AuseinandergefetztDie documenta und ihre Zerreißprobe. Ein Update.
21.7.2022 • Kultur – Text: Matti HummelsiepTrotz Antisemitismus-Debatte, stockender Kommunikation, Rücktritten etc. gibt es auf der documenta fifteen tatsächlich Kunst zu sehen. Unser Autor Matti Hummelsiep war in Kassel und hat tolle Dinge entdeckt. Auch wenn die Diskussion um „People's Justice“ natürlich auch seine Berichterstattung bestimmt.
Das Werk „People’s Justice“
Die documenta erlebt ihre bisher größte Krise. Ausgangspunkt war das Werk „People’s Justice“ des indonesischen Kollektivs Taring Padi, das ausgerechnet am zentral gelegenen Friedrichsplatz aufgestellt war, dem wichtigsten und sichtbarsten Ort einer jeden documenta. Das große Plakat aus dem Jahr 2002 wurde von verschiedenen Künstlern erstellt und zeigt eine Reihe von Soldaten, Fratzen und Clowns. Die Aufregung bezieht sich auf einen Soldaten mit Davidstern auf seinem Halstuch und der Aufschrift „Mossad“ auf seinem Helm. Ebenfalls zu sehen: ein Mann mit Schläfenlocken, spitzen Zähnen und einem Hut mit SS-Runen darauf. Soweit, so geschmacklos.
Figurative Elemente sind typisch in der indonesischen Malerei. So stehen Schweine für Völlerei, Hunde sind ein Werkzeug der Gewalt, der Grausamkeit, die Ratte ist ein Symbol für Korruption – es gibt unzählige weitere. Eine dem tradierten Schattenspiel zugrunde liegende Symbolsprache, die vor allem Gerechtigkeit für die Allgemeinheit einfordert, von Missständen erzählt und in den Augen der Urheber:innen die Bösen an den Pranger stellen soll. Ob das interessante Kunst ist, sei mal dahingestellt. In jedem Fall sehr politisch.
Der Skandal nach dem Skandal
Man hätte das Bild hängen lassen können. Man hätte über diesen konkreten Fall reden können, Kontextualisierungen auf nationaler und globaler Ebene ausloten können, Missverständnisse ausräumen oder schlichtes Unwissen in Wissen transformieren können. Es war weder eine aktuelle Auftragsarbeit, noch ist den Macher:innen des Werkes eine antisemitische Haltung nachzuweisen. Stattdessen folgte aber eine maßlose verbale Aufrüstung von verschiedenen Seiten, begleitet von mahnenden Worten, hysterischen Statements, Rücktrittsforderungen, Schuldzuweisungen und zwanghaften Versuchen, sei es von Politiker:innen, Künstler:innen selbst und jüdischen Institutionen, die Deutungshoheit zu behalten.
Natürlich geht es auch um Macht, um Kompetenzen, auf die gepocht wird, und nicht zuletzt um das eigene Ansehen.
Künstler:innen-Gruppen sprachen von Zensur, Doron Kiesel vom Zentralrat der Juden auf einer anschließenden Podiumsdiskussion am 24. Juni von einer „tiefen Vertrauenserschütterung an der Gesellschaft“. Was blieb, waren Ungeklärtes und Ungereimtheiten. Die Werkzeuge, mit denen man gerade den schwelenden Konflikt zu lösen zu versuchte, waren offensichtlich nicht die richtigen. Waren es überhaupt bewusst gewählte Werkzeuge, oder eher hilflose Versuche nach einem Ausweg?
Hatten die Verantwortlichen der documenta und die diesmalig eingeladenen Künstler:innen nicht alle Zeit der Welt über mögliche antisemitische Nuancen im Vorfeld zu sprechen? Kann man von Kurator:innen (egal von woher), die eine der größten und wichtigsten Kunstschauen der Welt verantworten, nicht erwarten, dass der zentrale Friedrichsplatz mit deutlich mehr Obacht bespielt wird? Die Antwort ist so überraschend wie ehrlich: „Natürlich haben wir davon gehört, und es gab Diskussionen in unseren Kreisen. Aber in der indonesischen Kulturszene wird das Thema Antisemitismus nur selten angesprochen, so dass wir nicht genau wissen, was genau Antisemitismus ist, oder welche Gesetze es in Deutschland dazu gibt und was nicht. Wir aus Indonesien kennen das nicht“, sagte Bayu Widodo von Taring Padi.
Reaktionen auf indonesischer Seite
Das Kollektiv ruangrupa, künstlerische Leitung der documenta fifteen, war von den Reaktionen nicht überrascht, sondern schockiert, sagten sie danach. Das Kollektiv Taring Padi, Urheber von „Peoples’s Justice“, entschuldigte sich mehrmals und hat erkannt, dass man in Deutschland nicht einfach so Kunstwerke mit antisemitischer Bildsprache ausstellen kann: „Wir haben eine Erklärung abgegeben, wir haben sie kommuniziert. Das ist unsere Form der Rechenschaftspflicht. Wir werden uns bemühen, die von uns geplanten Programme zu Ende zu führen. Es gibt zwar einen gewissen Druck, aber unser Geist, hier zu arbeiten und Solidarität zu mobilisieren, muss weitergehen, denn das war von Anfang an unsere Absicht und unser Geist“, sagte das ruangrupa-Mitglied Muhammad „Ucup“ Yusuf in einem Interview.
In Berlin äußerte sich am 6. Juli Ade Darmawan von ruangrupa vor dem Ausschuss des Bundestages zu den Hintergründen des Kollektivs. Es sei als aktivistische Gruppe, wie viele andere, Ende der 1990er-Jahre entstanden, nach jahrzehntelanger Gewaltherrschaft und Unterdrückung. Endlich sei man frei gewesen und man wolle die Meinungsfreiheit und die Akzeptanz der Vielfalt auch auf der documenta feiern, statt Zensur zu erleben, wie sie in Indonesien allgegenwärtig ist. Trotz des Zuspruchs von vielen Seiten erklärte Darmawan auch: „Wir möchten diese Gelegenheit nutzen, um die Öffentlichkeit darüber zu informieren, dass wir, ruangrupa und das künstlerische Team, zusammen mit unseren Mitarbeitern – Künstlern und Teammitgliedern, die für die documenta fünfzehn arbeiten – als Ergebnis und Reflexion dieses Klimas bis zum heutigen Tag auf mehreren Ebenen Schikanen ausgesetzt sind, physisch und digital.“
Lohnt die documenta fifteen trotzdem?
Das Konzept der documenta fifteen geht so: Nicht die Künstler:innen und ihre Werke stehen im Mittelpunkt, und auch nicht die Besuchenden. Es geht um um eine gerechte Welt, nachhaltige Lebensformen und gesellschaftliche Fragen. Kunst also als prozessualer Vorgang, nicht als Produkt für den Markt. Im Mittelpunkt hat die künstlerische Leitung um das Kollektiv ruangrupa aus Indonesien den Begriff lumbung gestellt. lumbung bezeichnet eine Reisscheune im Indonesischen, in der eine Dorfgemeinschaft ihre Ernten gemeinsam aufbewahrt und verwaltet. Andere weltweit agierende Initiativen schlossen sich ruangrupa an, und die sogenannten lumbung-Künstler:innen erarbeiteten das Konzept und die Umsetzung für die 32 Venues in Kassel, samt Webradio und eigenem Kiosk. Das Konzept klingt vielversprechend und originell, doch es verheddert sich bisweilen zu sehr in kollektivistischer Beliebigkeit. Und als Besucher fragt man sich oft: Ist das Kunst oder eher eine politische Mitteilung?
Neben all der aktivistischen Ansätze gibt es auch viel Originelles zu entdecken: So etwa vom vietnamesischen Nhà Sàn Collective, das im Garten eines Hauses aus dem 19. Jahrhundert Pflanzen aus der Heimat angelegt hat und die Frage stellt, inwiefern die von Migrant:innen mitgebrachten Samen lokaler Gewürze, Kräuter und Pflanzen in einer fremden Heimat überhaupt gedeihen können. Dazu kann man sich dort die Haare schneiden lassen, oder selbst hergestellten Wein genießen. Auf der großen Karlswiese vor der Orangerie steht eine abends beleuchtete Kräutersauna, es gibt ein Open-Air-Kino, und The Next Collective aus Nairobi hat ihre begehbare Installation „Return to Sender“ aus Altkleidern aufgebaut. Rundherum liegen Unmengen an Elektroschrott und es lässt sich nur erahnen, wieviele Millionen Tonnen dieses Mülls der Westen in afrikanischen Ländern ablädt. Ursachen und Auswirkungen werden von verschiedenen Beteiligten im besagten Altkleiderhaufen in Video Snippets erklärt.
Fazit
Es ist traurig zu sehen, dass gerade diejenigen, die stets für kontroverse Diskussionen und eine demokratische Meinungsbildung einstehen, nun an genau dieser Aufgabe zu zerbrechen scheinen. Warum wird ein Kunstwerk umständlich eingehüllt und dann abgebaut, als ob ich mir als Besucher nicht eine eigene Meinung bilden kann? Warum wird eine so wichtige und gewachsene Kunstschau mit über 1.500 teilnehmenden Künstlern:innen, jahrelanger Vorarbeit und Millionen an Fördergeldern derart auseinandergefetzt? Und warum sollen immer zuerst Köpfe rollen? Inwiefern hat sich die documenta mit der künstlerischen Leitung aus Indonesien über antisemitische Tendenzen im Vorfeld ausgetauscht? Warum wusste ruangrupa nichts von der nationalsozialistischen Symbolsprache, die bei „People’s Justice“ verwendet wird? Leider hat die documenta fifteen durch diesen Vorfall eine bleibende Narbe erhalten, die sie sich schon ab dem ersten Tag nach der Eröffnung zugezogen hat.
Kunst und Politik werden auch in Zukunft nicht immer einer Meinung sein, oder zu keiner Lösung kommen. Während die Kunst bestehende Antworten in Frage stellt, ringt die Politik stets um das Gegenteilige, nämlich darum, Antworten, einen gesunden Mittelweg zu finden. Dass da gerade verschiedene Instanzen aufeinanderprallen, ist ebenso interessant, wie vermeidbar.
(Kultur-)politik ermöglicht den strukturellen Rahmen, ohne inhaltlich Einfluss zu nehmen. Das muss so bleiben, ohne Zensur, auch wenn das nicht garantiert, dass es nicht erneut an anderer Stelle zu Empörungswellen und Kritik kommt. Doch das hält die Demokratie aus, muss sie.