Rewind: Klassiker, neu gehörtThe Beatles – The White Album (1968)
1.2.2018 • Sounds – Gespräch: Thaddeus Herrmann, Martin Raabenstein, Fotos: Martin RaabensteinWas folgt auf eine ausgedehnte Meditationszeit in Indien? Natürlich ein Doppelalbum. Die Beatles hatten in den späten 1960er-Jahren ordentlich zu tun: Aus ihrer Musik war längst ein big business geworden, das man in die eigenen Hände genommen hatte. Es wurde gestritten und experimentiert – ein ewiger Kampf der Egos, bei dem mehr kaputt ging, als sich hinterher noch flicken ließ. Zwei Jahre später hieß es nur noch „Let It Be“. Doch hier versammelt die Band 30 Songs, von denen viele in das popkulturelle Unterbewusstsein eingesickert und eine deutlich längere Halbwertzeit aufweisen als die Schrammel-Schlager aus der Pilzkopf-Zeit. Und dann ist da noch Yoko Ono. Alles nicht ganz einfach – oder etwa doch? Raabenstein und Herrmann lassen ihre die Finger über den Prägedruck des weißen Covers gleiten und hören nach.
Martin Raabenstein: Ich würde gerne mit einem Video einsteigen.
Thaddeus Herrmann: OK, was schauen wir?
Martin: Über die Aufnahmen zum Album „The Beatles“ sind viele Geschichten unterwegs. Vor allem die Rolle Yoko Onos bei der Trennung der Fab Four war damals noch, heute vielleicht nicht mehr so sehr, Anlass zum Aufschrei. Betrachtet man in Ruhe den Auftritt von Lennon und Ono bei Dick Cavett ein Jahr nach dem Ausscheiden Lennons, lassen sich einige interessante Details beobachten. Der Erfinder der nach ihm benannten Brille wirkt locker und entspannt, tatkräftig und voller Ideen. Ob Ono das Fass zum Umkippen brachte oder nicht, ist gar nicht so sehr von Belang, vielmehr stellt sich die Frage, was sie dem Mann, der meinte, er sei bekannter als Jesus, zu bieten hatte. Was veranlasst einen Endzwanziger, lieber mit seiner Frau weiterzuziehen, als mit den Buddys im Studio zu werkeln?
„Würdest du bitte mal bitte runtergehen, ich muss lauter machen?“
Thaddeus: Fangen wir doch mal einen Schritt vorher an. Bei den Beatles gab es im Studio seit jeher ein Freundinnen-Verbot. Das war Lennon dann mit Yoko egal, beziehungsweise Yoko ist einfach mitgekommen. Was weiß ich. Das führte zu Irritationen, die in dieser Phase der Band natürlich besonders dramatisch waren, weil sich die Jungs ja eh schon nicht mehr sonderlich verstanden und alle eher ihr eigenes Ding machen wollten. Man liest schlimme Dinge über die Entstehung des „White Album“. Man war gemeinsam meditieren, und John und Paul haben Songs geschrieben. Aber dann sind alle wieder solo abgereist und haben dann in drei Monaten dieses Album zusammengestochert. Sogar Produzent George Martin nahm sich währenddessen eine Auszeit und Ringo stieg kurzfristig ganz aus. Dafür klingt das Album dann doch ganz gut gelaunt.
Martin: Okay. Zwischen dem Jahrhundertalbum „Sgt. Pepper“ und den Aufnahmen zu diesem Doppelalbum liegt gerade mal ein Jahr. „Pepper“ war noch stark vom LSD inspiriert, nach dem Trip zum Meditations-Guru Maharischi haben alle eher zu weicheren Drogen gegriffen – bis auf John. Es kommen in rascher Folge „Magical Mystery Tour“ und „Yellow Submarine“, auf die ich im Detail hier nicht eingehen will. Hinzu kommt noch die Gründung des Apple-Labels und eines eigenen Beatles Shops unter gleichem Namen. Lennon und Ono haben zudem noch der Welt ihre ungeschönten, nackten Körper auf einem gemeinsamen Album präsentiert, zusammen mit einer bis dato unbekannten musikalischen Kakophonie. Dieses Album hier hängt dazwischen.
Beides hinterlässt das irritierte Publikum gelinde gesagt ziemlich ratlos. „Two Virgins“ macht klar: Da sucht einer was anderes. Und hat es offenbar gefunden. Nur, sein Umfeld sieht das nicht so. Als wäre dies nicht genug, beginnen die Aufnahmen für das „White Album“. Was würdest du denn sagen, wenn inmitten all des turbulenten Irrsinns während der Sessions auch noch die Frau deines Kumpels auf deinem Verstärker rumhängt und du andauernd höflich fragen musst: „Würdest du bitte mal bitte runtergehen, ich muss lauter machen?“
Thaddeus: Das wäre weird, da bin ich bei dir. Aber wie spiegelt sich diese Spannung innerhalb der Band denn in der Musik wieder? Ich höre das nicht wirklich. Außer, dass das Album recht zerfahren wirkt und vielleicht ein paar Tracks zu viel drauf sind. Wenn ich mich recht erinnere, hatte ich diese übertriebene Diversivität auch schon bei „Sgt. Pepper“ angemerkt.
Martin: Es gibt viele Kritiker, die meinen, dass der Trip zum Fuß des Himalayas allen vier nordenglischen Buben einen gehörigen spirituellen Kick gab, ihr Ego stärkte.
Thaddeus: Also die unterschiedlichen musikalischen Vorstellungen ausprägte, was dann im Studio zu noch mehr Zunder führte?
Martin: Die vier hatten von ihrem Indientrip weit über 30 Tracks als Songskizzen mitgebracht. Die einzigen Instrumente, die sie dort zur Verfügung hatten, waren Gitarren – das erklärt, warum einige Tracks so pur akustisch aufgenommen wurden. Parallel in mehreren Studios produziert, sind so Paul und John auf „Blackbird“ und „Julia“ allein vor einsamen Mikros zu vernehmen. Eigentlich nicht verwunderlich, dass die Platte so zu einer Melange dreier Soloalben gerät. Harrison hat von dieser angesprochenen Spiritualität am meisten profitiert und schließt erstmals mit wundersam erwachsenem Songwriting zum Lennon-McCartney-Olymp auf. Und um dem Ganzen noch einen oben drauf zu setzen: Bei „While My Guitar Gently Weeps“ spielt Eric Clapton ein Solo. Ein Nicht-Beatle! Undenkbar sowas auf vorherigen Produktionen, heute Standard.
Thaddeus: The Thrill Is Gone. Schon blöd. Trotzdem finden sich hier ja – mal wieder – diverse Prototypen für spätere Genres. The Thrill ist also doch noch nicht so ganz gone, nur eben aufgeteilt auf die Individuen. Das ist den Fans ja letztlich auch egal. À propos: Mir ist die Platte irgendwie auch ziemlich egal – zumindest über weite Strecken. Ich finde da nicht wirklich rein. Was mach’ ich falsch?
Martin: Du starrst zu sehr in die Glühbirne, das ist nicht der Sinn des Lichts. Es geht ja nicht darum, den heiligen Klee über einen Fünfzigjährigen zu zaubern – es stellt sich eher die Frage der Relevanz für das Heute. Das Album ist gerade deshalb spannend, weil es so divers ist und in seiner weit gestreuten, individuellen Präsenz ganz unterschiedliche Welten abbildet. Wenn du etwas wirklich Neues kreieren willst, ist dein erstes Werk sicherlich nicht das beste. Das haben dann die Nachfolger mit Bravour vervollkommnet. Dennoch, diese Zerrissenheit, das kommt mir gerade heute sehr bekannt vor.
Thaddeus: Die Anything-goes-Mentalität aktueller Musik, im Sinne von – ich als Musiker lasse mich nicht festlegen, kann auch nicht eine Platte lang auf einem Style still sitzen, ich muss immer um noch eine weitere Ecke schlurfen – hier vorgemacht, 50 Jahre vorher? So? Das kann ich nachvollziehen. Ist das „White Album“ die definitive Initialzündung dieser Idee für dich?
„Nicht nur Lennon dreht jetzt kräftig an den Verzerrern, die Zeit des McCartney’schen Netter-Schwiegersohn-auf-Trip-Sound ist passé.“
Martin: Die Beatles haben da weit in die Zukunft geschaut, eine noch kommende soziale Zersplitterung gesehen, ohne deren tatsächliche Tragweite zu umreißen. Vier Musiker driften so langsam auseinander auf ihren eigenen Bahnen, dem Publikum war das Wumpe. Sie waren 1968 absolute Götter. Hätten sie sich zwei Jahre später nicht aufgelöst, diese Details wären sicherlich niemals so an die große Glocke gehängt worden, niemand hätte nach Ursachen geforscht. Warum auch? Für die Deutung des Albums damals waren die Zustände im Studio ohne Belang, die Rezeptionen waren ohnehin sehr gegensätzlich. Während die britische Linke kräftig mit den revolutionären Hufen scharrte und den Musikern völlige politische Apathie vorwarf, machte Charles Manson ein Jahr nach Erscheinen der Doppel-LP den Sack zu und ließ durch seine Anhänger acht Menschen umbringen. An den Tatorten fand man mit Blut hinterlassene Schriftzeichen, die sich auf die Lyrics des „White Album“ bezogen. Ein Irrer hört versteckte Messages und wird zum Mörder. Die Blumenkinder haben ausgetanzt, alles wird rougher. In Paris gehen die Studenten auf die Straße. Das kommt auch bei einigen Stücken hier deutlich rüber. Nicht nur Lennon dreht jetzt kräftig an den Verzerrern, die Zeit des McCartney’schen Netter-Schwiegersohn-auf-Trip-Sound ist passé. „Helter Skelter“, „Revolution“ – die uptempo Single-Version – und „Back In The U.S.S.R“ gelten nicht umsonst als blueprint für den dann aufkommenden Hardrock. Deep Purple und Led Zeppelin dürften da wohl andächtig gelauscht haben.
Thaddeus: Das höre ich durchaus. Der musikalische Ton wird hier noch rauher – jedenfalls streckenweise. Vielleicht ist das auch mein Problem mit vielen der Songs: Ich erkenne zwar deren Dimension, bin aber kein Fan dessen, was darauf und daraus folgt. Dinge wie Hardrock bedeuten mir nichts. Ich mag es nicht, mich durch diverse Schichten Schmodder zu schürfen, um vielleicht doch noch ein Nugget zu finden, das ich in der Whiskeybar versaufen kann. Das macht es für mich schwierig, die Platte als Album durchzuhören.
Martin: Das mit der Whiskeybar waren die Doors. Ich liebe es, wenn du so sperrig wirst, aber was genau verstehst du hier nicht? Du kommst doch ebenfalls aus einer Generation, die Vinyl gekauft und dann alle Tracks hintereinander durchgehört hat. Gerade indem man sich diesem Medium Schallplatte unterwarf, hat man mit der Zeit auch Elemente angenommen, die anfangs zum Brechen reizten. Nenne das eine erzieherische Maßnahme im Guten und einen krassen Gegensatz zum heutigen Fast-Shopping-Single-Track-Einerlei. Letzteres bestäubt zwar dein tägliches, kleines Ego, bringt dich aber langfristig bestimmt nicht weiter.
„Ich nehme die Platte, wie sie ist und finde da wenige Anknüpfungspunkte.“
Thaddeus: Der ästhetische Rahmen muss stimmen. Das ist doch die Grundbedingung. Ich bin kein ausgewiesener Fan der Beatles, meine Timeline der Band hat Lücken, es gibt da einige Umleitungen und Auslassungen. Ich nehme die Platte, wie sie ist und finde da wenige Anknüpfungspunkte. Keiner der Songs ist so stark, dass er das gesamte Album hell überstrahlen würde und die Tracks, die mich weniger bis gar nicht mitreißen, angemessen kontextualisieren würden. Kurz und gut: Ich finde die Tür nicht.
Martin: Die Beatles sind mit der Muttermilch aufgesogenes Kulturgut. Ohne genau zu wissen was da gerade läuft, behaupte ich, sucht dir dein unterbewusstes Archiv den Tracktitel heraus, ob nun Original oder Coverversion. Tausendmal gehört, das macht das Sprechen darüber natürlich nicht unbedingt locker, eine neue Einordnung in deinem Fall wohl erst recht nicht. Die Zeit in der dieses Album, oder irgendein anderes, aufgenommen wurde, muss einen darüberhinaus natürlich nicht brennend interessieren. Und doch, ich sehe da Verbindungen, die weit über die Musik hinausgehen. Die heutige Gesellschaft ist mindestens genau so zersplittert, wenn auch an ganz anderen Punkten. Eine sehr lange Zeit der Ruhe geht zu Ende, es bahnen sich Änderungen an, die nicht im Kern vorhersehbar sind. Vielleicht bin ich ja deshalb von dem TV-Auftritt von Lennon und Ono 1971 fasziniert, da gehen die beiden Geschlechter noch aufeinander zu. Das kann man heutzutage gerade nicht behaupten.
„Die kulturelle Relevanz der Beatles ist die Best-of-Playlist auf Spotify. Nichts anderes. Obladi, oblada.“
Thaddeus: Weiß ich nicht. Ich wähle einen anderen Weg von damals in die Jetztzeit und bleibe noch kurz beim Kulturgut und deinem Fast-Shopping-Single-Track-Einerlei. Du hast da einerseits vollkommen recht, andererseits bin ich mir sicher, dass die kulturelle Relevanz der Beatles genau darauf beruht. Auf Fast-Shopping-Single-Track-Einerlei und nicht auf den Alben, einer von A bis Z gehörten Geschichte über zwei oder wie hier vier Vinyl-Seiten. Die kulturelle Relevanz der Beatles ist die Best-of-Playlist auf Spotify. Nichts anderes. Obladi, oblada.
Martin: Da geht es um viel mehr. Der Manager von Elvis Costello meinte immer „Living is easy with nice cloth“ zu hören. Das ist jetzt zwar ein Beispiel zu einem anderen Album, dennoch, die Leute wollen mehr als nur den Play-Button drücken. Sie wollen verstehen, hören nötigenfalls auch etwas Falsches. Den Spruch „Wer die Vergangenheit nicht kennt, wird die Zukunft nie kennen lernen“ muss man in diesem Fall bei dir nicht anwenden, für dich ist das hier einfach Sackgasse. Mir ist an der Stelle eigentlich auch egal, wer bei welchem Fab Four wann auf dem Schoß gesessen hat, aber im Gegensatz zu dir interessieren mich andere Storys um die Herren sehr wohl. Vor allem wenn man meint, den versteckten Link zu entdecken, die direkte Verbindung, das Einsickern in den jeweiligen Track hören zu können. „Blackbird“ bezieht sich auf Afro-amerikanische Aktivistinnen – ich finde das spannend zu wissen. Vielleicht war das immer schon cleveres Marketing, faktisch aber ist es reines Fantum. Das war 1968 so, du hattest es eben mit Depeche Mode und heute toben da 14-jährige Ed-Sheeran-Fanantiker. Mein Punkt. Sorry.
Thaddeus: Dein Punkt, okay – meiner war aber ein ganz anderer. Also: doch nicht dein Punkt. Die Platte kann so einflussreich sein wie Hulle. War und ist sie bestimmt auch, mir recht, alles bestens. Aber in der popkulturellen Wahrnehmung der Welt – nicht der Nische, der Fans, der Die-hards und Auskenner – spielt sie nicht so eine wichtige Rolle, scheint mir. Das macht das Album nicht besser oder schlechter. Wenn überhaupt, dann nur besser. Ich bin also nicht ignorant, sondern nur ein Beobachter der Wirklichkeit. Die Größe von Bands versendet sich am Ende immer auf exakt drei Minuten. Bei den Beatles sind es vielleicht 30 Minuten, von mir aus auch 45. Allein das belegt schon, wie wichtig und einflussreich die Band war.
Martin: Da bist du ganz auf der Seite von George Martin. Dessen Einfluss auf die Musiker schwand deutlich. Der ehemalige fünfte Beatle wollte ein einfaches Album mit geschliffenen Tracks machen, nicht wochenlang mit unsäglichen Sessions und Katzengejammer seine Zeit verschwenden. Im Gegensatz zu einem der leitenden Toningenieure, der es wagte, Pauls gesangliche La-La-Las zu kritisieren, kam er allerdings nach einer kleinen Auszeit wieder zurück.
Thaddeus: Ich bin dankbar, dass er sich nicht durchgesetzt hat – auch wenn ich mir das „White Album“ jetzt ein paar Jahre nicht mehr anhören werde.