Jede Woche liest die Redaktion das Internet leer, um sonntäglich vier Lesestücke empfehlen zu können. Artikel, die interessant, relevant oder gar beides sind – und zum Glück abgespeichert wurden.
She's a smooth operator
Tracey Thorn hat ein neues Album veröffentlicht, das erste Studioalbum seit acht Jahren, es ist okay geworden. Tracey Thorn ist nicht nur Musikerin, sondern auch Publizistin, sie hat Bücher geschrieben und kommentiert derzeit gekonnt die fortwährende Gender-Debatte (unter anderem berichtet sie, wie über sie berichtet wird, zum Haareraufen). Als Kolumnistin für die linksliberale Wochenzeitung „New Statesman“ hat sie jetzt ein Portrait über Sade geschrieben. Eines, das uns vor die Nase führt, dass Sade mehr ist als eine schöne Frau mit schöner Stimme, wenngleich Thorn voll des Lobes für Sades Gesang ist, völlig zurecht. Vor allem aber, findet Thorn, ist Sade nicht die kühl-soulige Repräsentantin des Achtziger-Hedonismus, wie man es beim Anschauen ihrer großen Videos denken könnte, sondern vielmehr ein Produkt des Achtziger-Realismus. Das ist eine interessante, plausible Lesart. Der Hintergrund übrigens ist, dass auch Sade ein neues Werk in Arbeit hat, es ist auch das erste seit acht Jahren. Wie schön.
If she often looked unreachable and untouchable, what more powerful statement could there be from a young black woman? Belonging to nobody, beholden to nobody but herself, she held the male gaze at bay, deflecting it, controlling it.
Behagliche Erinnerungskultur
Die Erinnerung an die Verbrechen der Nazis ist fester Teil des gesellschaftlichen und geschichtlichen Grundverständnisses in Deutschland – und so sollte es auch sein. Doch die Erinnerungskultur hat ein Problem. Obwohl heute niemand mehr die Umschreibung der Geschichte fordert, wurden Geschichtsaufarbeitung und Gedenken inzwischen soweit normiert, dass ihre mahnende Wirkung verlorengegangen ist – und das liegt nicht allein am Rechtspopulismus, der laufend die Grenzen des Sagbaren verschiebt. Martin Sabrow mit einer vortrefflichen Analyse für den Tagesspiegel.
„Nur 18 Prozent der Deutschen glauben heute, dass unter ihren Vorfahren auch Nazis waren. Die deutsche Demokratieerzählung verknüpft helle und dunkle Erinnerung, statt sie gegeneinander auszuspielen.“
One Laptop Per Child
Niemand Geringeres als der Gründer des MIT Media Lab Nicholas Negroponte präsentierte 2005 einen kleinen grünen Computer, der die Welt verändern sollte. One Laptop Per Child, kurz OLPC, oder auch der 100-Dollar-Laptop hieß die tragbare Maschine, die vor allem in Entwicklungsregionen wie Afrika Kindern Zugang zu Computern und dem Internet ermöglichen sollte. Aber alles, was vom Konzept her zunächst brillant und revolutionär klang, endete in einer großen Katastrophe. Eine Geschichte übers Scheitern von Adi Robertson für The Verge.
With The New York Times publishing headlines like “The laptop that will save the world,” and millions of sales on the horizon, OLPC looked set for success. Then, everything started to fall apart. After announcing “the $100 Laptop,” OLPC had one job to do: make a laptop that cost $100. As the team developed the XO-1, they slowly realized that this wasn’t going to happen.
OLPC’s $100 laptop was going to change the world – Then all went wrong
Humankapital DJ
Tim Bergling alias Avicii ist gestorben, die halbe Welt weint, ein anderer Teil reagiert mit verabscheuungswürdigem Hohn. Oft genug musste der EDM-Superstar als Sündenbock des Ausverkaufs elektronischer Tanzmusik herhalten. Damit ist wohl Schluss. Das Jetset-Life von DJs wie ihm unterscheidet sich tatsächlich nur wenig von dem derjenigen, die Woche für Woche das Closing-Set der Panorama Bar übernehmen. Vielleicht ist der Schampus etwas teurer, die Beinfreiheit im Flugzeug etwas größer – vielleicht aber nicht einmal das. Kollege Kristoffer Cornils hat für die Groove aufgeschrieben, was das weltweite Touren unabhängig der Gagenhöhe eigentlich bedeutet, für die Künstler einerseits und für uns, das Publikum, andererseits. Das beste Lesestück zum traurigen Anlass.
„DJs stehen jederzeit miteinander in Konkurrenz, ob nun im EDM-Zirkus oder der Techno-Szene, und müssen sich deshalb schonungslos selbst auf Kosten ihrer Gesundheit und ihres geistigen Wohlbefindens ausbeuten, um am Ball zu bleiben. Das lässt sich bestimmt auch als Freiheit auslegen und -leben, ist im Kern aber nichts anderes als ein kapitalistischer Sachzwang, der vor unseren Augen zum unüberwindbaren Paradigma gefriert.“
Last Night A DJ Lost His Life: Warum der Tod von Avicii uns alle angeht