Wie digitale Netzwerke analoges Leben formen – und was das Problem istMedienwissenschaftlerin Wendy Chun im Interview
2.2.2018 • Kultur – Text & Interview: Julia KauschWährend man in Redaktionen nach inhatlichen Antworten gegen Fake News und nach Wegen sucht, um die Filterblasen der sozialen Netzwerke zum Platzen zu bringen, nähert sich Wendy Chun dieser Probleme aus Richtung Netzwerk und Algorithmus. Autorin Julia Kausch hat die international gefragte Forscherin in Berlin getroffen und mit ihr über das problematische Design der Algorithmen, das Phantomvibrieren in der Hosentasche und mögliche Ausgänge aus der datengetriebenen Echokammer gesprochen.
Das Internet suggeriert maximale Freiheit, doch längst bewegen wir uns auf den etablierten und ausgetretenen Pfaden, die Branchenriesen uns zur Verfügung stellen. Unsere Daten und unser Content sind der Wegzoll, denn wir bereitwillig dafür abtreten. Mittels diesem user-generated content und daraus generierten Datenprofilen, haben sich die Herrscher des „GAFA-Imperiums“ aus Google, Apple, Facebook und Amazon, ihren ganz eigenen Internetolymp geschaffen, der jetzt und doch längst auch die Netzneutralität in Frage stellt. Ihre Algorithmen fördern Fake News und erzeugen Filter Bubbles, die den derzeitigen Zenit der Internetdebatte bilden und längst ein Politikum sind. Man denke an die Spaltung politischer Lager in sozialen Netzwerken, die medialen Bedingungen, unter denen Donald Trump Präsident geworden ist oder ganz aktuell: das viel kritisierte Netzdurchsuchungsgesetz (NetzDG) der Bundesregierung.
Die Monopolbildung des „GAFA-Imperiums“, promiskuitive Netzwerke und digitale Medien von Cyberpunks, ‚High-Tech Orientalismus’[1] und Korrelationsmechanismen innerhalb solcher Netzwerke, gehören zu den Themen, mit denen sich Wendy Hui Kyong Chun, Medientheoretikerin der Brown Universität, befasst. In Anbetracht des Ist-Zustands geht es derzeit vor allem um die Frage: Kann das Internet als Raum für Gemeinsamkeiten und Zusammenhalt umstrukturiert werden, indem die Algorithmen, die die derzeitige gesellschaftliche Spaltung fördern, entsprechend umgeschrieben werden? Durch ihr Studium in System Design Engineering und Englischer Literatur an der amerikanischen Princeton Universität, hat sich Chun eine Forschungsnische in der medienkulturwissenschaftlichen Betrachtung von Technik und ihrem programmatischen Austausch geschaffen, die wegweisend im Diskurs um digitale Medien ist.
Gerade ist Chun für eine Konferenz angereist und kommt, Sturm und Flugverspätung sei Dank, etwas gehetzt im kleinen Café in der Berliner City West an, in dem wir verabredet sind. Der Flug über den Teich war in jüngerer Vergangenheit keine Seltenheit: Im vergangenen Jahr forschte die gebürtige Kanadierin beim Fellowship-Programm der American Academy in Berlin-Wannsee und war auch sonst viel in Deutschland vertreten. Angeregt vom Anfang 2017 gerade eingeschworenen US-Präsidenten Donald Trump, hielt sie gemeinsam mit Richard Grusin eine Keynote Speech zum Thema Immediate and Habitual beim Transmediale Festival, stand zur Affekt-Theorie am Rednerpult und klärte gemeinsam mit Hito Steyerl über diskriminierende Datensammlungen auf.
Wer sich in die theoretische Welt von Chun begibt, erfährt schnell Konkretisierung. Ein Phänomen, das sie in ihrem aktuellen Buch Updating to Remain the Same. Habitual New Media untersucht, ist das sogenannte „phantom vibration“, das imaginierte Vibrieren des Telefons in der Tasche, Volkskrankheit der allzeit-online-Generation. Für Chun ist das Phänomen mit Phantomschmerz vergleichbar. „Das Phantomvibrieren ist ein merkwürdiges Phänomen. Es impliziert, dass ein Körperteil amputiert wurde und das Smartphone seinen Platz einnimmt. [...] Die Vorstellung ist deshalb interessant, da die Idee einer Prothese in diesem Fall nicht gebraucht, kein Körperteil ersetzt, aber das Prothetische dennoch Teil des Körpers wird“, erklärt Wendy Chun. Vielmehr als um ein Ersetzen, handelt es sich also um eine Erweiterung, deren Tragweite durch die schiere Masse an Seiten, Inhalten und Daten, die vermeintlich unsichtbar durch die Welt schweben, nur schwer begreiflich ist. Was hier kompliziert klingt, wird einleuchtender, wenn man die Annahmen von Marshall McLuhan zugrunde legt. Er beschrieb bereits Anfang der 1960er Jahre, dass alle Werkzeuge des Menschen als prothetische Körpererweiterungen betrachtet werden können. Egal war für McLuhan dabei, ob es sich um ein Rad, ein Massenmedium oder (das konnte er natürlich noch nicht wissen) ein Smartphone handelte. Heute avanciert das Phantomvibrieren zum Tatbestand einer immer verbunden sein wollenden Generation, die schmerzlich und oft mehrfach täglich feststellen muss, dass Connectivity doch nur ein Trugschluss ist. „Das Phantomvibrieren indiziert, immer verbunden zu sein, auch wenn das gerade nicht der Fall ist. Es veranschaulicht, wie bestimmte Technologien uns als mangelhaft postulieren: erst durch sie fühlen wir uns verbunden“, setzt Chun nach.
##Birds of a Feather
Verbindung kann heute vieles bedeuten: SMS, Anrufe, vor allem jedoch internetbasierte Dienste wie WhatsApp, Instagram, Twitter und Facebook. Das vielpostulierte Schlagwort lautet Big Data, das so hochtrabend wie nichtssagend daherkommt. Es geht dabei insbesondere, um das Sammeln und Auswerten der generierten Daten, für die Erstellung aussagekräftiger Datenprofile und Verhaltensvorhersagen – das Ergebnis bezeichnet Wendy Chun als „bastard child of psychoanalysis“: „Dabei geht es nicht nur um Manipulation, denn NutzerInnen sind immer auch ‚agents‘. Das heißt, sie sind aktive TeilnehmerInnen. Jedoch sind die Bedingungen, unter denen als ‚agent‘ gehandelt wird, entscheidend. In sozialen Netzwerken werden Daten genutzt, um digitale Nachbarschaften zu erstellen, welche dann dabei helfen, gezielt Werbeanzeigen einzusetzen.“ Die Konstruktion dieser Nachbarschaften obliegt problematischen Mechanismen. Immer wieder wies Chun in diesem Jahr auf das den meisten sozialen Netzwerken zugrundeliegende Konzept der Homophilie hin, das maßgeblich zur Segregationspraktik in den Vereinigten Staaten beitrug. Paul Lazarsfeld und Robert Merton führten den Begriff Mitte der 1950er Jahre als scheinbar naturalistisches Abgrenzungskonzept der Fauna wieder ein, mit dessen Hilfe die Segregation von Schwarzen und Weißen in US-amerikanischen Städten geschürt wurde – vermeintlich biologisch fundiert und einem Ähnlichkeitsschema folgend. „Das Konzept der Homophilie lässt sich auf alle Netzwerke übertragen. Als Verbindungsstück dient die Gleichartigkeit. Wenn zwei Dinge ähnlich sind, ist die Wahrscheinlichkeit, dass hier eine Beziehung besteht, höher – so zumindest die Annahme. Netzwerke werden also vorrangig beruhend auf heftigen Vorlieben und Abneigungen gruppiert.“ Ob sich gleich und gleich wirklich gern gesellt oder die Gemeinsamkeit tatsächlich nur Produkt der eigenen Filter Bubble ist, ließe sich mit einer einfachen Anpassung der genutzten Algorithmen nachweisen: „Meiner Meinung nach wäre eine andere Variante der Gruppierung die der Indifferenz. Momentan werden digitale Nachbarschaften vor allem mittels sogenannter Intensitäts-Outliner und Triggerthemen sortiert. Diese bezeichnen Dinge, die den NutzerInnen sehr am Herzen liegen.“ Problematisch sei dies vor allem deshalb, da diese Art der Gruppierung Handlungs- und Verhaltensweisen vorhersehbar und somit manipulierbar mache: „Sie sehen den Trigger und handeln geradlinig. Anstelle von Triggerthemen könnte jedoch auch etwas ausgewählt werden, was den Menschen mehr oder weniger egal ist – zum Beispiel Grüner Tee. So ließen sich Gruppierungen um eine ‚mutual indifference’ bilden.“ Aus sozialen Netzwerken entstehende Problematiken, wie etwa Filter Bubbles, Echokammern oder sogar die Verbreitung von Fake News, ließen sich so eindämmen – ja möglicherweise könnte man sogar den bisherige kulturelle Habitus im Kosmos digitaler Netzwerke neuschreiben. Zugegeben: Wir haben die derzeitigen Mechanismen der Netzwerke so verinnerlicht, dass eine algorithmische Gruppierung durch Ungleichheiten und Zufälligkeiten schwer vorstellbar erscheint. Doch genau darum ginge es: Heterophilie statt Homophilie.
Die Relationen von Menschen zueinander und mit der Welt um sie herum, generieren den Datenpool, aus dem Trends und Vorhersagen geschöpft werden. Korrelation ist die Basis dafür und genau hier ließe sich laut Wendy Chun ansetzen: „Korrelation kann vieles bedeuten. Etwas steht in Ko-Relation zueinander, ohne eine Ähnlichkeit zu implizieren. Interessanterweise beziehen sich Korrelationsalgorithmen meist auf Gemeinsamkeiten, obwohl es natürlich andere Arten gibt, wie Dinge in Verbindung zueinander stehen können. So beispielsweise in der Heterophilie, welche die Korrelation aus der Reduktion auf Ähnlichkeit befreien kann. So ließe sich auch eine Ko-Relation vs. Korrelation herausarbeiten.“ Eine einfache Anpassung, könnte kurz gesagt eine heterophile Netzwerkbildung ermöglichen: Die in der Homophilie klar voneinander getrennten verschiedenen Gruppierungen (seien diese Rechte vs. Linke oder Coldplay vs. Lady Gaga-Fans) würden so in ein Mischverhältnis gebracht – das Bild von schwarz-weiß zum Flimmerkasten oder zumindest in Richtung Schachbrett verschoben.
##Dem Imperium entkommen
Bis Algorithmen jedoch entsprechend angepasst werden, bleiben Zufälle, Uneindeutigkeiten und Unvorhersehbarkeit Stichwörter, die in der Nahrungskette des GAFA-Universums ausgerottet werden sollen. „All diese Seiten verlinken aufeinander, weshalb ein guter Ansatz für die eigene Webseite die Nutzung von Domains ist, die nicht Teil des GAFA-Empires sind.“ Eine Unterordnung in die vorgefertigten Datenschablonen und digitalen Laufpfade ist für NutzerInnen trotzdem nicht zwangsläufig nötig, wie Chun erklärt. Ein spielerisch-performativer Umgang mit digitalen Medien und sozialen Netzwerken, könne das System bereits aufbrechen: „Der einfachste Weg, um aus der eigenen Filter Bubble auszubrechen, ist die Entpersonalisierung. Dafür können unterschiedliche Geburtsdaten und Identitäten auf Webseiten angegeben und das digitale Selbst auf interessante Art und Weise multipliziert werden. Wenn Authentizität immer an literarische oder dramatische Performance gekoppelt ist, kann das Generieren solcher Persona auf sehr dramaturgische Weise geschehen.“ Überwachungs- und Kollektionsmechanismen sind nicht erst seit Edward Snowden bekannt – und doch scheinen Überwachungsdiskurse nur schwer vom Topos des Fiktionalen trennbar.
„Wir denken, dass diese Dinge [soziale Netzwerke, Smartphones und Computer] persönlich sind, aber das sind sie nicht. Würden wir jede Handynutzung als Fernsehübertragung betrachten, ließe sich die Denkweise ändern. Das bedeutet natürlich, dass Privatsphäre verloren ginge und dass eine Sphäre außerhalb dieser öffentlichen Plattform bestehen müsste. Ich denke es ist erschreckend, dass dieses Ding [sie zeigt auf das Smartphone auf dem Tisch] als persönlicher Artefakt wahrgenommen wird, wenn es doch eigentlich so grundlegend öffentlich ist.“
Das nächste Treffen, so beschließen wir, wird bei einer Tasse Grünem Tee stattfinden. Auch wenn, oder gerade weil, mir grüner Tee total egal ist.