Opposition ist MistBuchkritik: „Von hier an anders“ von Robert Habeck
8.2.2021 • Gesellschaft – Text: Jan-Peter WulfIn seinem neuen Buch skizziert Robert Habeck seine persönliche politische Agenda und zugleich die seiner Partei Bündnis 90/Die Grünen – für den nicht unwahrscheinlichen Fall einer Regierungsverantwortung auf Bundesebene ab Herbst 2021. Alle mitnehmen, Widersprüche erkennen und durch Einvernehmen überwinden, ist sein Ansatz für eine Politik einer neuen, pluralistischen Mitte. Das Navi für die Fahrt nach vorne ist programmiert, aber den nötigen Blick in den Rückspiegel vergisst der Autor bisweilen. Findet Jan-Peter Wulf.
Man kann sie sich so richtig bildhaft vorstellen, die fiese Szene am Anfang seines Buchs: Robert Habeck steht nach einer mal wieder langen Zugreise durchs Land (viele Reisen sind lang, wenn man wie er privat bei Flensburg wohnt) im Hamburger Hauptbahnhof, oben auf der Galerie, und blickt auf die Gleise. Wo nur wenig los ist. Die Pandemie ist ausgebrochen und wo sonst ein reges Treiben herrscht, steigen nur diejenigen ein und aus, die es unbedingt müssen. Und dann läuft jemand vorbei und zischt ihn an: „Erschießen sollte man dich!“
Habeck ist steifen Gegenwind gewohnt und witzelt gar, dass er als Nordlicht das Duzen Unbekannter eigentlich gut finde. Aber das, was da gerade am Geländer passiert ist, nimmt ihn mit. Er fragt sich: Woher kommt der unverblümte Hass? Warum werden Menschen wie er, Politiker*innen, so angefeindet, über jegliche Form sachlicher Kritik hinaus? Sein neues Buch handelt davon, wie gespalten und polarisiert unsere Gesellschaft ist, und davon, sagt ja auch der Titel, wie es anders werden kann, von hier an, quasi ab Hamburg Hauptbahnhof. Wie lässt sich Konsens herstellen, wie vereint man gesellschaftliche Veränderungen und die Angst vieler davor? Wie überwindet man den Widerspruch zwischen Fortschritt und dem damit für viele eingehenden – entweder befürchteten oder tatsächlichen – Abstieg?
Fahrstuhl oder Paternoster?
Das Soziologie-Schwergewicht Ulrich Beck sprach einst, darin erinnert Habeck, vom Fahrstuhleffekt: Wir (Deutschen) sind alle nach oben gefahren seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Der neue Soziologie-Star Andreas Reckwitz entgegnet dieser Auffassung mit dem „Paternoster-Effekt“: Wenn es für einige aufwärts geht, geht es für andere abwärts. Zwangsläufig. Fortschritt und Wohlstand nicht für alle, sondern für einige – stets zu Lasten anderer.
Habeck verdeutlicht es am Beispiel Bildung: Der Anteil derer, die studieren, ist in den vergangenen Jahrzehnten markant gestiegen, auf rund die Hälfte eines Jahrgangs. Der alte Hauptschulabschluss hingegen, früher Basis für einen geachteten zum Beispiel handwerklichen Beruf, ist heute Ausdruck von so genannter Bildungsferne und weit davon entfernt, ein Garant für einen guten Berufseinstieg zu sein. Lebenslanges Lernen: Was für die einen Teil der Selbstverwirklichung sein mag, ist für andere eine Geißel. Aus (ökonomischen) Erfolgen entstehen mithin (teilgesellschaftliche) Misserfolge.
Diesen Preis dürfen wir nicht weiter zu zahlen bereit sein, fordert Habeck. Wir müssen Widersprüche im ersten Schritt erkennen und damit umgehen lernen, findet er auch. Seine Vision ist eine neue Politik der Mitte (und damit beantwortet er indirekt auch die Frage, wo die Grünen sich 2021 sehen), die im Sinne von Hannah Arendts Unterscheidung zwischen Macht und Gewalt im Einvernehmen handelt: Es mag nicht über alles Konsens herrschen, wie könnte es das auch. Aber Entscheidungen müssen durch Zuhören, Sprechenlassen, Pro und Contra abwägen und Gegenargumenten Geltung gewähren (im Sinne Gadamers: Könnte der andere recht haben?) getroffen werden. Und es muss versucht werden, alle mitzunehmen. Bei Habeck, als Buchautor bekannt geworden, bevor es ihn in die Politik verschlug, klingt das dann so: „Wenn man eine Politik der Polarisierung überwinden oder zumindest eindämmen will, muss man einen Raum öffnen, in dem unterschiedliche Erfahrungen und widerstreitende Interessen gegenseitig erlebbar werden.“
Endlich mitregieren
Auch wenn er mehrfach betont, es sei ein persönliches Buch, so ist es doch zugleich eine kommentierte Agenda für seine Partei. Sie arbeitet sich an großen Themen wie Bildung, Gesundheit, Digitalisierung, Wirtschaft/Landwirtschaft und Co. entlang ab. Von großen Reformvorschlägen wie Sozialleistungen ins Steuersystem zu integrieren oder Bürger*innen-Räte einzuführen bis zu kleinen, wie Solo-Selbständigen Kurzarbeitsgeld zu zahlen (bookmarken wir uns mal) reicht die Palette der Habeck‘schen Reformvorschläge, mit der er die Grünen als Co-Vorsitzender – ob als Kanzlerkandidat oder nicht, wird freilich hier noch nicht thematisiert – in die Regierungsverantwortung führen will. Die bleierne Zeit der Großen Koalition, das Fliegen auf Sicht, laut Habeck Ausdruck der Perspektivlosigkeit und des Visionenmangels – bald ist sie vorbei. Das Buch schnuppert den Aufbruch, man hört förmlich, wie die Füße unter dem ICE-Tisch vor Tatendrang tippeln, während der Vielfahrer Habeck (muss man ihm zugute halten: Er ist so viel im Land unterwegs und führt so viele Gespräche „mit den Menschen“ wie wohl kaum ein anderer Spitzenpolitiker) die buchgewordene To-do-Liste in seinen Laptop gehämmert hat. Opposition ist Mist, wusste schon Franz Müntefering.
Wo wir gerade bei dem sind: Es ist ja nicht so, dass die Grünen nicht schon mal an den Fleischtöpfen der Macht gewesen wären. Zusammen mit Müntefering. Und Schröder. Doch halt: Wurde da nicht gemeinsam mit den Sozialdemokraten der Aufzugschacht vom Fahrstuhl zum Paternoster restauriert? Habeck betont mehrfach, wie wichtig es sei, dass Selbstkritik und die Fähigkeit zur Selbstkorrektur (zurück) in die Politik kommen. Die Lausitzer Kohlekumpel, Kollektivsymbol für ein Gesellschaft an der okölogisch-ökonomischen Schwelle, habe er früher mit seinen Aussagen verbrämt und ihre Bedürfnisse schlicht nicht verstanden. An anderen Stellen jedoch lässt er das vermissen. Auch wenn er natürlich nicht persönlich für die Agenda 2010 und ihre Folgen verantwortlich zeichnet, er ist erst seit 2002 bei den Grünen, so irritiert es vor dem Hintergrund der Forderung nach mehr Selbstkritik umso mehr, wenn er den größten Niedriglohnsektor der EU anspricht, der ab Anfang der Nuller-Jahre geschaffen wurde, ohne die Mitverantwortung seiner Partei daran zu benennen. Die Tendenz zur Selbstverwirklichung und Liberalisierung als Lebensstil sieht er kritisch, ja sogar als eine der Ursachen der gesellschaftlichen Spaltung an. Gut. Doch wer hat denn im ersten Schröder-Kabinett die „Ich-AGs“ mit an den Start gebracht?
Aus Frieden ist Sicherheit geworden
Dass das zweite grüne Urthema neben der Ökologie, die Friedenspolitik, zur „Sicherheitspolitik“ geworden ist – auch in diesem Buch –, lässt zumindest Interpretationen zu: Kann und will man vielleicht für keinen Pazifismus mehr einstehen, weil man weiß, dass man damit an den Hebeln der Macht vielleicht konfrontiert würde? Über einen Krieg mitzuentscheiden, das wäre ja nicht das erste Mal für die Grünen der Fall (und auch das wird leider nicht reflektiert). Dass die Leitung der parteinahen Heinrich-Böll-Stiftung sich gerade pro Atomwaffen positioniert hat, mag nicht die Position Habecks sein. Aber zumindest könnte man ein wenig skeptisch bleiben, auch wenn es alles sehr gut und plausibel klingt, was der gelernte Buchschreiber auf 400 Seiten auslegt. Von hier an anders? Gerne. Vertrauensvorschuss? Muss jede*r selbst für sich entscheiden.