Fragmente einer GroßstadtMasochistische Bequemlichkeit

bequemlichkeit

In Max bin ich schon seit Schulzeiten verliebt … seit der Klassenlektüre von Homo Faber in der Neunten oder Zehnten. Und jetzt wieder. Ganz frisch. Ich meine Max Frisch. Kürzlich las ich endlich "Biografie – ein Spiel" und meine Bewunderung und Liebe war zurück.

Kennt ihr das: Ihr lest ein Buch oder einen Artikel und euch fallen direkt mindestens zwei, drei Menschen ein, die ihr gern dazu zwingen würdet, sich die gleiche Lektüre zu Gemüte zu führen? Weil ihr euch die Person vorstellt und ein Gespräch in Gedanken mit ihr führt: „Lies das, und du wirst erleuchtet sein, kannst wieder klar sehen und weißt ganz genau, was zu tun ist.“ So ging es mir nun wieder, als Max meinen Geist erfrischte. Nur leider ist es nicht immer so einfach. Steckt man selbst in seiner eigenen Biografie fest, ist es so anstrengend, einen klaren Blick zu bewahren.

Da ist das immer wiederkehrende Gespräch mit der immer wiederkehrenden Problematik und der immer wiederkehrenden Schlussfolgerung. Seit Jahren. Und doch scheint ein Handeln unmöglich. Da ist so oft der Satz: „Heute würde ich alles ganz anders machen, wenn ich das nochmal entscheiden könnte.“ – Ja, wirklich? Dann tu es doch jetzt. Zu spät? Warum? Weil du ohnehin schon die Hälfte deines Lebens gelebt hast? Ach so. Weil das Glas schon halb leer ist. Der Wein korkt zwar, aber du bist zu faul, ihn umzutauschen. Es ehrt dich ja, dass du mit den Konsequenzen deiner vor Jahren getroffenen Entscheidung leben willst. Dich deiner Verantwortung stellst. Das Leben ist kein Ponyhof. Vielleicht. Aber wieso zum Henker knechtest du dich Tag für Tag für Tag aufs Neue selbst?

Das ist absolut masochistisch. Und absolut ungesund.

Wir haben, auf der Grundlage der vorhandenen Gegebenheiten, einen gewissen Handlungsspielraum. Manche Dinge können wir nicht beeinflussen. Aber innerhalb dieses Rahmens der Umstände, an denen wir nichts ändern können, ist noch ziemlich viel möglich. Um es uns einfacher zu machen, skalieren wir oft diesen Rahmen viel viel kleiner, als er in Wirklichkeit ist. Das ist ganz praktisch. Denn dann kann dieser klitzekleine Rahmen unsere Ausrede für alles sein. So müssen wir dann täglich nur noch überlegen, was wir anziehen, was wir essen und wann wir ins Bett gehen. Und manchmal lassen wir auch das noch andere machen. Okay, und an dieser Stelle ist es Zeit für den Kalenderspruchgedanken: Carpe diem. Was ist, wenn du morgen erfährst, dass du nur noch zwei Jahre zu leben hast? Oder in einer Woche vom LKW überfahren wirst? Dann kannst du wenigstens sagen: „Könnte ich mein Leben noch einmal leben, würde ich vieles anders machen.“

Schön einfach.

Es ist vielleicht nicht ganz easy und auch nicht angenehm, zu reflektieren und Dinge zu tun, mit denen man anderen wehtun könnte und das eigene Leben neu ordnen müsste. Aber erstens hast du nur ein Leben, das dir gehört. Und zweitens: Ist es nicht moralisch gesehen sogar deine Pflicht, die eigene Feigheit und Entscheidungsunfähigkeit zu überwinden, damit deine Mitmenschen nicht irgendwann, viel zu spät, merken, dass dein Wunsch eigentlich ein ganz anderer war? Dann stehen sie nämlich da und sagen: „Könnte ich mein Leben noch einmal leben, würde ich alles ganz anders machen.“

Ich wünsche mir so sehr für dich, dass du Verantwortung für dein Glück übernimmst und mir beim nächsten Gespräch davon erzählen wirst. Mögen alle Menschen, mit denen ich gerade in Gedanken gesprochen habe, das bemerkt haben. Und Max Frisch lesen.

Kristina Wedel ist freie Illustratorin und lebt in Berlin-Neukölln. Wo andere ihre Smartphones mit nie wieder angesehenen Fotos füllen, hält sie ihren Stift – vorzugsweise einen einfachen, schwarzen Muji-Pen – bereit und zeichnet jene Eigenarten des urbanen Alltags, die sich nicht so leicht ablichten lassen. Für Das Filter erzählt sie jeden zweiten Mittwoch die Geschichten hinter ihren Bildern.

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