Unnahbare Greifbarkeit für die MassenEs war live und wir dabei: Billie Eilish spielt für die Telekom
7.6.2022 • Kultur – Text: Marcus BoxlerNoch vor ihrer offiziellen Europa-Tour erlebten rund 2.000 Menschen einen besonderen Gig des US-Popstars Billie Eilish in Bonn. Ein Konzerterlebnis, das viel mehr repräsentiert, als auf den ersten Blick deutlich wird.
Electronic Beats, das musikalische Experimentierlabor der Deutschen Telekom, lud am 1. Juni 2022 rund 2.000 Menschen nach Bonn. Die Ankündigung? Billie Eilish spielt ein Akustik-Konzert, begleitet und unterstützt von ihrem Bruder Finneas. Billie Eilish, die mit 20 Jahren zur Realität gewordene Idee eines Superstars, eine lebende Ikone. Eigentlich füllt die Künstlerin ohne Probleme die zehnfache Zuschauer:innen-Kapazität. Und normalerweise würde man bei 2.000 anwesenden Augen- und Ohren-Paaren auch nicht von Intimität sprechen. Wie stellt man sich livemusikalische Intimität vor mit einer weltbekannten Sängerin, die mehr als 90 Millionen Tonträger verkauft hat, über 22 Milliarden Streams verzeichnet, jährlich mit der Vogue dasselbe Interview führt und aktuell über 103 Millionen Follower:innen auf Instagram hat? Doch die Besonderheiten für dieses Konzerterlebnis geschehen nicht, wie man annehmen müsste, auf der Bühne. Sondern davor, dabei. Im Pit und rundherum.
Das Konzert war, im besten Sinne des Wortes, nett. Natürlich spielen die Texte in Billie Eilishs Musik eine entscheidende Rolle. Sie artikuliert die Entwicklungsprozesse von Macht, Repräsentation, Identifikation und Selbstbehauptung. Individuell und objektiv. Und: Sie verarbeitet sie auch. Es hat gute und nachvollziehbare Gründe, warum Millionen von Menschen sich in ihren Texten wiederfinden. Sie durchdringen jedoch keinen Raum mit 2.000 Menschen.
Warum? Ein kurzer gedanklicher Exkurs hierzu: Wenn Morgan Freeman Songtexte von Justin Bieber oder Oliver Kahn Lyrik von Rilke rezitiert, hat das eine vergleichbar bewegende Wirkung. Jedoch speist sich deren Kraftpotential aus den medienbedingten Darstellungsweisen. Hätte „der Titan“ des deutschen Torwartfußballs „Der Panther“ in der Allianz Arena vorgetragen, wäre diese Rezitation klanglos verpufft. Es ist die (vermeintliche) Intimität der Kamera, die diesem Gedichtvortrag eine spürbare Atmosphäre verleiht.
Billie Eilishs Musik lebt von Distortion, Hall, lang gezogenen Sub-Bässen – der ganzen Palette elektronischer Verzerrung und Bearbeitung.
Sie durchdringen also keinen Raum mit 2.000 anwesenden Menschen. Auch nicht die ohnehin als Balladen angelegten Songs der Alben „WHEN WE ALL FALL ASLEEP, WHERE DO WE GO?“ und „Happier Than Ever“. Insbesondere dann, wenn sie neben Billie-Klassikern wie „Bad Guy“ oder „Ocean Eyes“ performed werden. Billie Eilishs Musik lebt von Distortion, Hall, lang gezogenen Sub-Bässen – der ganzen Palette elektronischer Verzerrung und Bearbeitung. Mit Sicherheit ist es eine interessante Erfahrung für Künstler:innen, mit den Bedingungen der eigenen Sound-Produktion und -Präsentation zu experimentieren. Hierin besteht auch eine besondere Stärke der Marke Electronic Beats: bewusst oder unbewusst außergewöhnliche Rahmenbedingungen für die Erlebbarkeit von Live-Musik zu setzen.
Das wahre Spektakel aber spielte sich im Zuschauer:innen-Raum ab. Sowohl Backstage als auch im Verlauf des Konzertes. Es ist das Publikum sowie die Veranstalter:innen an sich. Und ihre Art, Erinnerungen zu dokumentieren. Gehen wir einen Schritt zurück. Eine Vielzahl von Artikeln – Guardian, Zeit, Musikexpress, um nur manche zu nennen – haben sich sowohl im Kontext dieses Konzertes als auch zuvor die Frage gestellt: Machen Handys Konzerte kaputt? Einzelne Venues und Veranstalter:innen verbieten mittlerweile sogar Mobiltelefone auf ihren Konzerten. Gerne wird sich im Zusammenhang mit dieser Fragestellung auf „die Forschung bezogen“. In diesem Artikel verweist der Autor bereits im Header auf seine Theorie: „Die Wissenschaft beweist, dass dein Handy den Konzertbesuch ruiniert“, tituliert der zornige Schreiber hier und verklärt, dass sich die Studie vorrangig auf ruhende Objekte im musealen Ausstellungskontext bezieht. Wer sich seriös mit der Idee auseinandersetzt, wird merken, dass Handys die Vorboten der Zukunft von Live-Musik-Erfahrungen sind.
Flash-forward zum Billie-Eilish-Konzert. Natürlich spürt auch die Telekom, wie groß die Zielgruppe ist, die sich hinter der Pop-Ikone versammelt. Zur Berichterstattung geladen waren, wie seit einigen Jahren üblich, neben Pressevertretungen altehrwürdiger Print- und Nachrichteninstitutionen auch Influencer:innen, die teilweise jünger sind als Eilish selbst. Auch die Pressemeldungen von Electronic Beats versprachen Begegnungen mit „Luna Schweiger, Emilia Schüle, Jannis Niewöhner, Faye Montana oder Lena (von Lisa & Lena)“. Und es ist ein spaßiges Chaos, zu beobachten, wie diese Welten aufeinandertreffen.
Die Diversifizierung von Vermarktung durch Influencertum hat einerseits mehr Sensibilität gegenüber gesellschaftlich relevanten Topoi beschleunigt, andererseits eine gewisse Gleichgültigkeit außerhalb der eigenen Bubble potenziert.
Das geht schon beim Empfang los. Am Crémant nippend, werde ich von einer Mitarbeiterin des Marketings angesprochen, ob ich mich nicht auch für ein Foto vor die Fotowand stellen mag. Augenscheinlich wusste sie, ebenso wie viele der „altehrwürdigen Pressevertreter:innen“, nicht einzuordnen, wer nun wer ist. Ich übe mich in Transparenz: „Ich bin selber Presse, weiß ich nicht, ob sich das für euch lohnt.“ „Ist doch egal. Dein Look ist fesch, komm mal vor die Wand.“ Dauert aber noch ein bisschen, weil Sängerin Esther Graf noch nicht mit ihrem Shooting durch ist. Ob das „who is who“ auch wirklich dieselbe Relevanz hat wie vor einigen Jahren, ist natürlicherweise streitbar. Die Diversifizierung von Vermarktung durch Influencertum hat einerseits mehr Sensibilität gegenüber gesellschaftlich relevanten Topoi beschleunigt, andererseits eine gewisse Gleichgültigkeit außerhalb der eigenen Bubble potenziert. Nicht nur an den blitzschnell scannenden Blicken jugendlicher Fans vor dem Einlass konnte man ablesen, ob sie die Influencer:innen in den heranfahrenden Limousinen einzuordnen wussten oder nicht. Auch im Verhalten dieser Mitarbeiterin war eine respektvolle Gleichgültigkeit lesbar: Keine Ahnung wer du bist, keine Ahnung, wer die alle sind, aber irgendwie fesch seid ihr schon alle.
Handys ragen in die Luft, Streams gehen auf TikTok, ein paar Boomer übertragen auf Instagram und wahrscheinlich hat ein Gespenst den Act auf Facebook hochgeladen.
Die nächste Szene spielte sich wenige Minuten später ab. Von einem Journalistenkollegen (liebe Grüße C.!) werde ich angesprochen. Ich möge die unverhohlene Frage verzeihen, natürlich müsste man sich kennen, aber: Wer bin ich doch gleich? Immerhin wurden Fotos gemacht. Wie weit das Verständnis füreinander, für die unterschiedlichen Arbeits- und Rezeptionsweisen führt, wird zuletzt beim eigentlichen Auftritt von Billie Eilish sichtbar. Hunderte Handys ragen in die Luft, Dutzende streamen das Konzert live auf TikTok, ein paar Boomer streamen auf Instagram und wahrscheinlich hat ein Gespenst den Act auf Facebook hochgeladen. Und warum ist das nun besonders? Oder gut? Weil das die Zukunft von Live-Musik voraussagt.
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Web3, NFTs, Metaverse und Billie
Diese Billie-Eilish-Begeisterten haben nicht nur einem erweiterten Millionenpublikum einen Zugang zum limitierten Telekom Forum geboten, sondern auch vor Ort Anwesenden neue Blickpunkte eröffnet. Ich bewege mich im Verlauf des Auftritts vom vorderen Bühnenrand in die hintere Publikumsabteilung. Und ahnte schon, dass ich vielen ergriffeneren Fans hier die Sicht versperren und „den Vibe killen“ würde. Dass Billie Eilish irgendwann in die Flagge der Ukraine ummantelt auf der Bühne stand, konnte selbst ich nur über Live-Streams verfolgen – in den hinteren Reihen waren solche Bühnendetails nicht mehr zu erkennen. Mit all ihren Handys erzeugen Musikfans einen prismatischen Blick auf ein Erfahrungsspektrum, das ein solches Live-Konzert verspricht und ermöglicht. Mit dem Aufstieg von Web3, von NFTs und virtuellen Welten im Metaverse verändert sich alles. Momentan ist die Durchdringung noch nicht überall spürbar, doch sie kommt. Travis Scott, Ariana Grande und DJ Marshmallow geben Konzerte in Fortnite, Boris Brechja hat tagelang in Electronic Beats’ virtueller Roblox-Welt aufgelegt und Snoop Dogg, Deadmau5 und Steve Aoki haben sich bereits ihre Plätze in Sandbox, einem der wichtigsten Metaverse-Projekte gesichert. Die digitale Dokumentation und (Online-)Archivierung von Live-Ereignissen sind Vorboten für immersive, konzertante Aufführungen in der Zukunft. Man darf diese Vorzeichen nicht als kulturpessimistische Abstraktion einer Black-Mirror-Folge deuten, sondern muss sie als das erkennen, was sie eines Tages sein könnten. Paratexte virtueller Konzerte, die nicht mehr „nur“ live stattfinden. Man stelle sich eine Live-Bühne vor, vor der man buchstäblich jede Perspektive, jeden Blickwinkel, jede Nähe und jede akustische Wahrnehmbarkeit erleben kann. Und das von jedem Ort auf der Welt, ohne stundenlang nach Bonn fliegen oder fahren zu müssen.
Vermutlich speist sich ein Teil von Eilishs Erfolg aus ihrer unnahbaren Greifbarkeit für junge Menschen, vor allem junge Frauen, wie der jährliche Nielsen-Report nahelegt. Bekannt geworden über Soundcloud, Projektionsfläche für alle Ideen, in denen sich ihre Zuhörer:innen-Schaft wiederfindet. Sie repräsentiert wie keine andere Persönlichkeit eine Kunstfigur, die aufgrund ihrer Biografie, ihrer Texte, ihres Social-Media-Auftritts und ihrer Live-Akustik-Konzerte eine unmittelbare Nähe zu ihrer Fangemeinde und darüber hinaus aufbaut. Und die gleichzeitig nicht weiter entfernt sein könnte aufgrund der Aufmerksamkeit und des kommerziellen Erfolgs, die ihr zuteil werden. Doch mit diesem Konzert haben alle Anwesenden eine chaotische Mischversion dessen erfahren, was die Vergangenheit von Live-Musik ausgemacht hat – und was sie in Zukunft ausmachen könnte.