Videopremiere: Sven Helbig – AbendglühenChor, Elektronik und ganz viel Zeitlupe in der spätsommerlichen Hitze
26.8.2016 • Sounds – Text: Thaddeus Herrmann„I Eat The Sun And Drink The Rain“ heißt das neue Album des Dresdener Komponisten Sven Helbig. Sein Ansatz ist so interessant wie grenzwertig oder zumindest grenzgängerisch: Er unterfüttert seine Chorwerke mit Elektronik. Nichts für Puristen.
Was macht eigentlich die Neoklassik? Gibt es diesen Begriff noch? Hat er immer noch so einen schlechten Ruf wie damals, als Max Richter, Nils Frahm, Ludovico Einaudi, Francesco Tristano und Jóhann Jóhannsson sich in die traurigen Herzen spielten? Die Zeit, in der das Knispeln und Knurschpeln im Adagio Einzug hielt? War nicht aufzuhalten, ist lange her und letztendlich auch eine gute Sache ist. Labeln wie der Deutschen Grammophon hat die Begrifflichkeit den Überalterungsarsch gerettet, mittlerweile gehört die Vermischung von Klassik und Elektronik irgendwie dazu. Viele gute Platten sind so entstanden und die Begrifflichkeit der Neoklassik hat das Kollektiv des Hier und Jetzt auch wieder vergessen.
Sven Helbig ist jemand, den man nicht zwingend auf dem Zettel hat, wenn man eine Shortlist der Komponisten erstellen würde, die ihre musikalischen Zehen bislang in dieses Wasser gehalten haben. Dabei hat auch er schon auf der Deutschen Grammophon veröffentlicht: „Pocket Symphonies“ erschien dort 2013. Er ist auch Mitbegründer der „Dresdner Sinfoniker“, dem ersten europäischen Orchester für ausschließlich zeitgenössische Musik. Jetzt erscheint sein neues Album. Und das ist ganz schön gut. Irgendwie.
Zumindest dann, wenn man etwas für Chormusik übrig hat. Nichts übermäßig Schräges, eher die soliden Gassenhauer von Arvo Pärt oder das klar definierte Understatement eines Paul Hillier mit seinem Hilliard Ensemble. Nichts Wildes, viel Wohlklang, sehr stringent, unbedingt schön, praktisch nie ausufernd oder irritierend. Klassisch eben, nur zeitgenössisch. So als wenn der Chor der „Academy Of St. Martin In The Fields“ eine brave Platte für Warp machen würde (kann das mal jemand anregen? Danke!). Die Art von Chormusik also, für die viele Menschen etwas übrig haben. Aus gutem Grund: Musik kann heilen. Und Helbig ist genau da dran. Nicht nur die Musik hat er selbst komponiert, sondern auch die Texte, die vom Vocalconsort Berlin eingesungen wurden. Ein noch ziemlich neuer Chor aus Berlin, 2003 gegründet, spezialisiert auf (Früh-)Barock, Freunde von Sasha Waltz: So funktioniert die Hauptstadt eben, man kennt sich. Als Dirigent wirkte der Estländer Kristjan Järvi. Über die Texte wollen wir an dieser Stelle lieber kein Wort verlieren. Sie gehen unter im wohlwollenden Wohlklang. Vielleicht ist das gut so, wichtig bei Chormusik ist doch eh die vokale „Wall Of Sound“.
Der Helbig ein wenig Elektronik hinzufügt. Das wäre gar nicht nötig gewesen, stört aber auch nicht weiter, ist sehr harmlos. Denn nimmt man sich die Zeit und lässt sich auf „I Eat The Sun And Drink The Rain“ ein, fällt auf, dass es Helbig gelingt, trotz aller kompositorischen Referenzen eine eigene Sprache zu finden. Wie genau das vonstatten geht, ist schwer in Worte zu fassen und ich würde mir sowieso nie anmaßen, eine These dazu aufzustellen. Was bleibt, ist eine gute und interessante Platte. Mit einem tollen Video. Das alle nur denkbaren Klischees – Stadt, Dämmerung, Zeitlupe – bedient, aber perfekt auf den wirklich schönen Track passt. Wenn Menschen so an einem vorbeifliegen, will man mit. Und das ist immer gut.