Podcast-Kritik: The RealnessProdigy und die Sichelzellenanämie

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Sichelzellenanämie: Die Krankheit mit dem seltsamen Namen kennt man vielleicht noch aus dem Genetik-Unterricht der Mittel- und Oberstufenbiologie. Hierzulande ist sie selten, in den USA tritt sie häufiger auf, denn vor allem dunkelhäutige Menschen sind von der Erbkrankheit betroffen. Ein Betroffener ist, war, Albert Johnson aka Prodigy, Rapper und Teil des legendären HipHop-Duos Mobb Deep. Dieser Podcast erzählt seine (Krankheits-)Geschichte.

Rapper sterben nicht an einem verschluckten Ei. Rapper sterben jung im Kugelhagel oder mittelalt an zu viel Rauschmitteln oder – also zukünftig – uralt und reich auf ihrem Weingut im Napa Valley oder in einem Anwesen in Neuengland. Prodigy, Teil von Mobb Deep, die mit The Infamous bekannt wurden, starb aber doch an einem verschluckten Ei, am 20. Juni 2017 in einem Krankenhaus in Las Vegas. Ein skurriles wie tragisches Ende mit nur 42 Jahren.

Warum Johnson sich im Krankenhaus aufhielt, davon handelt der sechsteilige Podcast „The Realness: The Untold Story of Albert 'Prodigy' Johnson“. Sichelzellanämie heißt die Krankheit, die der berühmte Rapper zeitlebens ertragen musste, eine Erbkrankheit, die abnormes, an Sicheln erinnerndes Hämoglobin (rote Blutkörperchen) bilden lässt. Mit fatalen Folgen: Verklumpung und Verstopfung der Blutgefäße, ergo Durchblutungsstörungen, ergo Organschäden, ergo ein meist frühzeitiger Tod. Und bis dahin ein Leben voller, mitunter unerträglich brutaler Schmerzen. Eine Form der körperlichen Empfindung, die nicht so recht in ein toughes Rapper-Image passen mag, wie es Prodigy durch und durch lebte. Seiner Crew wird erst gewahr, was ihr nach außen hin so harter Kern durchmachen muss, als sie einen Anfall selbst miterlebt. Danach schützt sie ihn nach außen wie einen kostbaren Schatz, wie ein kleines Kind.

„The Realness“ beschreibt den Aufstieg eines Rappers und Künstlers, der aus einer echten Künstlerfamilie stammt (die Mutter war Teil der legendären Girlgroup „The Crystals“, die Oma betrieb eine berühmte Tanzschule, der Großvater war Jazzer), der in die erste Liga des Ostküsten- und US-HipHops aufstieg. Der mit Gewalt, drei Jahren Knast wegen Waffenbesitz, mit Alkohol und Drogen zu tun und zu kämpfen hatte. Doch all das ist eher der sekundäre Handlungsstrang, um den sich das eigentliche, primäre Thema rankt: eine zermürbende, zersetzende Krankheit. Eine, der anfangs kaum Beachtung geschenkt wurde. Die dann das Bild von Krankheiten generell veränderte – nicht nur durch Infektionen und Entzündungen evoziert, sondern qua DNA mitgeliefert, im Kleinsten des Kleinen verankert. Der man mit Sterilisation Betroffener beikommen wollte. Die vom black movement als Teil „schwarzer“ Wesenseigenschaft aufgegriffen wurde – „unsere“ Krankheit. Die durch Schließung von Versorgungs- und Behandlungszentren in jüngster Zeit Schmerz und Leid vergrößert hat.

Prodigy hat seine Sichelzellenanämie in nur wenigen Zeilen direkt thematisiert. Schon eher hat sie ihn angetrieben, Höchstleistungen zu bringen, auf der Bühne und im Studio, wo er nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis 2011 praktisch einzog, lebte und wie ein Besessener arbeitete. Wissend, dass er vermutlich weniger Zeit haben würde als andere – und zugleich ignorierend, dass körperliche Anstrengung das Schlechteste ist, was sich an Drepanozytose (so der medizinische Begriff) Erkrankte antun können.

„The Realness“ schafft mit seinem Setup, das in jeder Episode einen anderen subthematischen Fokus setzt, den Spagat zwischen zwei Welten, zwischen Popstartum und Pathogenese. Die Macher versuchen gar nicht erst, straßenkredibel oder inside zu klingen. Der Podcast mag eingefleischten Prodigy- und Mobb-Deep-Fans über das musikalische Werk, über Stars und Allüren vermutlich wenig Neues zu berichten haben. Wohl aber werden sie, wie alle anderen auch, viel über die Realness einer Krankheit erfahren, die sonst nur Fußnote im Genetikunterricht ist.

The Realness gibt's überall, wo es Podcasts gibt, und hier.

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