Buchrezension: Kate Tempest – Worauf du dich verlassen kannstDie Stadt, der Feind
31.5.2016 • Kultur – Text: Thaddeus HerrmannKate Tempest hat ihren ersten Roman veröffentlicht. Die 30jährige Britin, die bereits als Lyrikerin, Autorin von Theaterstücken und Musikerin auf sich aufmerksam gemacht hat, hat die Figuren und Geschichten ihres letzten Album „Everybody Down“ nun in Buchform gebracht. Dabei tauscht sie ihre kraftvolle und schnoddrige Stimme als Rapperin gegen einen zwar expliziten, vor allem aber einfühlsamen, klugen und beobachtenden Stil, der sowohl London in seiner gefürchteten Molochhaftigkeit vor uns ausbreitet, als auch die Menschen, die dort tagtäglich zum Überleben antreten. Was als Studie des Scheiterns beginnt, entwickelt sich schnell zu einer durch und durch kitschfreien belletristischen Reportage über das Überleben in der Gegenwart.
Die Stadt. Diese verdammte Stadt.
Der Ort: London. Die Zeit: jetzt. Vor oder nach der Olympiade spielt keine Rolle, der Turbo-Kapitalismus hat die britische Hauptstadt fest in seinem Griff, die Schere zwischen Arm und Reich klafft so weit auseinander, dass man die beiden Enden mit bloßem Auge nicht mehr erkennen kann. London ist ein Ort des Scheiterns. Das war die Stadt schon immer. In zahlreichen Romanen haben Generationen von Autorinnen und Autoren diesen Moloch schon ins Visier genommen und versucht, sich ihm zu nähern, ihn begreiflich zu machen. Diese Stadt, in der das Glitzern von Mayfair nur wenige Tube-Stationen von den abgasgrauen Reihenhäusern der Great West Road oder den Hochhausghettos südlich der Themse entfernt liegen. Die Flucht in eine bessere Welt scheint immer möglich, letztendlich jedoch dreht man sich einfach nur im Kreis, wie bei einer Fahrt mit der Circle Line. Ist noch Geld auf der Oyster Card? Dann los. Nichts wie raus aus diesem Traum, je schneller, desto besser.
Mindestens genauso schnell verlassen drei der Hauptfiguren gleich zu Beginn in Tempests Debütroman die Stadt. Es ist etwas schiefgegangen, es geht um Drogen, viel Geld und ein bisschen Gewalt, eigentlich kaum mehr als ein Missverständnis. Etwas, das passiert, wenn das Leben so prekäre Ausmaße angenommen hat, dass sich niemand mehr auf den anderen verlässt, verlassen kann. Etwas, das passiert, wenn das System gewonnen hat. Becky, Harry und Leon, die drei Flüchtenden, hatten sich eingerichtet in diesem System, versucht, es nach bestem Wissen und Gewissen zu gestalten und doch die Hoffnung nicht aufgegeben, es irgendwann durchbrechen zu können. Es hinter sich zu lassen, war nicht geplant, doch nun gibt es keine andere Möglichkeit.
Kate Tempest protokolliert die Geschichte(n) ihrer Protagonisten, gibt ihnen den nötigen Raum, um ihr individuelles und gemeinsames Leben nachvollziehen zu können. Da ist Becky, Tänzerin, aber hauptberuflich Prostituierte, weil sie niemand engagieren möchte. Sie träumt von einer eigenen Dance Company, will choreographieren und geht doch mit Männern aufs Zimmer. Da ist Harry, Drogen-Dealerin, die das gesamte so verdiente Geld beflissen spart, um dort, wo sie aufgewachsen ist, ein Nachbarschaftszentrum eröffnen zu können. Und Leon, Harrys Partner, der Mann im Hintergrund. Drogen sollte man immer zu zweit verchecken.
##Aufgeben gilt nicht
Die eigentliche Geschichte, die Handlung des Romans, spielt nicht die ausschlaggebende Rolle dabei, Tempests Buch zu einem so großen und wichtigen Statement zu machen. Es sind vielmehr die Geschichten, die sich drumherum entflechten, die Lebensläufe der Helden, die ihrer Freunde und Eltern, die Tempest ebenso erzählt. Mit einfachen, aber umso effektiveren Mitteln: Da ist eine Dreiecksgeschichte (Becky und Harry verlieben sich ineinander, Becky beginnt jedoch gleichzeitg eine Beziehung mit Harrys Bruder Pete), da sind die parallelen Erzählstränge, die Verbindungen zwischen den Charakteren ganz langsam und Schritt für Schritt offenlegen. All dies wird denjenigen, die ihr Album „Everybody Down“ (Big Dada, 2014) kennen, ohnehin vertraut sein. Schon auf der Platte purzelten Becky, Harry, Leon und alle anderen durch die Tracks. Die Kapitel im englischen Original des Romans („The Bricks That Built The Houses“) heißen allesamt wie die Song-Titeln der LP. Das ist ein crossmedial interessanter Schachzug, ist das Album jedoch über weite Phasen recht sperrig, gelingt es Tempest, für das Buch einen sprachlich homogenen und bei aller Verzweiflung der Charaktere vor allem versöhnlichen Ton anzuschlagen. Es ist dieses positive Grundrauschen, das den Roman so einzigartig macht. Denn auch wenn das Scheitern eines der Hauptthemen von Tempest ist: Aufgeben kommt nicht in Frage.
##Inner city life, inner city pressure
Der sinnbildliche Kampf der Menschen gegen die Stadt, das ewige Durchwurschteln, das Strampeln, sind Steilvorlagen, um von einem Klischee-Fettnäpfchen ins nächste zu stapfen: Die große Stadt, der kleine Mensch, die richtige Prise Melancholie – fertig ist ein medienwirksamer Befindlichkeitsroman, der im besten Fall aufzeigt, dass es so nicht weitergehen kann, letztendlich aber nur ein Beweis dafür ist, dass alles doch nicht so schlimm ist, wie es vielleicht scheint. Tempest tappt nicht in diese Falle, im Gegenteil.
Kate Tempest ist die größte Entdeckung der britischen Literatur seit Jon McGregor.
Ihre Charaktere sind seelisch so vernarbt, dass für Happy-End-befördernde Verschleierungstaktiken kein Raum bleibt. Die Menschen im Buch sind real, glaubhaft, ungeschönt und ungeschminkt. Und weil ihre Geschichten so nischig sind, wächst der Roman immer dann zu besonderer Größe, wenn Tempest das beschreibt, was Becky, Harry und Co. so hat werden lassen, wie sie nun durch London irren. Es sind die „Hintergrund-Informationen“, ihre Familiengeschichten, die „Worauf du dich verlassen kannst“ zu einem unaufgeregten und genau deshalb umso eindrücklicheren Sittenbild unserer Zeit machen. Dass das in London spielt, ist gut gewählt, hier wurde die Autorin geboren, hier lebt sie und kennt sich aus. Die Geschichte ließe sich aber auch auf andere Ballungszentren übertragen. Sie passiert jeden Tag, rund um die Welt. Und doch bekommt sie durch die Londoner Szenerie eine spezielle Note. Die sich vielleicht nur durch den kontinentalen Blick ergibt, die verklärte, popkulturell geprägte Hassliebe, die man dieser Stadt entgegenbringt. Die aber auch die Einzigartigkeit der Stadt belegt.
Tempest gelingt es, die Einzigartigkeit und die Widersprüchlichkeit Londons in ein sprachliches Fundament zu gießen, das so unkaputtbar scheint, das daraus noch viele andere tolle Geschichten sprießen werden. Vollkommen egal, wo die dann verortet sein werden. Hier betritt eine junge Frau die literarische Bühne, die in den vergangenen Jahren nicht nur mit ihrer Musik und ihrem Rap zu beeindrucken wusste. Für ihre Arbeit am Theater und auch für ihre Lyrik wurde sie bereits ausgezeichnet. Mit „Worauf du dich verlassen kannst“ ist es ihr gelungen, ihre sprachliche Kraft in einen Roman zu betten. Klar, analytisch und bemerkenswert eigenständig. Kate Tempest ist die größte Entdeckung der britischen Literatur seit Jon McGregor.
Kate Tempest, Worauf du dich verlassen kannst, ist bei Rowohlt erschienen. Die Autorin ist zur Zeit auf Lesereise:
Dienstag, 31. Mai – Berlin, Lido
Mittwoch, 01. Juni – Köln, Stadtgarten
Donnerstag, 02. Juni – Hamburg, Häkken