Die Ungleichzeitigkeit der DingeBuchrezension: Corona: Geschichte eines angekündigten Sterbens
15.7.2020 • Kultur – Text: Jan-Peter WulfMitten in der Corona-Krise ein Buch über die Corona-Krise: ein interessantes Unterfangen. Cordt Schnibben und David Schraven haben es als Köpfe eines 18-köpfigen Rechercheteams internationaler Journalist*innen quasi in Echtzeit geschrieben und herausgebracht. Welche Erkenntnisse bringt es? Jan-Peter Wulf hat es gelesen.
Ein Buch über Corona. Wie jetzt, jetzt? Ja, das zunächst einmal Bemerkenswerte an diesem Buch ist sein Zeitpunkt. Der Zeitpunkt des Erscheinens und der diesem vorgelagerte Produktions-, sprich Schreibzeitraum. Es geht um Corona. Und wann ging das Thema so richtig los? Ende Januar, Februar, Anfang März? Wieso schon so früh, wo sich eine Chronik doch sonst, der Eule der Minerva gleich, Zeit bis zum Abend lässt, um das Ganze im Sundown-Drüberflug Revue passieren zu lassen? Und wie trafen sie die sicher nicht leichte Entscheidung: Jetzt ist Redaktionsschluss? Wir befinden uns ja schließlich noch mittendrin in der Krise. Oder, wie es der Autor Peter Wittkamp kürzlich einmal mehr so treffend beschrieb:
So gesehen könnte man einem Buch wie „Corona: Geschichte eines angekündigten Sterbens“ durchaus skeptisch gegenüber stehen. Wurde es mit der heißen Nadel gestrickt? Aber nein: Es ist ein gutes und wirklich informatives Buch geworden. Das sich einer guten und informativen Erzählform bedient. Quasi im Tagebuchformat, nüchtern und nicht ausschweifend, wird hier fast Tag für Tag der Fortschritt der Pandemie beschrieben. Erzählt wird im Präsens, was die Gegenwärtigkeit des Themas indirekt unterstreicht. Die erzählte Zeit reicht vom 30. Dezember, an dem der Augenarzt Li Wenliang vor einem Ausbruch eines Corona-Virus warnte (später verstarb er selbst an Covid-19), bis zum 24. Mai, an dem ein mittlerweile geschlossenes Restaurant in Ostfriesland zum Hotspot und Ort einer erneuten Masseninfektion wurde. Moormerland, China und Heinsberg, New York, Brasilien und Berlin, Tanzhütten in Ischgl und irgendwo fest sitzende Kreuzfahrtschiffe – das Buch springt von Land zu Land und Ort zu Ort, so wie es das Virus eben immer mehr tut.
Die „Ungleichzeitigkeit der Dinge“, das Coronavirus der Welt verpasst, sorgt beim Lesen für entsprechende Effekte: Laufen in Deutschland gerade Hygienedemos für mehr scheinbare Freiheit, ist anderswo der Kampf ums nackte Überleben im vollen Gange. Bis zu 60.000 Menschen infizieren sich derzeit in den USA täglich, in Deutschland sind es ein paar Hundert. Von Afrika ist im Buch wenig die Rede – dass die Pandemie den Kontinent erreichen und überrennen wird, ist jedoch so gut wie programmiert. Neben der reinen Beschreibung, was an jenen entsprechenden Tagen passiert, was entschieden wird oder nicht, zu fatalen Folgen führen wird oder nicht, lassen die Autoren ihr Thema dezent, aber bestimmt einfließen. Es geht ihnen darum, zu zeigen: Wer früh und konsequent handelt (Taiwan, Südkorea, mit Abstrichen Deutschland), der kommt einigermaßen gut durch die Krise, zumindest was das vorrangige Thema – Gesundheit, Überleben – betrifft. Wer das nicht tut, nicht. USA, Brasilien, Russland mit Abstrichen England: Wo Dummschwätzer und Demagogen am Werke sind, müssen Menschen sterben.
Hat man das vorher gewusst? Eventuell. Aber diese Verlaufsbeschreibung, der problemlos ein zweiter, dritter Teil nachgeschoben werden könnte (warten wir es ab), sie macht es noch einmal sehr deutlich: Corona gewinnt immer dann, wenn Entscheider andere Prioritäten setzen – Skilifte offen halten, die Kreuzfahrt fortsetzen, die Wirtschaft nicht abwürgen, Kanzlerkandidat werden wollen. Man könne Corona, global betrachtet und wie sonst sollte eine Betrachtung auch aussehen, aufgrund vieler falscher Entscheidungen leider nur als einen Triumphzug beschreiben, notieren die Autoren ausgerechnet am 20. April. Als „molekularen Mietnomaden“ bezeichnen sie SARS-CoV-2 mehrfach, doch eigentlich ist das Bild etwas schief. Denn nicht das Virus zieht in unsere Welt-WG ein, ohne gefragt zu haben, schreiben Schnibben und Schraven am Ende des Buchs selbst. Wir als Menschen haben nicht gefragt, ob wir in seine Welt eindringen dürfen. Corona ist nicht zu uns gekommen, wir sind zu Corona gekommen. Das immer weitere und tiefere Eindringen des Menschen in Naturreservate und Biosphären, die fortwährende Ausbeutung der Tier- und Pflanzenwelt, sie legt zoonotische Erreger quasi frei und das – die Wissenschaft weiß es schon länger – immer schneller und häufiger. Die sich daraus für die Autoren ergebende Frage lautet: Wie tödlich ist diese Tatsache? Ob man die laufende Pandemie wie sie als „Generalprobe“ für zukünftige bezeichnen sollte – fraglich anhand von Stand Mitte Juli fast 600.000 Corona-Toten, und das ist nur die offiziell bekannte Zahl.
Sicherlich aber haben sie völlig recht, wenn sie konstatieren: Je akkurater die Pläne der Politik sind, je zugänglicher sie für die Beratung durch die Wissenschaft sind und je informierter die Bürger sind, je mehr es einen globalen Schulterschluss zur Abwehr gibt, desto besser. Die letzte Pandemie wird Corona nicht gewesen sein, und wir sind erst ungefähr in Minute 25 dieses Horrorfilms.