine Satire, die realer nicht sein könnte. Könnte man zumindest glauben. Wer sich im Werk der auftauchenden Philosophen auskennt und sich mit ihrer Vita beschäftigt hat, fühlt sich vielleicht bestätigt, ist vielleicht irritiert, hoffentlich angeekelt. Das würde bedeuten, dass Binets Strategie aufgegangen ist. Wem der Poststrukturalismus bis dato egal war, findet eine Tür. Auch dann hat Binet alles richtig gemacht. Am Ende rauchen eh alle nur und ziehen Koks. Immerhin sind wir in Paris und es ist 1980.