Die große UK-VerschwörungWie London (wieder) zum heimlichen Mittelpunkt der Popwelt mutiert
8.1.2015 • Sounds – Text: Benedikt BentlerDer schwere, ungerade Sound erklingt aus der Funktion One im Berghain ebenso wie aus den Dre-Beats-Boxen in Rap-Videos. Die US-Rapperin Azealia Banks spittet auf britische Clubmusik, Songwriterin Banks aus L.A. holt sich SOHN ins Studio, Kanye West’s Co-Produzent Arca machte sich London zur Wahlheimat und veröffentlichte eines der besten Alben des letzten Jahres. Der komplexe Sound aus UK entwickelt sich gerade zur konstanten Einflussgröße in der internationalen Popmusik. Ganz subtil, vielfältig und ohne die Kurzlebigkeit eines Dubstep-Trends infiltrieren die Londoner Künstler die Plattencredits internationaler Releases. Große Verschwörung? Nee, geht alles mit rechten Dingen zu, weiß Filter-Redakteur Benedikt Bentler.
Nun ist der Einfluss elektronischer Musik (ob aus UK oder nicht) auf andere Genres wahrlich nichts Neues. Man denke nur an Kanye West, der mit Daft Punks „Stronger“ als Grundlage einen seiner größten Hits veröffentlichte. In den Nuller Jahren kam auch Diplo daher, der es von Laptop-Produktionen im Schlafzimmer bis in die Studios der ganz großen Popstars Madonna und Beyoncé geschafft hat. Wobei er sich aber mindestens ebenso sehr auf die Produktion massentauglich leichter Popmusik zubewegt hat, wie die Popmusik auf ihn. Außerdem war da der kurze, inflationäre Einschlag von Dubstep, der zum Glück vorüber ist.
Der Ende 2014 verstorbene Mark Bell sorgte mit „LFO“ schon Anfang der 90er dafür, dass die Gläser in britischen Clubs vom Bass aus den Regalen fielen. Später produzierte er Depeche Mode und vor allem Björk. Und mit dem Einfluss von Mark Bell lässt sich die aktuelle Entwicklung noch am ehesten vergleichen, denn sie ist wesentlich nachhaltiger, weil subtiler, als zum Beispiel der Hype um Dubstep. Dubstep war offensichtliches Stilmittel zur Bedienung eines kurzlebigen Trends. Bestes Beispiel: Das Skrillex-Feature „Wild For The Night“ von A$AP Rocky. Kanyes „Stronger“ war die gelungene Zweitverwertung eines eh schon erfolgreichen Dance-Tracks. Der heutige Einfluss britischer Produktionen ist aber vor allem in den Credits von Platten zu finden, genau wie Mark Bell es damals war. Die Namen britischer Musiker tauchen überall auf, ohne dass Otto Normalverbraucher davon viel mitbekommt. Ein neuer Sound wird etabliert, ohne als kurzlebiger, offensichtlicher Trend zu verpuffen.
Der Unterschied zum Pionier des „Bleep & Clonk“: Es gibt nicht nur Mark Bell, es gibt unzählige Musiker zwischen Lone, Four Tet und Jessie Ware. Die Dichte der Verflechtungen hat sich massiv erhöht. Inzwischen werden in Großbritannien keine US-Stars mehr adaptiert, wie der Londoner Grime-Rapper Skepta noch auf „Blacklisted“ (2012) monierte, sondern die US-Stars wollen britisch klingen. Um das zu verstehen, fangen wir auf der anderen Seite des Atlantiks an – in den USA.
##UK-Subbass
Da hat zum Beispiel Azealia Banks vor kurzem ihr Debüt „Broke with Expensive Taste“ veröffentlicht und zeigt mal kurz, in welchen Gewändern sich US-Rap auch präsentieren kann. Der Einfluss britischer Club- und Bassmusik trieft geradezu aus Azealia Banks’ LP. Das gilt nicht nur für die Tracks „Miss Amor“ und „Miss Camaraderie“, für die Lones Tracks „Coreshine Vodoo“ und „Rapid Racer“ von der „Echolocations EP“ als musikalischer Unterbau herhalten mussten. Auch nicht nur für „Desperado“, dessen Sound aus der Feder von Garage-Pionier MJ Cole stammt.
Der Einfluss britischer Club- und Bassmusik trieft geradezu aus Azealia Banks’ LP.
Nein, selbst zwischen den offensichtlich britischen Produktionen kracht und breakt es gewaltig - schon fast erstaunlich, dass Maschinedrum einen der cleansten Beats des Albums liefert. Auch Four Tet wird ja immer wieder gern von der Insel entführt, um Produktionen und Remixe für Künstler aus aller Welt zu fertigen. Im letzten Jahr hat seine Musik den Weg auf „Small VVorld“, das Album des US-amerikanischen Rappers Rome Fortune gefunden.
Nach dem großen Hype um Banks – ohne Azealia – 2013, kam 2014 das Debüt-Album der Singer-Songwriterin aus L.A. Und diese Electropop-R’n’B-Mischung klingt so gar nicht nach dem, was man von einer „Songwriterin“ erwarten würde. Banks hat sich mit SOHN, Lil Silva und Totally Enormous Extinct Dinosaurs ausgiebig am britischen Producer-Buffet bedient. Gleichzeitig war der Krater zum Einschlag des Albums aber doch kleiner als erwartet, und hier offenbart sich die Schwäche der modernen, britischen Produktionen im Bezug auf den Massenmarkt. Als ich Banks vor kurzem auf der eher minderwertigen Anlage einer Freundin hörte, klang es richtig scheiße. Also wirklich richtig scheiße. Die tieferen Frequenzen im Bassbereich sind essentiell, damit diese Produktionen ihre volle Wirkung entfalten. Nun ist es leider so, dass junge Musikhörer von heute zwar einen halben Tausender für ihre Smartphones auf den Tisch legen, sich aber über Kopfhörer beschallen lassen, die ganz und gar nicht smart klingen.
Die gleiche Problematik trifft FKA Twigs, einstige Tänzerin und seit dem großen Hype 2014 die unantastbare R’n’B-Queen von der Insel. Ihre Stimme: So weit vorne aus dem Kehlkopf und so dünn, dass sie zu reißen droht, während der Subbass in Produktionen von Arca oder Clams Casino gleichzeitig die Membran der heimischen Lautsprecher zu zersägen vermag. Aber dafür muss eben die tontechnische Infrastruktur stimmen, sonst bleibt vom FKA-Twigs-Erlebnis nur das Stimmchen. Apropos Arca: Der junge Venezolaner namens Alejandro Ghersi scheint nach der Co-Produktion mit Kanye West(!) für Yeezus nun in London seine neue Wahlheimat gefunden zu haben. Sein Debüt „Xen“ gehört ebenfalls zum Besten und Anspruchsvollsten, was das Musikjahr 2014 zu bieten hatte, die Kollegen Michael Döringer und Christian Blumberg hatten sich der Platte angenommen. Arca wohnt wiederum mit Jesse Kanda zusammen, wie er im Interview mit The Fader verriet. Jesse Kanda hat bereits Videos und Artwork für FKA Twigs und seinen Mitbewohner gestaltet und ist damit ebenfalls Teil dieser kreativen Londoner Ursuppe, nur eben für den visuellen Part verantwortlich. So geht es einem ständig, wenn man sich in die Credits der Londoner Releases begibt: Der mit dem und der mit dem und der mit dem. Überall Überschneidungen, Co-Produktionen, Features und Gastparts.
Young Turks: klein, aber sicher nicht unscheinbar
Dabei begegnet einem immer wieder der Labelname Young Turks. Mit Warp, Mute und Ninja Tune sitzen bereits seit Jahrzehnten drei der wichtigsten Labels der Welt an den Ufern der Themse. Für die verkopfte Avantgarde der elektronischen Musikproduktion war hier also schon immer Platz. Doch seit einigen Jahren entwickelt sich die kleine Young-Turks-Bande mit einer riesigen Geschwindigkeit weiter. Sicher, der größte Erfolg des Labels geht immer noch auf das Debüt-Album von „The xx“ aus dem Jahr 2010 zurück, doch auch FKA Twigs, STBRKT, Sampha, Kwes. und Jessie Ware sind oder waren auf dem Label zu Hause. Mit dem man sich mitten im Zentrum der Londoner Clique befindet, die mittlerweile in Richtung USA ausfranst: Jessie Ware, SBTRKT und Sampha arbeiten auf jedem ihrer Releases zusammen, Jessie Ware findet man auch auf der neuen Platte von Nicki Minaj und in Zusammenarbeit mit Chance The Rapper, Sampha war bereits auf Drakes „Nothing Was The Same“ zu Gast. Soeben erschien das Cover der Musik-Sonderausgabe des amerikanischen Modemagazins „V Magazine“. Auf dem Cover: Jessie Ware und FKA Twigs.
Teure Mieten, echte Probleme
Wie lässt sich diese gegenseitige Unterstützung über Labelgrenzen hinaus erklären, die so einen enorm kreativen und inhaltlich wie musikalisch qualitativen Output hervorbringt, um den sich die Musikwelt zu reißen scheint? Dabei hilft ein Blick auf die Gepflogenheiten und Lebensumstände in der britischen Hauptstadt. London ist nämlich vor allem eines: teuer. Seit Jahren steigen die Preise für Mieten, mitunter doppelt so schnell wie im Rest des Landes. Mit einem Londoner Durchschnittseinkommen von nur etwas mehr als 30.000 Euro ist eine 1-Zimmer-Wohnung in Inner London ausgeschlossen, es sei denn man möchte 75 Prozent seines Einkommens dafür ausgeben. Das könnte schwer werden, weil auch die Lebenshaltungskosten vor allem für Essen deutlich höher als bei uns liegen. Die Preise steigen weiter, das Pfandgeschäft boomt.
Diese Umstände schaffen echte Sorgen und echte Probleme, von denen auch die Kreativ- und Musikszene betroffen ist. Sorgen, die einen stets auf den Boden der Tatsachen zurückholen und eine Verbindung zu dem schaffen, was in der Welt vor sich geht. Diese Verbindung haben viele der US-amerikanischen Musiker, insbesondere im HipHop und den zugehörigen Produzentenkreisen, mit wachsendem Erfolg längst verloren. Wer sich den ganzen Tag die kalifornische Sonne im mit Schampus gefüllten Pool aus dem Arsch scheinen lässt oder nur noch von Bitches, Bling und Lambos rappen kann, der steckt schnell in seinem Cash-Money-Hamsterrad. Das gar nicht luxusgeschwängerte Leben der Londoner Musiker hingegen stärkt vermeintlich den Zusammenhalt, schafft relevante Inhalte, Reibungen und Messages, die überbracht werden wollen. Letztendlich entsteht so der unkonventionellere und kreativere, aber auch der ernstere und schwerwiegendere Output.
Bestes Beispiel: Der Rapper Kieren Gallear alias Dels, der mit seinem Abschluss in Grafikdesign ebenfalls mitten in der kreativen Suppe steckt. Sein Anfang November auf der Ninja-Tune-Tochter Big Dada veröffentlichtes „Petals Have Fallen“ gehört definitiv (ich lasse mich da gern auf Diskussionen ein) zu den besten Rap-Alben 2014. Das ist einerseits den Rap-Skills und Inhalten geschuldet. Bescheidenheit („never set out to be a rapper“), Szenen, Ängste und Gedanken aus dem Alltagsleben werden in lyrisch wundervolle Lines verpackt: „I still hear your laughter as it echoes through my thoughts / Watch my life change course at a frantic pace / But I still feel your spirits lighting up the place / Holding onto memories, us gliding through the streets / Then the imagery depletes and fades into another... / Us ducking from Police.“ Andererseits gesellt sich zu schwerwiegenden Lyrics ein ebenso schwerwiegender Sound aus den Produzentenhänden von Bonobo und Kwes. - so gar nicht HipHop, aber so richtig einsaugend. Kwes. ist mittlerweile bei Warp, kommt aber ebenfalls aus dem Umfeld von Young Turks und hat schon mit deren Artists The xx uswusf. … Man könnte ewig so weiter assoziieren. Sie hängen alle zusammen und schaffen gemeinsam so etwas wie einen neuen UK-Sound, der offenbar einmal die turbokurzen Halbwertszeiten der sonstigen Insel-Hypes überdauert.
Es wird keinen Rock’n’Roll mehr geben
Historisch gesehen ging mit vielen großen Trends der Popkultur ein starkes Gefühl des Unwohlseins, eine soziale Unzufriedenheit einher. Popkultur wurde von Beginn an in der Theorie eine subversive Kraft zugesprochen. Blues und Jazz als Kinder der Worksongs afroamerikanischer Sklaven, die Rebellion des Rock’n’Roll, die Geburt der HipHop-Kultur aus der problematischen South Bronx heraus, der Techno, zumindest hierzulande, als Ausprägung puren Hedonismus - in Detroit hingegen als elektronische Ausprägung schwarzer Musik in einer untergehenden Industriestadt. Solche Bewegungen, so scheint es, wird es allerdings nicht mehr geben. Heutzutage sind popkulturelle Phänomene abseits musikalischer Homogenität zu begreifen und innerhalb von zusammenhängenden Personenkreisen zu finden: Durch die Vernetzung via Internet und eine Vervielfachung des musikalischen Outputs dank günstiger Produktionsmöglichkeiten ist Musik heute viel zu diversifiziert. Jeder hat seinen ganz eigenen Sound, aber Musiker werden durch Ambitionen und Inhalte geeint.
Im Mikrokosmos London sind somit bestimmte soundtechnische Fragmente und inhaltliche Fragestellungen der gemeinsame Nenner eines Sounds, der mit tiefen, ungeraden Basslines und einer von urbanen Problemen geprägten Ernsthaftigkeit die Popwelt beeinflusst. Die oberflächliche musikalische Heterogenität verhindert nur die Erscheinung als geschlossener Trend, der um sich greift. Ein komplexer, oftmals düsterer Sound, für eine Welt, die selbst immer schwieriger zu verstehen ist. Vielleicht passt er deshalb so gut in diese unsere Gegenwart.