Plattenkritik: Tarwater – Nuts Of Ay (Morr Music)Indie-Legenden grüßen aus der Zukunft

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Globale Musikgeschichte durch die Berliner Elektronik-Brille: Ronald Lippok und Bernd Jestram sind auf auf ihrem dreizehnten Album so gut wie noch nie.

Ich habe mehr Fragen als Antworten. Zunächst richten sich diese Fragezeichen an mich selbst. Tarwater, natürlich – Ronald Lippok und Bern Jestram waren irgendwie immer around, haben den Berliner Sound der 1990er-Jahren mitgeprägt, Teile davon bestimmt auch erfunden, als bewusstes oder unbewusstes Gegenstück zur Dancefloor-Kultur. Als die Clubs Mitte der 90er-Jahre immer noch größer wurden, Techno wie ein Virus die Stadt zucken ließ, stellten die beiden Musiker diesem Trend einen Song-basierten Entwurf gegenüber, der nicht weniger faszinierender war – nur eben musikalisch ganz anders motiviert schien. Ob er das wirklich war, wage ich gar nicht einzuschätzen.

Lippok und Jestram kennen sich seit den 1980er-Jahren aus Ostberlin – machen irgendwie auch schon seitdem gemeinsam Musik, immer mal wieder wenigstens. Beide spielten bei Ornament & Verbrechen, eine Band, an die ich kürzlich wieder denken musste, als ich mit Ronalds Bruder Robert Lippok einen Podcast aufnahm.

Ronald Lippok und Bern Jestram aka Tarwater im Portrait

Ronald Lippok und Bernd Jestram. Foto: Sascha Borchardt

„Nuts Of Ay“ ist Tarwaters dreizehntes Album. Hier ist eine weitere Frage an mich: Warum mochte ich die Band immer, erinnere aber so wenig aus der Band-Diskografie? Denn – und jetzt beginnt diese Plattenbesprechung –: „Nuts Of Ay“ ist eine derartig wuchtige LP, dass ich mich sofort krank melden möchte, um die kommenden zwei Wochen nur damit zu verbringen, jeden Ton intensiv nachzuhören, den das Duo bislang auf Tonträger gebannt hat. Auf zwölf Songs verschmelzen hier popmusikalische Einflüsse und Referenzen aus Dekaden des Aufbruchs, die in ganz unterschiedlichsten Genres Dinge aufgebrochen haben. Von klassischem Songwriting über deepe Sound-Design-Entwürfe bis zu ranwerfenden Glücklichkeitsbekundungen: Das Klanguniversum von Tarwater auf „Nuts Of Ay“ ist so offen, so schlüssig und mitreißend, dass ich gar keine Zeit habe, mir noch mehr Fragen zu stellen. Skippen wir die Couch-Session als einfach. Und wippen stattdessen.

Ronald Lippok ist mit seiner Stimme und Intonation vielmehr als der Lou Reed des Prenzlauer Berg. Jestram weiß das als Studio-Wizard und staffelt den überwältigend großen Einfluss-Reigen in Songs, die einfach stehen. Stehen bleiben. Werden. Für immer. Vielleicht hören wir auf „Nuts Of Ay“ endlich nach mindestens 20 Jahren die logische Fortführung der Indietronica-Idee. Vielleicht hören wir aber auch nur den Drang zweier Musiker, die schon praktisch alles gesehen, gehört, gefühlt und mitgemacht haben, eben das einzukochen und für die Ewigkeit ins Regal des Klangarchivs der Weltregierung zu stellen.

In den Bläsern („USA“) höre ich Soft Cells „Torch“ (natürlich in der 12"-Version), gefiltert und verstärkt durch drei blechernde Clubtoiletten-Wände. In den Hallfahnen diverser Songs schimmert Badalamenti in seiner Twin-Peaks-Phase. Klangräume werden auf diesem Album kategorisch zu babylonischen Türmen, zu Assoziationsgebilden, die eine derartig unfassbare Strahlkraft haben, das jedes Stückchen Geräusch Material für einen ganzen Roman hergibt – Romane, die die Welt verändern natürlich. Schneider TM, Masha Qrella und Carsten Nicolai sind dabei (letzterer hat auch das Cover entworfen). Und in den Lyrics wird Tarwater-typisch wild gesampelt und adaptiert. Dass dieses dreizehnte Tarwater-Album mit dem John-Lennon-Cover „Everybody Had A Hard Year“ endet, macht in diesem Kosmos total Sinn: Davon abgesehen, dass der Song wundervoll ist, ist er auch eine Brücke von damals ins Heute oder besser in die Zeit, in der ich den Sound von Tarwater verorte. Endlos oft adaptiert, gibt es zwei Versionen dieses Songs, die mir immer die Welt bedeutet haben. März' Interpretation (Ekkehard Ehlers und Albrecht Kunze auf Karaoke Kalk) und natürlich die Verarbeitung von Haruomi Hosono und Yukihiro Takahashi (Yellow Magic Orchestra). Hier ist wieder alles anders. Und doch so vertraut.

Vielleicht ist das das Geheimnis von Tarwater. Dinge vertraut klingen zu lassen, die auf den ersten Blick gar nicht vertraut sind oder zusammenpassen. „Nuts Of Ay“ ist ein absolut perfektes Album.

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