Covid-KinoFestivalbericht: So war die Viennale 2020

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Été 85 von François Ozon (Frankreich 2020). Alle Fotos © Viennale

Covid, Kino und Käsekrainer. Sulgi Lie kämpfte auf der diesjährigen Viennale nicht nur gegen die Müdigkeit an, sondern auch gegen die eigene Transformation zur Ich-Maschine.

„Wien in Not, bin so in Not“ singt der legendäre Falco 1985 in seinem Hit „Vienna Calling“ – ein Refrain, der nicht schlecht zum Notstand passt, der auch dem harmlosen Filmegucken auf einem Festival einiges abnötigt. Am Terror-Tatort am Wiener Schwedenplatz habe ich ein paar Tage vor dem Anschlag noch eine Pommes bei McDonalds gegessen, liegt der Platz doch auf dem Weg zum Urania Kino, das seit jeher eine der Hauptspielstätten der Viennale ist. Nachträglich legte sich so nochmal Unbehagen über ein Filmfestival, das wie wohl alle anderen Festivals unter Corona-Bedingungen kaum Festivalstimmung aufkommen ließ, weil es eben nichts zu feiern gibt – keine Empfänge, keine Partys, keine Zusammenkünfte. Ich erinnere mich noch an die Viennale von 2008, in der es in der Urania-Bar im obersten Stock eine rauschende Party gab. Anwesend waren neben Das-Filter-Redakteur Tim Schenkl auch der argentinische Regisseur Lisandro Alonso, dessen Film La Libertad (2001) ich meine erste World-Cinema-Offenbarung verdanke, und der mittlerweile verstorbene ehemalige Festivaldirektor Hans Hurch. Beide gaben einige ekstatische Tanzeinlagen zum Besten. Das war im besten Sinne des Wortes ein „ansteckender“ Abend, bei dem die Freude am Kino von der Leinwand zur Party übersprang. Zwölf Jahre später gilt nun die Maxime, sich ja nicht im Kinosaal anzustecken, deshalb gibt es Sitzabstände, Maskenpflicht und angeleitetes Verlassen des Kinos. Imaginär anstecken lassen soll man sich nur durch die virensicher projizierten Filme selbst und nicht durch den potenziell infektiösen Körper des Sitznachbarn. Tatsächlich habe ich mir auf der nasskalten Februar-Berlinale mit schlappem Immunsystem und virenschleudernden Journalisten zigmal Grippen oder Erkältungen eingefangen.

Nun gibt es ja durchaus auch einige andere Vorteile, wenn einem der Andere neben einem nicht so auf die Pelle rückt: Man hat links und rechts mehr Platz, um sich breitzumachen und falls der Nachbar morgens vergessen hat, sich zu duschen, zieht das Gemüffel mit Abstand an der maskengeschützen Nase vorbei. Auch der soziale Stress, der auf Festivals dadurch entsteht, vor oder nach dem Kino halbbekannten Gesichtern in den Weg zu laufen und zu verkniffenen Konversation gezwungen zu werden, entfällt, da man das vermummte Antlitz sowieso nicht erkennt. Und auch wenn es zum Gespräch kommt, dämpft die Maske die Verständlichkeit der artikulierten Worte manchmal soweit herunter, dass ich von der Unterhaltung nur ein paar Fetzen verstehe oder oftmals auch gar nix mehr checke, was der Andere da gerade vor sich hingemurmelt hat: Mutedown.

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Voices in the Wind von Nobuhiro Suwa (Japan 2020)

Der Rückzug in den Schlaf

Trotz dieser Distanzierungsvorteile sehne ich mich nach einer Woche im Vereinzelungsmodus nach der Naherfahrung mit all den Neben-, Vorne- und Hintensitzern zurück, ohne die sich halt so kein rechtes Kinokollektiv bilden mag. Nicht mal neben meinem Freund und Kollegen Matthias Wittmann kann ich bei gemeinsamen Vorführungen sitzen, weil das Online-Booking für Akkreditierte nur Reservierung für Einzelplätze erlaubt. So banal es ist: Kino ist Massenkultur und Massenkunst in Produktion, Distribution und Rezeption, bei der die Präsenz der Vielen einfach dazugehört, auch wenn diese lärmen, schnarchen oder stinken. Roland Barthes hat einmal in einem wunderbaren Text über das „Verlassen des Kinos“ beschrieben, wie sich die dunkle Anonymität der Masse und die Vereinzelung des Körpers im Kino nicht ausschließen, sondern bedingen: Ich gehe ins Kino, um mich inmitten der Masse allein zu fühlen und so eine paradoxe Art einer öffentlichen Einsamkeit zu genießen. Das Corona-Kino erzwingt das genaue Gegenteil: Ich gehe als Einzelner oder höchstes als Pärchen ins Kino, um Teil einer numerisch regulierten und normierten Menge zu werden, in der jede unvorhersehbare Kontamination vermieden werden soll.

Was bleibt, ist der Rückzug in den Schlaf. Ist akkumuliertes Filmegucken auf Festivals sowieso extrem anfällig für Energieabfälle, so wird diese Fatigue durch die Sauerstoffreduktion der Maske noch verstärkt – zumindest glaube ich diesen kinophysiologischen Nebeneffekt nicht nur bei mir zu bemerken, auch Kollege Wittmann stimmt mir hier zu. Vielleicht liegt’s aber auch am zunehmenden Alter, dass einem der frühere Festivaldurchschnitt von vier oder fünf Filmen am Tag schier unmöglich erscheint, den man früher auch mal nach einer verkaterten Urania-Nacht geschafft hat: Nach höchstens drei Filmen bin ich fix und fertig – zwei Filme scheinen mir eine bioenergetisch gesunde Anzahl zu sein, um nicht durch Schlafpausen das filmische Werkganze elliptisch zu durchlöchern: Sleepdown. Es geht mir hier allerdings nicht um Nörgelei und Meckerei an den spaßbremserischen Auflagen und erst recht nicht um eine Kritik an der Viennale. Sondern um die einfache Beobachtung, dass der Sachzwang der virologischen Individualisierung auch im Kino eine ungute gesellschaftliche Tendenz zur Formation einer Ich-Maschine verdoppelt, die sich im Eigenheim oder im SUV vor den infizierten Zombies da draußen abschirmt. Als ich im Kino einmal niesen muss, fühle ich mich sofort der abjekten Aerosolabsonderung schuldig.

Zuhause gibt's Popcorn

Klar, dass unter diesen Verhältnissen die Streaming-Anbieter ein leichtes Spiel haben: Warum noch überhaupt ins Kinos gehen, wenn ich bei Amazon Prime für mehrwertsteuerbefreite 0,97 Euro Filme, die erst vor paar Monaten ihren Kinostart hatten, leihen und auf meinen 75-Zoll-Fernseher streamen kann? Und das ohne Maske, aber mit dem Popcorn, das man während des Festivals nicht ins Kino mitnehmen darf, weil die ausgedehnte Esszeit die Maskenzeit ja bekanntlich reduziert. Aber so einfach ist es natürlich auch nicht, weil die Viennale eben Filme zeigt, die auf Netflix und Amazon nie zu sehen sein werden, weshalb ich auch trotz Reisewarnung dem Ruf nach Wien gefolgt bin. Da ich Corona-bedingt kaum zum Eigentlichen – den gezeigten Filmen – gekommen bin, möchte ich an dieser Stelle unbedingt auf die Viennale-Notizen des bereits erwähnten Matthias Wittmann hinweisen, der alles Notwendige zu den wichtigsten Filmen gesagt hat.

Drei sind mir im Kurzzeitgedächtnis hängengeblieben, angefangen mit François Ozons gut abgehangenem Coming-of-Age-Art-Houser Été 85, dem hier ohne übermäßige Nostalgie so etwas wie ein queeres Update des französischen Teenager-Films der 1980er gelingt – ein schwules La Boum in der Normandie sozusagen, inklusive der obligatorischen Walkman-Szene auf dem Dancefloor. Die popkulturelle Meisterleistung des Films besteht indes darin, dass er ohne jede Hipster-Ironie ausgerechnet die Schnulze aller Schnulzen – Rod Stewarts „Sailing“ – in voller Länge zu neuer Würde erhebt. Steht in Ozons Film die Trauerarbeit über die gescheiterte erste Liebe im Zentrum, so geht es in Nobuhiro Suwas Voices in the Wind um eine kollektive Trauerarbeit am japanischen Fukushima-Trauma. Im Zentrum des Films steht eine 16-jährige Schülerin, die ihre ganze Familie in Fukushima verloren hat. Mit den Mitteln eines Road Movies begleitet der Film mit großer Behutsamkeit das Mädchen durch die erschütterten Orte und Landschaften des Katastrophengebiets. Was leicht in tränenseligen Opferkitsch hätte ausarten können, wird durch Suwas überaus präzise Mise-en-Scène in der Schwebe gehalten, sodass sich geographische Bestandsaufnahme und geisterhaftes Nachleben in den Bildern mischen.

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Attarabi & Mikelats von Eugène Green (Frankreich, Belgien 2020)

Mit Maske ins Baskenland

Zu den exzentrischsten Gestalten des zeitgenössischen Weltkinos gehört zweifellos Eugène Green, der eigentlich Amerikaner ist, aber schon lange in Frankreich lebt und arbeitet. Radikal anachronistisch in seinen ästhetischen Interessen, beschäftigt er sich seit geraumer Zeit mit Kultur und Mythologie des Baskenlandes, so auch in seinem neusten Film Attarabi & Mikelats. Als Halbgötter werden die beiden Brüder von ihrer Mutter als Kinder dem Teufel anvertraut, doch während der eine dem Leibhaftigen seine Treue wahrt, zieht der andere die göttliche Erleuchtung vor. Die schräge Theologie dieses Films zielt auf eine Versöhnung von Monotheismus und Pantheismus, soweit ich das als religiös ungeschulter Zuschauer beurteilen kann. Greens Filme sind sowohl thematisch als auch formal eigenwillig: Neben Robert Bresson und dem frühen Manoel de Oliveira kann er als Erfinder eines idiosynkratischen Schuss-Gegenschuss-Systems gelten, in der die Figuren frontal in die Kamera schauen, ohne dabei die Fiktionalität aufzubrechen. Und extrem witzig sind seine Filme auch. Von dem Filmfestival in San Sebastian wurde berichtet, dass Green sich auch nach mehrfacher Aufforderung weigerte, eine Maske aufzusetzen und schließlich des Festivals verwiesen wurde. In Wien allerdings kommt er brav mit Maske in den Kinosaal, um ein so freundliches wie intellektuell anregendes Q&A abzuhalten. Spätestens in diesem Moment bin ich wieder ganz mit der Viennale versöhnt.

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Lambchop, Alice Hasters, Mort GarsonWochenend-Walkman – 13. November 2020