„Es fahren Panzer durch die Straßen“Über neue Gewaltexzesse in den brasilianischen Favelas nach der WM
31.7.2014 • Gesellschaft – Interview: Ji-Hun KimDie WM ist vorbei. Deutschland ist Weltmeister und alle Hebel schieben sich zurück gen Normalität. Aber ist das wirklich so? Vor einigen Wochen interviewten wir Julia Jaroschewski und Sonja Peteranderl von Buzzing Cities/Favelawatchblog zu den damals aktuellen Geschehnissen in den Favelas in Rio. Aber in welchem Zustand befindet sich das südamerikanische Land, nachdem das große Turnier vorbei ist? Euphorie oder Kater? Oder ist vielleicht sogar alles noch viel schlimmer geworden? Mit dem Verschwinden der medialen Aufmerksamkeit ist die Gewalt in den Favelas wieder drastisch gestiegen, wissen die beiden Journalistinnen zu berichten. Aber nicht nur das. Im Favela-Komplex Complexo do Alemão spielten sich vergangene Woche kriegsähnliche Szenen ab. Es gab zahlreiche Tote und Verletzte. In den Medien findet dieser Terror des Alltags nach wie vor kaum statt.
Hallo Sonja und Julia. Wie ist die Stimmung in Brasilen nach dem Turnier?
Sonja Peteranderl: Die Stimmung ist gemischt. Es gibt einige, die während des Finales gefeiert haben. Wir würden aber nicht sagen, dass es eine große Euphorie gab, die das ganze Land erfasst hat.
Julia Jaroschewski: Oder anders, es war nicht das große Drama, dass Brasilien aus dem Turnier ausgeschieden ist. Viele haben sich sogar gefreut, dass Brasilien nicht im Finale war. So konnte man sagen: Jetzt konzentrieren wir uns wieder mal auf die wichtigen Dinge im Land: die Probleme, die Gesundheit, die Bildung. Bei einem Sieg wäre diese Diskussion untergegangen. Aber auch sportlich war man kritisch, weil die Mannschaft einfach nicht gut gespielt hat.
Aber ist der Fokus auf die Probleme wieder da?
Sonja: Bei den Menschen, die wir gefragt haben, gibt es noch immer die Kritik an den hohen Ausgaben und Kosten der WM, aber auch an den fehlenden Budgets für Bildung etc. Andererseits konzentrieren sich viele wieder auf ihre eigenen Probleme, gerade in den Favelas. Der Alltag geht weiter und das ist für viele bereits eine große Herausforderung.
Julia: Grundsätzlich muss man aber auch erwähnen, dass die Präsidentin Dilma Rousseff während des Turnier bereits mit ihren ersten Wahlkampagnen gestartet hat. Aber auch in den Favelas starteten andere Politiker damit, auf die Straßen zu gehen. Im Oktober finden Präsidentschaftswahlen statt und Rousseff steht kurz vor der Wiederwahl.
Und ihre Chancen stehen gut?
Julia: Ihre Umfragewerte im vergangenen Jahr waren besser. Aber es mangelt tatsächlich an Alternativen, weshalb die Chancen gut stehen, dass sie eine weitere Amtszeit antritt.
Kurz nach Ende des Turniers soll es vor allem in den Favelas wieder drastisch zugegangen sein. Von vielen Schießereien war zu hören.
Sonja: In den größeren Favelas ist die Situation nach wie vor schwierig bzw. ist sogar schwieriger geworden. In der Rocinha gab es während des Turniers schon einige Schießereien, die nun aber wieder verstärkt auftauchen. Im Complexo do Alemão, der eine Ansammlung von ca. 16 Favelas im Norden von Rio ist, gibt es viele Auseinandersetzungen.
Julia: Gerade im Complexo do Alemão ist es eine schwierige Situation, weil es zum einen viele Favelas sind und hier viele Drogenbanden unterwegs sind. Da er groß ist, versuchte der Staat damals hier extrem massiv einzudringen und zu intervenieren, um die Drogenbanden zu vertreiben, was aber nicht geklappt hat. Die Situation ist schlimmer geworden.
Sonja: In der vergangenen Woche ist das Militär in den Complexo reingegangen. Das Schema funktioniert bei einer Besetzung oft so. Erst wird das Militär vorgeschickt, um eine gewisse Präsenz zu schaffen. Dann kommt die sogenannte UPP, eine Art Befriedungspolizei, die eigentlich dafür sorgen soll, das Ganze zu stabilisieren. Jetzt wurde aber noch mehr Militär reingeschickt: Helikopter, Spezialeinheiten haben die Favela durchkämmt. Es gab diverse Operationen, selbst Panzer sind hier durchgefahren. Es hatte was von Krieg.
Waren diese Einsätze eine Reaktion auf verstärkte Unruhen?
Julia: Über die letzten Jahre haben es die Drogenbanden wieder geschafft, verstärkt Präsenz zu zeigen. Dabei sind viele Bewohner wieder in Mitleidenschaft gezogen worden. Sprich, viele Bürger sind gestorben. Auch vermeintliche Mitglieder der Drogenbanden. Das führte zu Kritik seitens der Bewohner Richtung Staat. Meinungen wie: „Was soll die UPP hier? Sie soll raus, hier war früher alles besser“, gibt es öfter hören. Der Staat hat die Kontrolle verloren und will sie jetzt zurück. Es handelt sich hier um eine strategisch wichtige Gegend, auch weil sie eben so groß ist. Und wenn hier die Polizei und der Staat nicht in der Lage sind, für Ruhe und Ordnung zu sorgen, dann ist sie es im Rest des Landes auch nicht. Vergangene Woche kam es aber zu sehr vielen Schießereien. Auch die wichtige Seilbahn (Teleférico des Complexo do Alemão) musste den Betrieb einstellen.
Wie hat man sich das vorzustellen? Geht es primär um Territorialkämpfe unter den Drogenbanden?
Julia: Eigentlich ja. So war es zumindest die letzten Jahre über. Mittlerweile geht es im Complexo do Alemão aber auch darum, dass die Drogenbanden sagen:
Das hier ist unser Territorium und der Staat hat hier nichts verloren.
Ist das Eindringen mit massiver Militär- und Polizeipräsenz eurer Meinung nach überhaupt der richtige Ansatz?
Sonja: Ursprünglich war der Ansatz der UPP ja, dass man nicht auf kollaterale Konfrontationen setzt. Nachdem am Anfang die Besetzungen blutig wurden, wurden die folgenden jeweils angekündigt. Die Drogenbanden wussten also, wenn die Polizei aufkreuzte, was zu weniger blutigen Auseinandersetzungen führte. Die Staatsmacht versucht, bürgernah aufzutreten. Die Befriedungspolizei trägt nicht die martialischen Outfits wie die Spezialeinheiten, die schwarz gekleidet mit schweren Waffen und Totenkopfemblemen durch die Gegend laufen. Die UPP trägt eher helle, leichte Uniformen, was eine Bürgernähe darstellen soll. Nun geht das Konzept aber nicht auf. Die Drogenbanden versuchen natürlich gezielt die Arbeit der Polizei zu torpedieren.
Julia: Es gibt in den Favelas natürlich auch NGOs, die sich für die Lebenssituation der Bewohner engagieren. Das reicht aber nicht, weil die NGOs nichts mit dem Staat zu tun haben. Man muss bedenken, dass Millionen von Menschen in Rio in Favelas leben, aber gänzlich vom Staat abgetrennt sind. Daher ist es nicht zu akzeptieren, dass hier ein rechtsfreier Raum entsteht. Die Menschen haben ein Anrecht auf Ärzte, Schulen und so fort. Und wenn der Staat es nicht über NGOs schafft, hier reinzukommen, versucht er es eben anders: mit der UPP. Dass das auch nicht gut funktioniert und zu massiven Gewaltproblemen führt, dass Polizisten nicht gut ausgebildet sind, dass es zu Repressalien gegenüber der Bevölkerung kommt, stellt man nun fest.
Wenn ich das richtig verstehe, scheint die Macht der Drogenbanden quasi in der Genetik der Favelas verankert zu sein. Anders gefragt: Wollen die Bewohner in den Favelas überhaupt einen Panzer vor der Tür? Beziehungsweise, wünscht man sich eine eine Art „Verstaatlichung“ der Favelas?
Sonja: Da sind die Meinungen sehr geteilt und es hat viel damit zu tun, welchen Status die jeweiligen Menschen in den Favelas haben. Haben sie eine Rolle im Drogengeschäft gespielt? Sind sie vielleicht sogar Opfer von Auseinandersetzungen geworden? Haben sie davon profitiert oder darunter gelitten? In der Rocinha gab es eine Drogengang, die das Ganze kontrolliert hat, was dazu führte, dass es relativ ruhig war. Es ist schwierig zu sagen, ob die Vergangenheit besser war. Es gibt Menschen, die sagen, dass mit den Drogengangs zumindest Ruhe geherrscht hat. Was aber momentan zunimmt, sind Überfälle. Bewaffnete Raubüberfälle, von denen auch Favela-Bewohner betroffen sind.
Julia: Das ist ein recht neues Phänomen. Bislang kamen solche Vorfälle nur in reichen Bezirken vor.
Sonja: Die Einstellung gegenüber der Polizei ist also geteilt. Einige sehnen sich nach der alten Herrschaft der Gangs zurück, wobei es aber eher um die Stabilität geht. Die anderen sagen, es ist gut, dass die Polizei da ist, der Staat eingreift.
Julia: Es ist einfach ein sehr komplexes Thema. Wenn die Polizei mit Gewalt vorgeht, was weiterhin nicht annehmbar ist, wenn Menschen verschwinden, gefoltert und die Leichen verscharrt werden, dann darf man nicht annehmen, dass die Drogenbanden gegenteilig Heilige sind. Auch hier werden Menschen einfach umgebracht und verschwinden. Da ist die Angst der Bürger aber größer. Gegenüber der Polizei zu sagen, dass sie schlecht ist und böse Dinge tut, ist in der Tat einfacher, als das Gleiche gegenüber den Drogenbanden zu äußern. Es ist verflochten. Die Polizei ist mit den Banden verbandelt. Heute wurden in der Rocinha Polizisten angeklagt, weil sie korrupt waren, weil sie Bestechungsgelder angenommen haben, damit die Banden in Ruhe ihrer Arbeit nachgehen können. Keiner weiß, wer auf wessen Seite steht.
Eine Art bürgerinitiierte Revolution von innen ist gar nicht vorstellbar?
Julia: Es gibt Initativen. Viele Anwohnervereinigungen diskutieren über die Probleme. Aber das ist ein langer Prozess. Irgendeiner kennt immer einen, der in der Sache mit drin hängt. Die Gangs sind ja keine Truppen, die mit Maschinengewehren durch die Gegend marschieren. Es gibt viele kleine Jungs. Die sind 12, 13 und haben irgendwann ihre erste Waffe in der Hand. Das sind nicht die blutrünstigen Drogengangster. Das ist der Freund von früher aus der Schule oder der Cousin oder Bruder. Das macht es so schwierig.
Über was für Drogen reden wir eigentlich genau?
Sonja: Eigentlich die ganze Bandbreite. Marihuana, Kokain, Crack. Wenn die Polizei aber Funde publik macht, handelt es sich häufig um Kokain und Marihuana.
Wer kauft diese Drogen? Sind es Touristen, reiche Bürger, die in die Favelas kommen oder wie hat man sich das vorzustellen?
Sonja: Über die letzten Jahre haben sich die sogenannten „Flugzeuge“ etabliert. Heißt, es gibt Leute, die in die jeweiligen Bezirke rausfahren, um die Drogen auch in den reicheren Bezirken zu vertreiben. Früher sagte man, dass Drogendealer selber keine Rauschmittel konsumieren. Aber auch das ist nicht mehr der Fall und auch in den Favelas gibt es einen regen Konsum. Das Kundenspektrum ist groß.
Julia: Wobei die Oberschicht und die Mittelschicht die wichtigste Kundschaft sein dürfte.
Sonja: Die haben einfach mehr Geld, um mehr zu kaufen.
Habt ihr nicht manchmal Angst?
Julia: Man muss wissen, wo man sich bewegt. Es gibt Gegenden, wo klar ist, dass es dort gefährlicher ist. Es gibt bestimmte Hotspots. Es kann also durchaus passieren, dass man auf dem Heimweg nach der Arbeit ins Kreuzfeuer gerät. Vor einigen Tagen gab es eine Schießerei und ein Bus ist mitten zwischen die Fronten gelandet. Da geht es eher darum zu wissen, was man tut. Es ist schwierig.
Sonja: Gerade in so einer Situation wie mit dem Bus: Was soll man machen, wenn rechts und links neben dir die Kugeln einschlagen? Die Leute, die drin saßen und uns davon erzählten, meinten, dass die reine Panik ausgebrochen sei. Man kommt auch nicht raus in so einem Moment.
Im Complexo do Alemão gab es kürzlich ein Baby, das während des Schlafs von einer Kugel getroffen wurde, weil die einfach ins Haus eingedrungen ist. Auch eine Frau, die auf dem Sofa saß, traf ein Querschläger durch den Kopf.
Julia: Im Alemão muss man mit den Menschen reden. Gerade wenn es dämmert. So erzählt dir bspw. eine Anwohnerin: Gerade sind hier so und so viele Polizisten hoch. In einer Stunde solltest du da vielleicht nicht mehr lang gehen. Einfach unbehelligt durch die Gegend zu laufen, ist nicht empfehlenswert, vor allem wenn du weißt, da existieren Spannungen.
Sonja: Soziale Medien und das Internet helfen hier aber auch enorm. Bei Twitter und Facebook tauschen sich die Menschen aus, ob und wo etwas gerade passiert. So können Schießereien schneller lokalisiert werden.
Es gibt also eine Art digitalen Bürgerfunk, der auf Gefahren hinweisen kann?
Sonja: Genau. Wir haben Freunde in unterschiedlichen Favelas und durch ihre Kanäle bekommt man einen ganz guten Überblick über die Geschehnisse. In den Massenmedien wird einfach nur ein Bruchteil der Schießereien dokumentiert. Es passiert täglich so viel, das lässt sich alles gar nicht senden.
Wie wird es mit eurem Projekt Buzzing Cities nach der WM nun weitergehen?
Julia: Erstmal machen wir hier weiter. Es war interessant zu sehen, dass zwei Tage nach dem WM-Ende auch die ganzen Journalisten abgereist sind. Zuvor waren überall Kameras an der Copacabana, einige haben sich auch in die Favelas verirrt, aber nun sind sie alle weg. Wie ein blinder Fleck, keiner scheint sich mehr zu kümmern und so steigt die Gewalt auch wieder. Das wollen wir weiterhin abdecken. Wir wollen weiterhin wissen, wie die Menschen hier dazu stehen. Ob sie sich im Stich gelassen fühlen.
Sonja: Wir sind Journalisten. Also schreiben wir weiterhin für verschiedene deutsche Medien. Gerade im Rahmen der anstehenden Wahlen wird es Dinge zu berichten geben. Was hat sich in der Zwischenzeit getan? Gibt es Verbesserungen im Gesundheitssektor? Inwieweit wurden die Versprechen wirklich eingelöst? Für die Rocinha sollte eine Seilbahn gebaut werden. Was passiert damit? Und auch für die offenen Abwasserkanäle, die nicht nur stinken, sondern auch ein Gesundheitsrisiko darstellen, wurden umfassende Sanierungen versprochen. Wir sind gespannt, wie das ausgeht. Das sind schwierige Projekte.
Julia: Das ist auch deshalb von Interesse, weil die Rocinha in der Südzone von Rio zwischen Stadtzentrum und der Olympiastadt liegt. Die Olympiade steht ja auch noch in zwei Jahren an, das darf man nicht vergessen. Die Stadt ist weiter fleißig am Bauen. Da wird es Widerstände geben. Dann kommen die Wahlen. Es wird also politisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich weiterhin interessant bleiben.