Sind Daten männlich?Buchkritik: „Unsichtbare Frauen“ von Caroline Criado-Perez
6.5.2020 • Gesellschaft – Text: Elisabeth GiesemannDie Autorin und Feministin Caroline Criado-Perez untersucht in ihrem neuesten Buch den „Gender Data Gap“. Gilt das Statement von Simone de Beauvoir, Frauen seien die Abweichung von der Norm, in unserer von Big Data dominierten Welt noch immer? Leider ja, sagt Criado-Perez. Aber zieht die Autorin auch die richtigen Schlüsse und geht sie in ihrer Analyse weit genug? Elisabeth Giesemann hat das Buch gelesen.
Apple kennt seit kurzem die weibliche Periode. Obwohl Frauen seit Jahrtausenden und in allen Kulturen diese Gesundheitsfunktion in Kalendern „tracken“, hat der Tech-Konzern eine solche Funktion erst Mitte 2019 in der Apple Watch integriert. Ein peinlicher Design-Fail, der 50 % der Bevölkerung als Zielgruppe für ein Produkt ausschließt? Oder zumindest ein Aspekt des (weiblichen) Lebens, der nicht durch Digitalkonzerne analysiert und anschließend vermarktet wird? Laut Caroline Criado-Perez ist dies nur eines von vielen Beispielen, wie die Perspektiven und Bedürfnisse von Frauen in der Wirtschaft und im öffentlichen Leben ignoriert werden.
Frauen sind „das andere Geschlecht“ und somit die Abweichung von der Norm. Mit dieser Erkenntnis von Simone de Beauvoir beginnt die Autorin die Analyse des sogenannten Gender Data Gap, also der Unsichtbarkeit von Frauen in den Annahmen und Informationen, die für Infrastruktur, Medizin, und das Design von Alltagsgegenständen verwendet werden. Diese basieren laut Criado-Perez auf den Daten von weißen Männern. Unser Alltag, die Wirtschaft und unsere Kultur: Alles wurde auf Basis ihrer Bedürfnisse gestaltet, egal ob wir männlich und weiß sind oder eben nicht.
Criado-Perez macht deutlich, dass es sich hierbei nicht um bewusste Diskriminierung handelt. Vielmehr erklärt sie anhand von vielen unterschiedlichen Beispielen, weshalb es zu dieser Lücke in der Wahrnehmung der Realität kam, die der gesamten Gesellschaft schadet und in letzter Konsequenz für Frauen tödlich sein kann. So haben Autohersteller für die Entwicklung ihrer Sicherheitssysteme Crashtest-Dummies genutzt, die Unfälle bei männlichen Körpern simulierten. Die Wahrscheinlichkeit bei einem Autounfall ums Leben zu kommen, war bei Frauen daher lange Zeit wesentlich höher als bei einem Mann. Die Recherche zeigt, dass der städtische Verkehr anhand der Bedürfnisse in Vollzeit arbeitender, autofahrender Männer ausgerichtet ist, was die Mobilität anderer Gruppen erschwert und in Städten und Metropolen weltweit zum Verkehrskollaps führt.
Doch Daten werden heute nicht nur genutzt, um unsere Welt zu beschreiben, sondern sind die Grundlage ihrer Gestaltung. Durch die Entwicklung neuer Technologien und die Generierung und Verwertung von Daten durch Online-Dienste und smarte Alltagsgegenstände wird sich dieses Phänomen noch verschärfen – Diskriminierung kann hier noch ungeahnte Auswirkungen haben.
Die Technologie mag neutral sein, aber die Daten, mit denen sie arbeitet, sind es häufig nicht.
Auch in der Tech-Welt bringt sie das hervor, was Criado-Perez den „one-size-fits-men“-Ansatz nennt. Androzentrismus nennt man diese Weltsicht, die den weißen Mann als Norm sieht. VR-Brillen führen bei Frauen häufiger zu Schwindelgefühlen, Sprachassistenten erkennen weibliche Stimmen schlechter, sie wurden anhand von männlichen Beispielen trainiert. Die Technologie mag neutral sein, aber die Daten, mit denen sie arbeitet, sind es häufig nicht. Diejenigen, die den Algorithmus programmieren, bringen unweigerlich ihre eigene Weltsicht in die Generierung und Bearbeitung von Daten mit ein.
„Shit in, Shit out“, sagen die Programmierer*innen und Datenanalyst*innen zu solchen Entscheidungssystemen, die aufgrund von unreinen oder vorurteilshaften Daten ungenaue Ergebnisse liefern. Denn die Maschinen „lernen“ von Menschen und übernehmen deren Denk- und Handlungsweisen. Apple ist bei weitem nicht allein mit der Entwicklung von sexistisch diskriminierender Soft- und Hardware. Und da sich derzeit nur 12 % der Datenwissenschaftler*innen als weiblich identifizieren, ist diese Entwicklung leider nicht verwunderlich.
Criado-Perez weist auf einen weiteren Gegensatz hin: Frauen leisten weltweit 75 % der sogenannten „Care-Arbeit“, also Kinderbetreuung, Putzen, Kochen, und die Versorgung der älteren Verwandten. Da die Frauen aber auch der Lohnarbeit nachgehen, ist zum einen die gesundheitliche Belastung um ein Vielfaches angestiegen. Zum anderen haben sie wesentlich weniger Freizeit als Männer, was ein Ungleichgewicht in der politischen Beteiligung und dem sozialen Engagement zur Folge hat. Ehrenamtliche Positionen in Vereinen, der Lokalpolitik und anderen Gremien sind daher oftmals von Männern besetzt, die wiederum für die Kommunen und Organisationen entscheiden. Es besteht eine massive Diskrepanz zwischen den Menschen, die die soziale und wirtschaftliche Welt gestalten und denen, die tatsächlich an ihr teilnehmen.
Mit Daten gegen systemische Ungerechtigkeiten
Der auf Daten basierende Ansatz der feministischen Kritik hat viele Vorteile. Denn die systemischen Ungerechtigkeiten lassen sich so besser aufzeigen, auch wenn Kritiker gerne auf individuelle Erfahrungen verweisen („In meinem Freundeskreis gibt es sowas nicht“). Doch gleichzeitig wirkt der strukturelle Sexismus, den Criado-Perez aufzeigt, wie ein beiläufiges Nebenprodukt, ein Fehler, der mit gutem Willen korrigiert werden kann. Von dieser Korrektur könnten dann alle, auch Männer, profitieren.
Doch diese Argumentation ist in vielerlei Hinsicht naiv, denn Gleichstellung ist nicht einfach eine Frage von Daten oder dem Wissen bzw. Nichtwissen um Diskriminierung. Es reicht nicht, Benachteiligungen sichtbar zu machen und freundlich auf Missstände hinzuweisen. Politiker*innen müssen aus den Informationen und Daten einen Handlungsbedarf ableiten.
Außerdem kann es nur ein sehr kleiner Fortschritt sein, eine Welt, die für eine dominante Gruppe optimiert wurde, nun für eine weitere Gruppe zu öffnen. So ist die größte Schwäche des Buches, dass die intersektionelle Perspektive auf die Datengewinnung und Auswertung ausbleibt und die Welt in ein binäres Geschlechtermodell eingeteilt wird. Die Perspektiven von trans- und intersexuellen Menschen werden von Criado-Perez ignoriert. Die Bedürfnisse von behinderten Frauen oder die Situation von Frauen of Color auf dem Arbeitsmarkt bleiben unberücksichtigt. Eine solche intersektionelle Perspektive ist jedoch notwendig, um Positionen mit einzubeziehen, die von der Mehrheit, einer nur vermeintlich homogenen Gruppe von Frauen abweichen. Frauen erleben Unterdrückung aufgrund eines komplexen Zusammenspiels von Sexismus, Klassismus, Rassismus und Ableismus. Werden diese Aspekte bei der Analyse vernachlässigt, so kann der Status Quo von Vornherein nur geringfügig verändert werden. Criado-Perez begeht den gleichen Fehler, wie die Wissenschaftler*innen und Entscheidungsträger*innen, die sie kritisiert: Sie verallgemeinert die machtvolle Position der weißen Frau und vernachlässigt dabei die tatsächliche Lebensrealität vieler Frauen.
Gerade im Hinblick auf die Gestaltung der Welt mit neuen Technologien auf der Basis von Daten sollte dieser Fehler nicht passieren. Für eine Welt, die sich in den nächsten Jahren noch mehr anhand von Daten der Nutzer*innen gestalten wird, bleibt also die Hoffnung, dass intersektionelle Perspektiven miteinbezogen werden. Es sollte nicht der Fehler begangen werden, Frauen als homogene Masse zu betrachten und am Ende genau das zu reproduzieren, was die Autorin kritisiert: eine Welt, die nur für Wenige gemacht ist.