Per Anhalter durch den BalkanGeschichten vom Beifahrersitz, Teil 2: Südserbien und Nordmazedonien

strassenrand

Die Europawahl im vergangenen Jahr und der Brexit haben Europa zu einem der wichtigsten Gegenstände der medialen Debatte des letzten Jahres gemacht. Plötzlich trug man Europapullis, forderte in Sozialen Medien kollektiv zum Wählen auf und sprach über die Notwendigkeit des Zusammenhalts, die fortschrittliche Kultur, die Wichtigkeit der Union. Ein großer Teil des Kontinents blieb in diesem europäischen Narrativ jedoch außen vor: Der Osten und Südosten scheinen nicht in unser Bild europäisch-westlicher Einheitskultur zu passen und bleiben dadurch häufig unerwähnt.

Auf ihren ersten großen Reisen nach dem Schulabschluss zog es unsere Autorin Livia Lergenmüller stets in die Ferne. So weit hinaus wie möglich, um maximalen Kulturaustausch zu erreichen, lautete das Mantra. Denn Europa glaubte sie bereits bestens zu kennen. Dementsprechend fasziniert blieb sie zurück, als sie im Sommer 2019 für einen Monat durch den Balkan trampte – und mitten in Europa eine ihr ganz neue Kultur mit vollkommen eigenständiger Historie entdeckte. Auf zahlreichen Autofahrten durch die serbischen Wälder und bosnischen Berge durfte unsere Autorin eine Menge lernen. Dass der Islam zweifellos zu Europa gehört zum Beispiel. Und dass unser eurozentrischer Blick vor Allem ein west-eurozentrischer ist, der auch Teile des eigenen Kontinents nicht mit sieht.

Gespräche vom Beifahrersitz: Teil 2 von 4 – Südserbien und Nordmazedonien
In Niš erzählt eine Biker-Gang unserer Autorin, warum sie nur noch Online-Blogs lesen und ein Pärchen nimmt sie mit auf eine achtstündige Fahrt zum einzigen Urlaubsziel des Jahres: den Ohrid-See in Nordmazedonien. Hier schmücken Minarette und Kirchen gemeinsam die Landschaft.

Niš

Eine Woche lang stehen wir nun bereits an den Straßenrändern Serbiens, von der Hitze des Hochsommers elektrisiert, mit stets ausgestrecktem Daumen. Niš erreichen wir am späten Nachmittag. Unseren Host Mladen haben wir erst über Couchsurfing gefunden, nun inmitten der Innenstadt beim Pizzaessen. Wir hätten lange gebraucht, wundert er sich. Er trampe diese Strecke immer in unter drei Stunden. Mit am Tisch sitzt sein Cousin Nico aus München. Im Krieg wanderten seine Eltern nach Deutschland aus, wo er geboren wurde und aufwuchs. Vor einigen Monaten entschloss er sich zu einem Umzug nach Serbien. Er will sich hier ein Stück Land kaufen, eine Kommune gründen. Wir können nur eine Nacht bleiben, morgen wollen die beiden selbst nach Berlin trampen und von dort aus auf ein polnisches Festival weiterfahren.

Mladen wohnt in einer alten Militärkaserne. Orange-braune Sechzigerjahre-Bauten, drei identische Gebäude nebeneinander, hoch über die sonst recht flache Architektur der Stadt hinausragend. Sein Großvater war Soldat, die Wohnung ist bis heute im Besitz der Familie. Er überlässt uns sein Zimmer, dann wird schnell der obligatorische Rakija aus der Kammer geholt. Vom Freund gebrannt, der stärkste, der bisher auf meinen Lippen gebrannt hat. Ich bekomme ihn kaum herunter, doch viel Zeit bleibt dafür auch nicht – Mladen will los, das Treffen mit seiner Biker-Gang steht an.

Eine halbe Stunde später sitzen wir, Schulter an Schulter mit ledernen Motorradfahrern in einem zur improvisatorischen Bar umfunktionierten Garten eines Reihenhauses und trinken špricer. Eine serbische Spezialität, erklärt man uns, zu deutsch: Weinschorle. Die Biker erfüllen akribisch genau ihre Klischees, Ledermontur mit Jeans-Aufnähern, gepierct, tätowiert und vernarbt, allesamt breit gebaut. Es braucht ein paar špricer, um die Gespräche ins Rollen zu bringen. Einmal in Fahrt, kommt man recht schnell auf die Rolle der Medien in Serbien.„Die sind hier alle von der Regierung kontrolliert“, erzählt das Gang-Oberhaupt und alle anderen nicken zustimmend. „Denen kannst du nicht vertrauen“, erklärt ein anderer der Gruppe, serbischer Marine-Offizier. „Wenn du unabhängige Informationen willst, musst du dir was anderes suchen. Ich lese nur noch Blogs.“ Wieder Zustimmung. Der Regierung gehöre hier mittlerweile alles, berichten sie, die Medien seien voll von Propaganda, im eigenen Sinne.

Mich erstaunt die Ruhe, die rationale Gelassenheit, mit der die Männer davon erzählen. Sie scheinen sich mit der eingeschränkten Pressefreiheit arrangiert zu haben, regen sich nicht mehr auf, versuchen nicht dagegen anzugehen. Viel mehr scheinen sie ihr Verhalten angepasst zu haben. „Immerhin ist die Berichterstattung nicht nationalistisch“, fügt das Oberhaupt hinzu, „das muss man ihnen lassen.“ Es beginnt zu regnen, wir rutschen enger zusammen unter dem weißen Sonnenschirm. Jemand packt gesalzene Erdnüsse auf den Tisch. Es wird richtig gemütlich.

Autofahrt

Nordmazedonien

Am nächsten Tag geht es für die beiden Cousins nach Berlin, für uns weiter in den Süden. An einer Autobahnauffahrt treffen wir ein serbisches Pärchen auf dem Weg in den Urlaub. Sie wollen an den Ohrid-See, ein gigantischer, dazu uralter See, platziert inmitten des nordmazedonisch-albanischen Grenzgebiets. Begeistert schließen wir uns an. Das Auto ist klein, die Klimaanlage sowie die hinteren Fenster sind kaputt, die beiden dafür bester Laune. Mit heruntergefahrenem Fenster, die Füße auf dem Amaturenbrett abgelegt, raucht Sojka, etwa 40 Jahre alt, weißes Basecap, eine Zigarette nach der anderem. Aus der Autoanlage schallt fröhlich-pathetische, serbische Musik. Sojka hat gerade ihr Arbeitsvisum für Deutschland erhalten. Ein halbes Jahr lang will sie nahe Ingolstadt als Altenpflegerin arbeiten. Ihr Mann darf nicht mit. Mühsam versucht sie, die paar deutschen Worte, die sie kennt, zu einem Satz zusammenzusetzen, so richtig klappen mag es noch nicht. „Deutschland mehr Geld.“ Verstehen wir. Denn davon haben sie nicht viel, erzählen sie auf Englisch weiter. Deshalb geht es einmal im Jahr nach Nordmazedonien, andere Urlaube können sie sich nicht leisten. Stören tut sie das nicht.

wald

Am frühen Abend, in beginnendem Sonnenuntergang, rauschen wir entlang der Straße an Skopje vorbei, die erste Ortschaft, die wir hier zu Gesicht bekommen. Imposante Minarette erheben sich über die Stadt, strecken sich hoch hinaus in den rosafarbenen Horizont. Von einer Straßenerhöhung erhaschen wir einen Blick auf die Straßen der Hauptstadt. Zuletzt fiel Skopje vor allem durch ein Bauvorhaben auf – Skopje2014, Ivan hatte uns davon erzählt. Es handelt sich um ein Prestigeprojekt der nationalkonservativen Regierung, bei dem zahlreiche (der Kritik nach wohl sehr kitschige) Denkmäler und Museen aus dem Nichts errichtet und überall in der Stadt verteilt wurden. Bauten, die dem Land zu neuem Selbstbewusstsein und einem verstärkten Nationalgefühl verhelfen sollen. Viel erkennen können wir davon nicht. Wir fahren weiter, hinein in die Dunkelheit der Berge und lassen Skopjes Dämmerungs-Panorama hinter uns.

Ohrid-See

Der Weg zum Ohrid-See führt uns durch bergige Landschaft. Scheinbar endlose Serpentinen fordern unsere Mägen mutig heraus. Acht Stunden und eine großzügige Essenseinladung bei Freunden des Paares später, erreichen wir den See. Bereits im Stockdüsteren finden wir einen alten verlassenen Campingplatz, auf dem wir uns niederlassen. Früher einmal war das der populärste Campingplatz am ganzen See, erzählt uns eine ältere Dame, die uns am nächsten Morgen den Zugang zu Trinkwasser zeigt. Doch seit sich vor zwei Jahren die Investor*innen zurückgezogen haben, verwildert er langsam und wird als kostenlose Urlaubsniederlassung genutzt, erklärt sie in nahezu perfektem Englisch. Die meisten Menschen, die wir hier treffen, kommen aus Nordmazedonien selbst, oftmals aus Skopje. „Wer in Skopje wohnt, kommt im Sommer hier her“, erklärt sie weiter. Wir treffen einige Serb*innen, sogar eine Gruppe Jugendlicher aus der Türkei haben ihren Weg zum Campen hergefunden. Während in bestimmten Städten um den Ohrid-See Pauschalreisen angeboten und Luxushotels gebaut werden, gibt es entlang des Ufers, abseits der Ortschaften, zahlreiche unbebaute Strecken, die eine günstige Alternative zum Strandurlaub am Meer bieten. Wie es für uns weitergehe, will die Dame mit dem Wasser wissen und rümpft kurz darauf ihre Nase. „Albanien“, antwortet sie verächtlich. „Was wollt ihr da? Das ist kein gutes Land.“

Es soll nicht das einzige Gespräch dieser Art bleiben. Viele Menschen hier scheinen große Abscheu gegenüber Albanien zu haben. Und das, obwohl Albaner*innen die größte ethnische Minderheit in Nordmazedonien bilden. In einigen Kommunen des Landes stellen sie sogar die Mehrheit. Am Abend treffen wir Zahir, der ebenfalls sein Zelt hier aufgeschlagen hat. Er ist im Kosovo geboren, im Vergleich dazu sei das Leben hier in Mazedonien in Ordnung, sagt er. „Die Menschen hier sind solide, aber die Arbeitsmentalität“ – er lacht kurz auf – „na ja, die Balkanmentalität eben.“ Es fehle ein bisschen an Ernsthaftigkeit und Zuverlässigkeit, auch in größeren Firmen. Das mache die eigene Arbeit oft schwer, erklärt er. „Worin die Mazedonier richtig gut sind ist das Feiern!“, fügt er dann hinzu. „Die Menschen leben fürs Wochenende, Zeit für Partys und Drinks ist immer,“ erzählt er lächelnd.

ohridsee

Der Ohrid-See.

Wieder fällt mir die Haltung der Stagnation auf. Zahir scheint um die Vorzüge und Schwächen seiner Heimat zu wissen und hat sich mit den Gegebenheiten arrangiert. „Was soll ich sagen,“ fährt er fort, „ich habe keine starke Haltung zur Regierung hier. Wie fast überall auf dem Balkan ist auch unsere korrupt. Das bin ich gewohnt, es beeinflusst mich nicht in meinem Leben.“ Als wir ihn auf die Beziehung zwischen Albanien und Nordmazedonien ansprechen, winkt er ab. In der Geschichte zwischen Albanien und der Region Mazedonien sei bereits so viel Blut geflossen, meint er. Wenn die Wirtschaft schlecht und das Leben hart ist, suche man eben Verantwortliche. Und das sei auf beiden Seiten der Fall.

Nordmazedonien, das zweitärmste Land des ehemaligen Jugoslawiens, hat uns in einem Gefühl der Gemächlichkeit weitergetragen, der akzeptierten Hilflosigkeit. Das Leben der Menschen, die wir getroffen haben, beschreibt ein Arrangement mit den Umständen. Man ist kein Big Player und bemüht sich auch nicht darum. Stattdessen genießt man einfach sein Leben, so gut es eben geht. Einige Tage später brechen wir auf, in Richtung des einzigen Landes auf unserer Route, das nicht zu Jugoslawien gehörte.

Nächstes Mal: Albanien Unsere Autorin entdeckt den Massentourismus des Balkans und lernt Menschen lediglich flüchtig kennen, denn niemand scheint länger als einen Tag frei zu bekommen. Sie trifft Leute, die ihr Land nicht kennen und dies in drei Tagen nachholen wollen. Und Jugendliche, deren Freunde fast alle in Deutschland sind.

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