Stevens EntscheidungFilmkritik: „The Killing of a Sacred Deer“

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Alle Fotos: Alamode Film

Für The Killing of a Sacred Deer vereint der griechische Regisseur Yorgos Lanthimos erneut Nicole Kidman und Colin Farrell, die in diesem Jahr schon für The Beguiled von Sofia Coppola zusammen vor der Kamera standen. Tim Schenkl hat eine moralische Erzählung gesehen, die ihren Zuschauern nicht mit dem erhobenen Zeigefinger droht.

Am Anfang war das Nichts: Eine schwarze Leinwand. Auf der Tonspur ertönt ein Orchestervorspiel. Dann die Großaufnahme eines pulsierenden Muskels. Eine Operation am offenen Herzen. Ein Chor beginnt zu singen: „Jesus Christus schwebt am Kreuze“. Der Titel in weißen Lettern auf schwarzem Hintergrund: The Killing of a Sacred Deer heißt der neue Film des griechischen Regisseurs Yorgos Lanthimos (Dogtooth, The Lobster). Es handelt sich bei ihm um eine moralische Erzählung.
Die nächste Einstellung: Eine Männerhand entledigt sich blutiger Handschuhe und wirft sie in einen Mülleimer. Im darauf folgenden Bild setzt der Mann seine Operationsbrille ab. Dann schneidet Lanthimos noch einmal zurück in die Einstellung des Mülleimers mit den blutigen Handschuhen und verharrt in dieser. Die Konnotation ist eindeutig: Hier versucht jemand, sich der Spuren vergangener Taten zu entledigen. Dieser Mann ist Steven (Colin Farrell).
Steven ist ein angesehener Herzchirurg. Er lebt mit seiner Frau Anna (Nicole Kidman), einer Augenärztin, in einem riesigen Haus in einem Villenvorort. Stevens Welt ist sauber und geordnet, als klinisch könnte man sie bezeichnen. Alles befindet sich an seinem vorgeschriebenen Ort, glänzt wie neu. Selbst der Sex des Paares ist sauber und kontrolliert. Anna imitiert einen Patienten in Vollnarkose, bevor Steven sich ihr langsam nähert. Wie zwei Geister bewegen sich die beiden durch eine Welt aus gesichtslosen Institutionsbauten, anonymen Wohnhäusern und seelenlosen Glaspalästen. Steve bereitet allein die Vorstellung, seine Uhr durch ein organisches Lederarmband an seinem Handgelenk zu befestigen, starkes Unwohlsein. Er bevorzugt Armbänder aus Edelstahl, da diese auch nach mehreren Jahren noch wie neu aussehen – wie er mehrfach berichtet. Wenn die Natur sich dann doch vereinzelt ihren Bann bricht, so z.B., wenn die erste Regelblutung der gemeinsamen Tochter eintritt, dann wird dies auf derart sedierte Art und Weise verhandelt, dass es sogar als Thema während des Party-Smalltalks keine Irritationen hervorruft.

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Vergletscherte Gestalten

In Michael Hanekes Film Happy End, der ebenso wie The Killing of a Sacred Deer 2017 im Wettbewerb des Festivals von Cannes zu sehen war, nutzt der österreichische Regisseur die Elemente des Horrorfilms, um das selbstgerechte Auftreten seiner dem Bürgertum entstammenden Protagonisten bitterböse zu kommentieren. Auch Yorgos Lanthimos bedient sich für The Killing of a Sacred Deer an den Konventionen dieses Genres, um bei seinen Zuschauern unentwegt ein tiefliegendes Unbehagen hervorzurufen. Immer wieder setzt er das Weitwinkelobjektiv ein, um sich den Figuren langsam und bedrohlich anzunähern, während auf der Tonspur kreischende Geigen zu hören sind, an denen Bernard Herrmann vermutlich seine helle Freude gehabt hätte. Doch während bei Haneke eine Gruppe Flüchtlinge die Party der Reichen und Ignoranten crasht, ist es bei Lanthimos der Teenager Martin (Barry Keoghan), der Stevens komatöse Traumwelt ins Wanken bringt.

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Martin ist der Sohn eines ehemaligen Patienten von Steven, der währen einer Herzoperation verstorben ist. Aus Mitleid oder schlechtem Gewissen hat der Chirurg sich dessen Jungen angenommen und versucht, sich seine Zuneigung durch Geschenke zu erkaufen. Auch seinen Kindern Kim (Raffey Cassidy) und Bob (Sunny Suljic) stellt er Martin vor. Doch dieser ist nicht nicht an teuren Geschenken oder neuen Bekanntschaften interessiert. Er hat nur eins im Sinn: Rache. Als Steven dies bemerkt, ist es bereits zu spät. Bob hat auf medizinisch nicht erklärbare Art und Weise die Kontrolle über seine Beine verloren und ist an ein Krankenhausbett gefesselt. Martin erklärt dem besorgten Vater, dass der Zustand seines Sohnes mit dessen baldigen Tod enden werde und dass Tochter und Frau dasselbe Schicksal erwarte, wenn Steven nicht einen der drei eigenhändig opfere. Steven muss eine Entscheidung treffen, so grausam diese auch sein mag.

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Kinematographisches Worldbuilding

Yorgos Lanthimos’ Steckenpferd ist das kinematographische Worldbuilding. Filme wie Dogtooth (2009), Alps (2011) und The Lobster (2015) spielen alle in Universen, die zwar an die reale Welt erinnern, sich jedoch in ihrer internen Funktionsweise deutlich von dieser unterscheiden. Auch für The Killing of a Sacred Deer entwirft der griechische Regie-Shootingstar wieder eines dieser typischen Lanthimos-Universen, in denen manches von der Norm abweicht und sich mit weltlicher Logik nicht erklären lässt. Doch während frühere Filme häufig für ihre Kreativität und ihren starken Eigensinn gelobt wurden, monierten viele der Kritiker in Cannes diesmal die etwas zu deutliche Anlehnung an filmische Vorbilder. Tatsächlich erinnert The Killing of a Sacred Deer häufig stark an Arbeiten von Stanley Kubrick und Michael Haneke, der die „Vergletscherung der Gefühle“ in der modernen Welt zu einem der bestimmenden Themen seines Werks gemacht hat. Doch im Gegensatz zu Haneke, der häufig für seinen zu hoch erhobenen Zeigefinger kritisiert wird und dessen Arbeiten an filmische Lehrstücke erinnern, lässt Lanthimos seinen Zuschauern deutlich größere Freiheiten und Interpretationsspielräume, und gerade dann, wenn es um Fragen von Moral und Loyalität geht, hat der Regisseur selbst nicht immer eine passende Antwort parat. Ein Richtig oder Falsch existiert in The Killing of a Sacred Deer nicht. Vielmehr sind die Figuren gefangen in einem sadistischen Spiel, aus dem es kein Entrinnen gibt und dessen Ende bereits vorherbestimmt erscheint, noch bevor es wirklich begonnen hat. Und so spielt auch die Frage, ob Steven tatsächlich Schuld auf sich geladen hat oder zu Unrecht in der Bredouille sitzt, nur eine untergeordnete Rolle. Lanthimos’ Werk seine Überschneidungen mit anderen Filmen des Genres zum Vorwurf zu machen, schießt am Ziel vorbei, ist dieses doch ein integraler Bestandteil des Genrekinos. Viel richtiger ist es, den griechischen Regisseur für seine brillante Schauspielführung und seinen eigenwilligen Erzählstil zu loben, denn in beiden Aspekten steht er seinen berühmten Vorgängern in nichts nach.

The Killing of a Sacred Deer
IRL, UK, USA 2017
Regie: Yorgos Lanthimos
Drehbuch: Efthymis Filippou & Yorgos Lanthimos
Darsteller: Colin Farrell, Nicole Kidman, Barry Keoghan, Raffey Cassidy, Sunny Suljic, Alicia Siverstone
Kamera: Thimios Bakatakis
Schnitt: Yorgos Mavropsardis
Laufzeit: 121 min
ab dem 28.12.2017 im Kino

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