Rewind: Klassiker, neu gehörtMax Richter – 24 Postcards In Full Colour (2008)

RT - Max Richter 24 Postcards lede

Es gab eine Zeit, in der war Max Richter noch Indie. Damals schrubbte der britische Komponist nicht Soundtrack nach Soundtrack, sondern war vielmehr dabei, seine musikalischen Ideen Schritt für Schritt und sehr sachte zu entwickeln – auf „130701“, einem kleinen Sublabel des Techno-Imperiums „FatCat“. Richter beschäftigte sich mit den Dingen, die damals eben Thema waren – Klingeltöne zum Beispiel. Sein Album „24 Postcards In Full Colour“ war die Antwort auf Abzocker-Abos von Jamba und Co.: 24 kurze Snapshots, mit denen bimmelnde Telefone ihre plärrende Würde wiedererlangen sollten. Zehn Jahre später vereinbaren Raabenstein und Herrmann erst telefonisch einen Termin, klären, wer von den beiden nun Mozart und wer Bach ist und lassen es klingeln. Also laufen. Jóhann Jóhannsson hört auch irgendwie zu. Doch das ist bei Max Richter ja nun wirklich keine Überraschung.

Martin Raabenstein: Du sagst, du kommst in das Album nicht so richtig rein. Warum?

Thaddeus Herrmann: Das ist der dann doch recht speziellen Form geschuldet. Es ist ja kein Album im herkömmlichen Sinne. Dass wir beide uns nochmal über Klingeltöne unterhalten würden ... toll!

Martin: Dieses Nicht-Album ist aber ein eindeutiger Richter. Mit allem, was den Max sonst so ausmacht. Möglicherweise ist genau hier, in der Verknappung, des Komponisten wahre Seele zu spüren?

Thaddeus: Ein absolut eindeutiger Richter, gar keine Frage. Und natürlich schon ein Album, nur eines, das für mich nicht als solches funktioniert. Und von Richter – glaube ich – auch nicht so gedacht ist. Denn es ist ja tatsächlich seine Auseinandersetzung mit dem Thema Klingelton – 2008 war das ein großes Thema auf den Telefonen da draußen. 24 kurze, sehr kurze Stücke, Ideen, Skizzen. Hier spielt die Reihenfolge keine Rolle, am besten hört man das im Shuffle-Modus oder sucht sich seine Lieblinge raus, lädt sie sich auf das Telefon und hofft, ganz viele SMS oder Anrufe zu bekommen. Für einen Komponisten schon ein interessanter Schritt. Ich mag das. Weil: Wenn man es einfach durchhört, wird man ja immer wieder rausgeworfen. Um in der Metapher zu bleiben: Es ist ein einziger Verbindungsabbruch. Es gibt so gut wie keine Blenden, Stücke fangen an, hören drastisch und radikal auf, Pausen zwischen den Tracks scheinen willkürlich. Man hüpft von Pfütze zu Pfütze.

Martin: Das ist für mich gerade das Faszinierende an der Idee. Es gibt keine groß angelegte orchestrale Durchführung, die dich wie bei Jóhannsson ins Schwelgen kommen lässt. Minimal, knapp, auf dem Punkt: Hier schimmert für mich die Essenz des gesamten Modern-Classical-Genres durch. Die obligatorische traurige Melodie, diese Wiederaufnahme des Barock, die sich nur in der Melancholie zu wälzen vermag. So wie bei „24 Postcards In Full Colour“ dringt die simple Konstruktion musikalischer Aneignung dort nirgends durch, das macht es für mich so entlarvend. Somit ist auch der Titel des Albums mehr als zutreffend.

„Das Album hat ob der Kürze und Zufälligkeit der Stücke tatsächlich eine sehr angenehme Leichtigkeit, die trotz der teilweise offensichtlichen Schwere der Musik die Oberhand behält.“

Thaddeus: Ich habe ohnehin den Eindruck, dass Richter eher vom Track kommt als von der klassischen Komposition. „The Blue Notebooks“ funktioniert ja ähnlich, mit vielen kurzen Stücken, die er dort jedoch zumindest aneinander kettet. Das findet hier nicht statt. Dafür hat es ob der Kürze und Zufälligkeit tatsächlich eine sehr angenehme Leichtigkeit, die trotz der teilweise offensichtlichen Schwere der Musik die Oberhand behält. Ob das nun die Basis für ein ganzes Genre ist, weiß ich nicht. Ich könnte ja nicht mal sagen, durch was sich dieses Genre nun definiert. Mir fällt auf, wie stark prozessiert die Tracks zum Teil sind. Dadurch bekommen sie in ihrer Zusammenstellung noch mal eine ganz andere Diversität.

Max Richter - Sleep - full

Foto: Mike Terry

Brauchten die späten Nullerjahre diesen einfach gestrickten, melancholischen Mir-is-so-freudlos mehr als die vorhergegangenen Jahrzehnte?“

Martin: Lustig, dass du „The Blue Notebooks“ erwähnst, das habe ich heute auch nochmal gehört. Da kommt die Idee des eindeutigen Richters ja auf und so entstand auch die Assoziation zum Barock als Basis für dieses Genre. Daran haben sich schon in früheren Jahrzehnten andere versucht: Brian Eno mit Johann Pachelbel auf „Discreet Music“ anno 1975 oder Michael Nyman, der Henry Purcell für seine Peter-Greenaway-Soundtracks immer wieder gerne durch die Themse zieht. Eigenartigerweise ist daraus nie eine breite musikalische Bewegung entstanden, vergleichbar mit den Modern Classical. Benötigten die späten Nullerjahre diesen einfach gestrickten, melancholischen Mir-is-so-freudlos mehr als die vorhergegangenen Jahrzehnte?

Thaddeus: Man könnte mutmaßen, dass dem Eno der Punk dazwischen kam – wobei: Der war dem Mann doch bestimmt scheißegal. Ich tippe eher auf den Generationenwechsel, gepaart mit anderen technischen Möglichkeiten. Wenn man wie Richter 1966 geboren wurde, hat man eine andere musikalische Sozialisation, andere Dinge erlebt, bzw. gehört – und denkt folglich auch andere Dinge zusammen. Warum das nun gerade in den Nullerjahren begann und mittlerweile mehrfach pervertiert und missverstanden nicht wieder aufhören will – ich weiß es doch auch nicht.

Martin: Jaja, der Punk, das macht er gerne. Der hat einigen Damen und Herren die Haare ziemlich auf Millimeterlänge geschoren. Die ganzen Prog-Legenden wie Queen, Yes oder EL&P, die ihre Kompositionen unter anderem auf einer klassisch-fundierten, musikalischen Bildung aufbauten, waren einfach nur noch Dinosaurier und haben lediglich durch zum Teil krasse Richtungswechsel ihrer Musik überlebt. Klassische Musik hat immer wieder ihre spitzen Finger durch die Jahrhunderte hindurch in zeitgenössisches Denken gedrückt. Nirgends allerdings waren die Effekte dieser Einflussnahme so dünn gebohrt wie Anfang/Mitte dieses Millenniums. Darum auch die Frage nach dem sich selbst genügenden, kleinen Moll-Akkord. Und dennoch, der Richter bleibt immer der Richter, liegt am Straßenrand und weint so ein bisschen vor sich hin. Ob in Kurz- oder in Langform, das Publikum hat ihn trotzdem ganz doll lieb.

Thaddeus: Und du?

Martin: Ich mag „24 Postcards In Full Colour“ noch immer, wiewohl ich diesen eben beschriebenen Mangel schmerzlich verspüre, damals war dem nicht so. Aber sag, hinter dem Album steckte dann doch noch mehr, oder?

RT - Max Richter - 24 Postcards GIF

Die 24 Postkarten

„2008 ist lange her und nach dem Thema der Klingeltöne kräht heute kein Hahn mehr – auch wenn es Jamba immer noch gibt.“

Thaddeus: Würde man Richter fragen – ja. Vielleicht ist es aber unsere Aufgabe, ihm das Konzept nachträglich unter dem Hintern wegzuziehen und die Frage zu stellen, warum er 24 Interludes als Album veröffentlicht und sich nicht mal die Zeit nimmt, ordentliche Fades anzufertigen. Das gehört sich aber nicht, finde ich. Denn: 2008 ist zehn Jahre her und nach dem Thema – der Auseinandersetzung mit Klingeltönen, bzw. deren musikalischer Aufwertung – kräht heute ja kein Hahn mehr. Auch wenn es Jamba immer noch gibt. Zu hinterfragen wäre eher, warum er diese Sammlung dann auf klassischem Wege veröffentlicht. Nicht nur auf Tonträger, sondern ganz bewusst als Album. Hier hätte er damals schon etwas vorausschauender sein können. Die Kollegen von FatCat hätten ihn dabei sicher tatkräftig unterstützt. Aber egal. Ich frage mich die ganze Zeit, warum ich mir damals nicht einen der Tracks als Klingelton geladen habe. Weil: Die sind ja alle toll. Oder die meisten zumindest. Ich finde Max Richter immer dann schwierig, wenn er mit Text in seiner Musik experimentiert, Zitate lesen lässt. Das reißt mich aus der Konzentration, das sind Ebenen, die er nicht überzeugend zusammenbringt für mein Verständnis. Aber auch das hält sich hier ja in Grenzen. Anders als beim „The Blue Notebooks“.

„Ich Mozart, du Bach?“

Martin: Das Ganze ist eher die unbändige Freiheit, einfach spielen zu dürfen. Texte lesen zu lassen, Fades nicht anzubringen, das klaut mir nicht die Wurst von der Schrippe. Ich bin bei Richter eigentümlicherweise ebenso gnädig, wie du es beim Jóhann bist. Dem lässt du ja auch so einiges durchgehen. Zum Thema passte dann die Frage: Ich Mozart, du Bach?

Thaddeus: Jóhann! Jóhann! Ich find das jetzt auch nicht blöd, wie Richter das arrangiert, es kontrastiert ja auf eine gewisse Weise die musikalische Substanz und macht es so ein bisschen kantiger. Dafür gehen erstmal alle Daumen hoch. Da Richter ja leider mittlerweile auch einer von diesen Musikern ist, die zwei Mal pro Woche einen neuen Soundtrack veröffentlichen, die sich alle nicht mehr voneinander unterscheiden, ist mir dieses Album hier viel lieber als seine späteren Werke – von „Sleep“ mal abgesehen, was ich nach wie vor für einen ganz großen Wurf halte, vor allem in der Extended Version. Bach oder Mozart? Ja, vielleicht halte ich meinen kleinen Zeh eher in den Bach.

Martin: Das würde dann auch deine unziemlichen Techno/House-Missionierungsversuche an mir erklären. Der Bach ist da viel straighter, durchbachter eben. Bei Mozart habe ich immer den Eindruck, kurz bevor man dahinter kommt was er da gerade so bastelt, dreht er flink eine Wendung ein. Darum die, zugegeben, etwas hölzerne, mögliche Unterscheidung unserer musikalischen Sozialisation.

Thaddeus: Dann legt der einfach gestrickte Loop-Thaddi jetzt „Switched On Bach“ auf. Wendy! Wendy!

Martin: Dir sind die Vocals einfach nicht mit der Musik verwoben genug, ich denke das irritiert dich. Hört da bei dir der Producer mit?

„Das hat in seiner geplanten Zerfaserung einen erstaunlich tighten Fokus.“

Thaddeus: Der hört doch sowieso immer bei jedem mit, oder? Sobald da Musik ist, die einem gut gefällt, fängt man im Kopf mit dem Remixen an. Das halte ich für den Normalzustand beim Musikhören. In diesem Fall – also nicht hier, sondern beim „The Blue Notebooks“ – stimmt es aber tatsächlich. Musik und Text wollen in meinen Ohren einfach nicht zueinanderfinden. Die Staffelung stimmt nicht. Sie sind sich zu nahe, als dass ich das eine wirklich ausblenden könnte, bauen trotz der Nähe aber keine Beziehung auf. Im Resultat labbert das dann so rum. Darum mag ich die Postkarten deutlich lieber. Das hat in seiner geplanten Zerfaserung einen erstaunlich tighten Fokus.

Martin: Nun, ich hatte den Richter auch nicht als Klingelton. Und es ist natürlich auf jeden Fall spannender, damit angerufen zu werden, als mit allen anderen im Raum nach dem Phone zu greifen, wenn die Marimbas loströmmeln.

Thaddeus: Oder mit dem Samsung-Pfeiffer – da werde ich so richtig aggro. Da fällt mir folgende Anekdote ein: Ich musste kürzlich tatsächlich mal telefonieren. Da hörte ich unter dem Freizeichen einen furchtbar plärrenden Pop-Song aus dem Nullerjahren. Das war zu der Zeit, als Richter die Postkarten aufnahm, wahnsinnig populär. Konnte man buchen bei seinem Handyvertrag. Dass alle, die dich anrufen, immer solange deinen Lieblingssong im Hintergrund hören, bis du rangehst. Ob das noch geht? Dann würde ich den Richter mal aufspielen.

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