Das Ende vom Lied?Das neue Musikformat „Stems“ geht mit zahlreichen Labels an den Start
29.6.2015 • Sounds – Text: Benedikt BentlerDas von Native Instruments entwickelte Musikformat Stems soll das DJing, Remixing und Produzieren massiv verändern, indem es den Zugriff auf Einzelspuren innerhalb von Tracks erlaubt. Damit wird das Format Song aufgelöst, der DJ-Mix zum Longplay-Remix. Im März berichteten wir bereits über Stems, machten aber auch zugleich klar: Der Erfolg ist vom Interesse der Branche und einer breiten Durchsetzung abhängig. Der scheint nun nichts mehr im Wege zu stehen, die Liste der Partner-Labels und -Retailer kann sich jetzt schon sehen lassen. Kommt es zum unerwarteten Revival des totgeglaubten Mashups?
Wirft man einen Blick auf die Labels, die bereits als Partner unter stems-music.com gelistet wird, merkt man gleich: Native Instruments hat erstmal bei Labels angeklopft, die ihre Hauptquartiere nur einen Steinwurf entfernt haben. An einschlägigen Berliner Namen mangelt es nicht: 50 Weapons, Get Physical, Mobilee, Monkeytown, Shitkatapult, um die wichtigsten zu nennen. Aber auch größere internationale Namen tauchen auf: Hotflush, Infiné, Hypercolour und Tiëstos Black Hole Recordings zum Beispiel.
Klar, ein breiter Durchbruch ist das bis noch nicht, aber mindestens ein guter Anfang. Die Distribution via Download dürfte indes schon jetzt kein Problem mehr darstellen, denn allein mit Juno und Beatport – beide sind bei Stems mit dabei – lässt sich eine breite Masse an DJs erreichen.
Aber wie sieht es mit Vertrieben aus, der Schnittstelle zwischen Label und Verkauf? Auch hier sind bereits ein paar größere Indie-Vertriebe wie Labelworx und Symphonic aufgeführt. Den Vertrieben bleibt unter Umständen auch gar nichts anderes übrig, als mitzuziehen, wenn Labels Stems veröffentlichen und große Download-Portale diese verkaufen.
Da sich Stems als Premium-Format zu höheren Preisen verkauft werden, dürfte es in Zukunft nicht schwer fallen, die Liste der beteiligten Partner, Portale und Vertriebe wachsen zu lassen. Denn wenn es eine Sache gibt, an der alle Beteiligten Interesse haben, dann sind das höhere Profite. Das gilt für Indie-Firmen ebenso, wie für Majors. Damit diese Profite tatsächlich zustandekommen, muss sich der Workflow zur Erstellung von Stems möglichst einfach in bisherige Prozesse integrieren lassen.
Dazu wird demnächst das Stem Creator Tool bereitgestellt. Eine Stand-Alone-Software, in die sich jene vier Spuren einspeisen lassen, die zusammen den fertigen Track ergeben. Das Tool erstellt daraus eine stem.mp4-Datei, die sich auf jedem MP4-fähigen Player abspielen lässt und mit jeder Stem-fähigen Software auseinandernehmen lässt. Um die Entwicklung letzterer über NI-Produkte hinaus zu fördern, ist das Stems-Format offen. Entwickler können sich alle erforderlichen Spezifikationen inklusive Code-Beispielen direkt von der Website ziehen.
Allerdings: Stems teilt den Track in vier Spuren, was nur einem Bruchteil der Spurenanzahl entspricht, aus der ein durchschnittlicher Track heute besteht. Damit müssen auch unter einzelnen Stems-Spuren mehrere Einzelspuren vereinigt werden. Einerseits muss der Produzent dadurch entscheiden, welche Spuren eine Isolation wert sind und welche Kombination aus Spuren auch ohne den Rest funktioniert. Auf der anderen Seite kann er so bereits beeinflussen, wie der eigene Track im (Re-)Mixing verwendet wird, indem er entweder nur die Gesangsspur oder nur die Drumspur isoliert und andere Elemente zusammenhält.
Interessant bleibt, welche Konsequenzen dieses neue Format eigentlich ergibt. Bisher kann man nur spekulieren. Der Zugriff auf einzelne Spuren erlaubt völlig neue Möglichkeiten in Sachen DJing und Remixing, das leuchtet sofort ein. Demnächst kann der DJ Modeselektors Drum-Spur nehmen und Francesco Tristanos Pianospiel darüber legen. Es wird völlig neue Mashups geben. Wer Traktor jetzt schon benutzt, um einzelne Sequenzen aus Tracks herauszupicken und mit anderen Tracks zu mischen, wird es in Zukunft durch die Isolation einzelner Spuren noch leichter haben.
Man könnte eine Explosion in Sachen Vielfalt erwarten, doch bleibt diese vorerst fraglich. Denn nur, weil die technischen Möglichkeiten gegeben sind, bedeutet das nicht, dass diese auch genutzt werden. Es werden sich beliebte, funktionierende und damit gern genutzte Kombinationen etablieren, die damit vielleicht ebenso erwartbar werden wie ein Wobble-Bass im Dubstep-Set. Es wird gute und schlechte Beispiele für die Nutzung von Stems geben – so viel ist sicher.
Bisher tummeln sich unter den Partnern fast nur Akteure der elektronischen Tanzmusik. Die Genre-schmelzenden Möglichkeiten, die sich aus Stems ergeben, werden erst dann zum Tragen kommen, wenn auch Künstler und Labels aus anderen musikalischen Ecken im neuen Format veröffentlichen. Dass es hier noch dünn aussieht, dürfte der Nähe von Native Instruments zur elektronischen Musik geschuldet sein. Denn natürlich wird zum Start erstmal die eigene Kontaktliste durchtelefoniert. Man kennt sich, hier muss wenig Überzeugungsarbeit geleistet werden.
Vielleicht sind HipHop, Jazz und Soul in dieser Hinsicht erfolgsversprechende Stoßrichtungen, bilden sie zusammen doch die Ur-Symbiose des Sampling – und nichts anderes ist die Nutzung einzelner Fremd-Elemente für eigene Produktionen letztendlich. Und da ein digitaler Markt für Jazz und Soul im Prinzip nicht existiert ist, könnten an dieser Stelle ganz neue vertriebliche Chancen entstehen.