„Sie fallen durch alle Raster“Interview mit Eva-Ruth Wemme über die Roma in Deutschland
19.10.2015 • Gesellschaft – Interview: Monika HerrmannSie singen und musizieren in der Berliner S-Bahn. Das Repertoire ist klein. Aber das ist auch nicht so wichtig für die Musikanten. Hauptsache: Die Fahrgäste werfen ein paar Cent in ihre Pappbecher. Die bettelnden Männer und Frauen, die meistens noch ein paar Kinder dabei haben, sind Roma, Zuwanderer aus Rumänien oder Bulgarien. EU-Bürger. Doch behandelt werden sie oft wie Menschen zweiter Klasse, die in einer Parallelwelt leben, sagt Eva-Ruth Wemme. Sie begleitet diese Menschen seit vielen Jahren durch ihren Alltag: Als Sozialarbeiterin, Dolmetscherin und Freundin. Jetzt hat sie ein Buch geschrieben: „Meine 7000 Nachbarn“. Monika Herrmann hat die Autorin getroffen. Dem Interview haben wir einige Passagen aus dem Buch hinzugefügt.
Frau Wemme, hilft es den Musikanten wirklich weiter, wenn ich ihnen ein paar Cent in den Pappbecher lege?
Eva-Ruth Wemme: Auf jeden Fall, denn diese Menschen, mit denen ja viele von uns praktisch Tür an Tür leben, sind sehr arm. Sie leben meistens von der Hand in den Mund. Wenn sie also durch das Betteln in der Bahn ein paar Euro einnehmen, können sie davon Nahrungsmittel für den nächsten Tag kaufen. Das ist schon sehr viel für jemanden, der praktisch nichts in der Tasche hat.
Sie begleiten diese Menschen und erleben deren unglaubliche Armut. Was sind die Probleme?
Versetzen Sie sich in die Lage von Menschen, die aufgrund ihrer Herkunft oder ihres Aussehens auf allen existentiellen Ebenen auf Ablehnung stoßen. Sie haben ihr Land und ihr Leben verlassen und treffen in Deutschland auf eine sehr fordernde Kultur, auf eine schwer zu erlernende Sprache und eine überbordende Bürokratie. Sie sind möglicherweise krank, aber ohne Krankenversicherung. Schwanger, obdachlos. Sie wissen nicht, wie sie ihre Familien ernähren und über die Runden bringen sollen. Stellen Sie sich jemanden vor, der in dieser Situation einen Behördenbrief erhält, ihn nicht lesen und schon gar nicht verstehen kann. In unserem Beratungszentrum stelle ich immer wieder fest, dass Roma auch oft Opfer von Betrügern werden. Menschen nutzen ihre Lage aus und händigen ihnen gefälschte und kriminelle Arbeits- oder Mietverträge aus. Ihr Leben spielt sich also sehr oft in Grauzonen oder gar in der Illegalität ab.
„Ein Mann und eine Frau leben in Rumänien und haben vier Kinder. Seit kurzem haben sie keine Arbeit mehr. Sie verkaufen ihr Haus und fahren mit dem Geld nach Deutschland. Die Kinder sind noch klein, zwei von ihnen fast blind. Der Mann wird plötzlich Dialysepatient.( ... ) Die Kinder weinen. Sie sollten nicht mehr in die Schule gehen, sagt die Lehrerin, weil sie so schlecht sehen würden. (...) Der Mann hat keine Krankenversicherung. Wenn er übermorgen nicht zur Dialyse geht, muss er sterben. Können sie helfen, fragt die älteste Tochter in der Beratungsstunde“.
Dabei haben Roma doch als EU-Bürger die gleichen Rechte. Aber der deutsche Staat verweigert sie ihnen, oder?
Nein, der Staat verweigert Roma keine Bürgerrechte. Aber die Definition von „Bürger“ ist: Er muss ein monatliches Einkommen von mindestens 401 Euro haben. Er muss lesen und schreiben können, deutsch sprechen und ein „bürgerliches Leben“ mit entsprechenden Zielvorstellungen führen. Auch eine Krankenversicherung gehört dazu.
Die Berliner Politiker sagen, es gehe den Roma-Familien eigentlich ganz gut.
Es gibt einige Roma-Familien, denen es tatsächlich allmählich besser geht. Die sind vielleicht schon ein paar Jahre in der Stadt und dabei, sich zurecht zu finden. Aber es gibt eben auch die vielen anderen, die es nicht schaffen, von den Angeboten wie dem „Roma-Aktionsplan“ zu profitieren. Sie verhalten sich also eher nicht wie „Bürger“. Sie fallen durch alle Raster und oft entsteht der Eindruck: Das ist gewollt. Sie sollen auch durchfallen und dann wieder abreisen.
„Ich gehe zur AOK und gebe einen Kostenübernahmeschein dort ab. Joana will abtreiben, ist aber nicht versichert. Mit der Unterschrift einer Ärztin, die beweist, dass sie arm ist, kann die AOK die Kosten übernehmen. Die Angestellte dort fragt: Wie können Menschen so leben. Ich kann es mir nicht vorstellen. Sie leben eben nicht so wie wir, sage ich. Aber jetzt (...) hat der Vater einen Job auf dem Bau. Hoffen wir, dass er bezahlt wird. Die Angestellte übergibt mir den Schein. Ich bin müde“.
Welche Chancen haben Roma überhaupt in Deutschland?
Das ist abhängig vom Alter, Vorbildung und der finanziellen Lage der Menschen. Es gibt Roma, die sicher Chancen haben. Kinder, die eine gute Ausbildung machen und einen guten Beruf erlernen können. Oder Frauen und Männer, die den Pflegeberuf erlernen und uns dann im Alter pflegen werden.
Wie realistisch ist das alles?
Vor allem die zweite Generation hat all diese Chancen. Schwierigkeiten gibt es für deren Eltern. Das große Problem für die Elterngeneration ist zunächst einmal das Überleben der Familie hinzubekommen, die Ausbildung ihrer Kinder. Arbeit gibt es für diese Mütter und Väter meistens nur im Niedriglohnsektor. Oft illegal, oft unter schwierigen Bedingungen.
Sie beschreiben im Buch nicht nur die Not der Roma-Familien, sondern auch ihre Lebendigkeit und den Mut, handfeste Krisen anzugehen und zu meistern.
Ja, das ist so. Ich lerne immer wieder viele Menschen kennen, die sehr mutig sind, die ihr Leben in die Hand nehmen. Das müssen sie tun, weil sie sonst nicht überleben würden. Viele Roma-Familien schaffen es aber auch nicht. Scheitern ist Alltag. Bitterer Optimismus oder die Religion als Zuflucht helfen einigen, was ihre seelische Situation angeht. Ich beobachte, dass nach ein paar Jahren in Deutschland viele der Zuwanderer auch an stressbedingten Krankheiten leiden. An Depressionen, Adipositas oder Hormonstörungen beispielsweise.
„Nach dem Deutschkurs wollen wir (mit einigen Frauen) zur Caritas gehen, um ein bisschen Hilfe für die Familien zu bekommen. Im Büro dort brennt eine Kerze. Die Frau von der Caritas sagt, dass sie nicht helfen könne. Sie bittet mich, nicht mehr mit solchen Menschen zu kommen. Es würde sehr viel Zeit in Anspruch nehmen und zu nichts führen. Es wäre unvernünftig. Ich sage, dass die Hoffnung stärker ist als die Vernunft“.
Im Moment reden alle vom Elend der Flüchtlinge. Staatliche Gelder werden knapp. Geht das zulasten der Roma-Familien, die schon lange in der Stadt leben?
Viele befürchten, dass es für sie Streichungen oder zumindest Kürzungen ihrer Sozialhilfeleistungen geben wird, die ohnehin nicht hoch sind. Das wird man sehen. Roma, die ja aus diesen „sicheren Herkunftsländern“ kommen, wie sie neuerdings bezeichnet werden, bekommen die Konsequenzen der Politik mit Sicherheit noch einschneidend zu spüren.