Filter Tapes 042Festival-Special: Heroines Of Sound 2021

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Grafik: Heroines Of Sound

Am 1. Juli startet das „Heroines Of Sound“-Festival im Berliner Radialsystem. Vier Tage geht es um elektronische Musik – komponiert und produziert von Frauen. Dabei geht es gleichermaßen um alte Heldinnen als auch um Produzentinnen von heute. Ein wichtiges Zeichen gegen Misogynie und für Gleichberechtigung. Wir haben nicht nur ein Mixtape bestellt, sondern uns auch mit Bettina Wackernagel, der Festival-Leiterin unterhalten.

Liebe Bettina, wenn du auf die Geschichte des Festivals zurückblickst: Warum wurde es 2014 ins Leben gerufen? Mit welcher historischen Ausgangslage sah sich das Team damals konfrontiert?
Der „geschlechtslose Sound elektronischer Musik“ ist vor allem Theorie geblieben und gesellschaftliche Rollenstereotypen sind unverändert wirkmächtig. Bis heute ist die Geschichte der elektronischen Musik vor allem von männlichen Komponisten geprägt, die Protagonistinnen erscheinen lediglich am Rande der Musikgeschichte. Ihre Musik ist bis heute kaum in das kulturelle Gedächtnis eingeflossen. Künstlerinnen wie Bebe Barron, Else Marie Pade, Delia Derbyshire, Daphne Oram, Laurie Spiegel, Suzanne Ciani, Pauline Oliveros, Pril Smiley, Alice Shields, Else Marie Pade, Teresa Rampazzi, Beatriz Ferreyra, Maryanne Amacher, Elaine Radigue und viele mehr, die Heroines of Sound bislang präsentierte, haben die Entwicklung der elektronischen Musik maßgeblich mitgeprägt und abseits der von den Studios verordneten Ideologien ihren eigenen Weg beschritten.

Heroines of Sound ist 2014 mit einem zweitägigen Event in der Berghain Kantine gestartet und seitdem aufgrund des Publikumszuspruchs kontinuierlich gewachsen. Von Beginn stand die Idee, frühe und aktuelle Heldinnen des elektronischen Sounds und Künstlerinnen, die elektronische Klangumformung in avancierter Pop- und E-Musik weiterdenken, zu präsentieren und häufig vergessene und unterschätzte Qualität und Vielfalt weiblicher Künstlerinnen im Bereich elektronischer Musik sicht- und hörbar zu machen. Das Programm von Heroines of Sound 2014 präsentierte eine Auftragsarbeit von Electric Indigo, frühe Werke von Else Marie Pade und Laurie Spiegel – neben Performances von Heidrun Schramm, den Femmes Savantes, Julia Mihály, Iris Ter Schiphorst, Catherine Lorent und vielen anderen, verbunden mit diskursiven Panels.

Wie hat sich die Wahrnehmung auf die Protagonistinnen der elektronischen Musik seitdem verändert aus deiner Sicht?
Zwar setzte in den letzten Jahren eine Renaissance der frühen elektronischen Musik und damit auch ihrer weiblichen Protagonistinnen ein. Jedoch werden die weiblichen Pionierinnen hier vorrangig als Ausnahmeerscheinung gewürdigt und in der Regel als singuläre „Ikonen“ auf den Podien der Festivals platziert. Richtig ist: Sie waren Ausnahmekünstlerinnen, aber mitnichten singuläre Erscheinungen. Die Komponistinnen der frühen elektronischen Musik waren vielzählig, sie haben im Feld der elektronischen Musik erfolgreich gearbeitet. Und dennoch sind die Rezeptionslinien abgebrochen. In der elektronischen Musik hat die Reflexion über die herrschenden Geschlechterverhältnisse gerade erst begonnen.

Du erwähnst es: Repräsentation weiblicher DJs und Produzentinnen war in den vergangenen Jahren ein maßgebliches Thema in der Clubkultur. Gleichberechtigtes Booking, Unterschiede bei den Gagen, generelle Misogynie, Übergriffe bis hin zur sexualisierten Gewalt. Die „Szene“ – vielleicht sollten wir besser von einer Industrie sprechen – ist vollkommen kaputt. Oder: Sie war nie in Ordnung. So berichtete es mir auch Suzanne Ciani. Was läuft hier eigentlich schief?

„Es ist gut und wichtig, dass prominente Künstlerinnen ihre Stimme erheben.“

Dass Anerkennung und Chancen auch im Kunstbetrieb des 21. Jahrhunderts noch sehr ungleich zwischen den Geschlechtern verteilt sind, ist kein Geheimnis – sondern der status quo. Daran haben auch die Quotendiskussionen bislang kaum etwas geändert. Der Anteil von Künstlerinnen im Musikbetrieb liegt aktuell bei zehn Prozent. Hinzu kommt ein enormer Gender-Pay-Gap, der in Deutschland im Kultursektor bei 30 Prozent liegt. Erst kürzlich hat Sophie Hunger im „Spiegel“ einen eklatanten Rückschlag moniert, die großen Post-Pandemie-Festivals verzichten im Line-Up gerne ganz auf Künstlerinnen. Ihr Anteil liegt im Promille-Bereich. Es ist gut und wichtig, dass prominente Künstlerinnen ihre Stimme erheben. Es braucht viele für einen Wandel und es braucht flankierende politische Vorgaben, um Gender-Equality zu erreichen. Eine klare Quote für alle öffentlich geförderten Musik-und Kulturveranstaltungen ist unabdingbar – und auch machbar. Katja Lucker und das Berliner Musicboard haben das bereits umgesetzt. Der Maßstab Qualität ist letztlich immer subjektiv. Ich bin überzeugt, dass Qualität nicht leidet, wenn wir Künstlerinnen berücksichtigen. Im Hinblick auf die Heroines of Sound glaube ich, dass das Publikum bereits weiter und offner ist, als die „Gatekeeper“ es wahrhaben wollen. Ohne das Interesse und die Offenheit unseres Publikums wären die Heroines of Sound gar nicht denkbar.

Bettian Wackernagel

Bettina Wackernagel, die Leiterin des Festivals

Nochmal Stichwort Historie: Wie funktioniert das Festival programmatorisch? Wie schlagt ihr den Bogen zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft?
Heroines of Sound setzt auf ein Genre- und generationsübergreifendes Programm. Wir verbinden aktuelle Positionen mit einer historischen Perspektive. Die Idee ist, die Verbindungslinien unterschiedlicher Genres erfahrbar zu machen und die Präsenz von Künstlerinnen im Kunst- und Musikbetrieb kontinuierlich zu stärken. Zur Aufführung gelangen elektronische Sounds mit frühen Werken sowie aktuelle zukunftsweisende Positionen von jüngeren Künstlerinnen von zeitgenössischer Kunstmusik bis hin zum avancierten Pop.

Auch die jüngere Generation von Musiker*innen akzeptiert die Grenzen zwischen Pop, Jazz und experimenteller Kunstmusik nicht mehr. Konzeptuell versiert und gesellschaftskritisch engagiert entwickeln sie eine erweiterte Kunstpraxis, die Klangproduktion und Aufführungspraxis experimentell verbindet.

Bei der Kuratierung achten wir darauf, die Breite an elektronischer Musik zu zeigen, die rund um den Globus existiert. Das Festival zeigt 2021 mehr als 30 Künstlerinnen aus 20 Ländern. Wichtig sind uns Offenheit, Gleichberechtigung, Inklusion und ein demokratischer Zugang. Das Profil eines genreübergreifenden Festivals, das Pionierinnen der elektronischen Musik vorstellt und zugleich gezielt den Blick auf Frauen in der aktuellen Musikszene wirft, ist einzigartig in der europäischen Festivallandschaft. Als feministisch konzipiertes Format kooperieren die Heroines of Sound mit Partner*innen und Institutionen im In- und Ausland und gastierten auf Festivals in Österreich, Slowenien, Niederlanden, Dänemark, Polen, Türkei, Serbien, Italien und Mexiko. Ziel ist, die Künstlerinnen des elektronischen Sounds zu stärken und sichtbar zu machen.

Ist es Zufall, dass viele Komponistinnen früher vor allem in der Klangforschung/E-Musik aktiv waren und nicht im Pop? War die Universität oder das Rundfunkstudio ein safe space?
Universitäten und Studios waren mitnichten ein safe space – im Gegenteil: Die Arbeitsbedingungen waren in der Regel katastrophal, Chauvinismus war völlig selbstverständlich und wurde nicht hinterfragt. So berichtet die argentinische Komponistin Beatriz Ferreyra, die bereits in den1960er-Jahren am GRM in Paris arbeitete, dass sie keine Berechtigung hatte, das Studio für ihre eigene Arbeit zu nutzen. Sie war nur aktiv, wenn die Herren Komponisten in der Mittagspause waren. Sie schreibt: „Ich hatte nicht die Berechtigung im Studio zu arbeiten, weil Parmegiani da sein Stück machte. Wenn er also essen ging, bin ich hinein und machte meine Klänge. Ich entfernte seine Tonbänder und legte sie genau so zurück, wie sie gewesen waren.“ Es ist sicher kein Zufall, dass Komponistinnen wie etwa Pauline Oliveros, Suzanne Ciani, Daphne Oram, Laurie Spiegel oder Françoise Barrière eigene Studios gründeten oder ihre Arbeit im Homestudio fortsetzten.

Wenn du auf das Programm 2021 schaust: Worauf freust du dich am meisten? Nimm uns bitte mit in ein kleines best of des Programms.

Für mich ganz persönlich ist jeder Festivaltag ein Highlight. Das Eröffnungskonzert mit dem Kölner Ensemble Garage bringt ein Heroines-Auftragswerk von Georgia Koumará und die deutsche Erstaufführung von Georgina Derbez Roque, einem audiovisuellen Werk über den Gefängnisalltag von Frauen in Mexiko. Dazu kommen aktuelle Werke von Marta Śniady, Brigitta Muntendorf, Sarah Nemtsov und Neo Hülcker ins Radialsystem. Mit Lisa Rovners Doku Sisters with Transistors über wegweisende Pionierinnen der elektronischen Musik ist erstmalig ein Film im Hauptprogramm – und die Theremin-Virtuosin Dorit Chrysler ist mit einem speziell für sie komponierten Werk der Elektronik-Pionierin Laurie Spiegel zu erleben.

Ein Fokus gilt 2021 der Sound Art. Es freut mich, zwei Arbeiten zu zeigen, die exemplarisch für das generationsübergreifende Programm des Festivals stehen. Als deutsche Premiere präsentieren wir Åsa Stjernas Open-Air-Installation „Earth Song“ (2020/ 2021), die sonifizierte Geodaten akustisch und haptisch erfahrbar macht. Im Mittelpunkt der Hommage an die in New York lebende Komponistin und Klangpionierin Annea Lockwood (1939) steht ihre Klanginstallation „A Sound Map of the Housatonic River“ (2008/2009), ergänzt durch ein Portraitkonzert mit frühen und aktuellen elektronischen Werken. Die Deutschlandpremiere von Sam Greens Filmportrait Annea Lockwood „A Film About Listening“ (USA, 2021) vermittelt einen Einblick in das musikalische Denken dieser wegweisenden Künstlerin, die mit einer sich über fast 60 Jahre erstreckenden Karriere zu den prominentesten Vertreterinnen in der Geschichte von Fieldrecordings, Kompositionen und Installationen mit Klängen aus der Natur gehört. Ergänzend dazu bietet ein Panel am dritten Festivaltag die Möglichkeit, die Aktualität eines klang-ökologischen und post-humanen Denkens und Komponierens sowie den damit verbundenen „New Feminist Sonic Materialism“ weiterzudenken.

Ein weiteres Highlight ist die diesjährige Kooperation mit dem EMS Studio Radio Belgrad – verbunden mit der Residency von Midori Hirano, die ihr im dortigen Studio erarbeitetes Werk „Distant Symphony“ uraufführt. Erstmalig zu Gast ist die Künstlerin und zugleich künstlerische Leiterin des Studios Svetlana Maraš mit einem audiovisuellem Radiokonzert. Das Konzert vermittelt einen guten Einblick zu den Aktivitäten des bedeutenden elektronischen Studios.

Am dritten Festivaltage bringt das Ensemble KNM Berlin jüngere Komponistinnen wie Giulia Lorusso, Malin Bång, Anda Kryeziu, Leah Muir, Mayke Nas, Cat Hope und eine Premiere von Ying Wang (mit Live-Elektronik über Performance bis hin zu audio-visuellen oder installativen Konzepten zur Aufführung.

Der Abschluss am Sonntag bietet ein furioses Line-up der internationalen Berliner Szene: Dorit Chrysler fesselt mit der fast magisch wirkenden Spielweise ihres Theremins in einer Live-Performance. Mit Mary Ocher, die seit langem auf unserer Wunschliste stand, kommen beharrlich leidenschaftliche und kompromisslose Klangexperimente auf die Bühne und das Power-Trio The LIZ präsentiert ein funkensprühendes neues Set.

Last not least: Nach der langen Zeit der Pandemie und des Social Distancing freue ich mich ganz besonders über den Input von Korhan Erel und Dorit Chrysler, die dem Publikums hands-on Workshops anbieten – natürlich nach wie vor Corona-konform: mit maximal zehn Teilnehmer*innen und nur mit Anmeldung.

Das Filter Tape wurde von Helen Heß gemixt. Sie schreibt:
Das Heroines of Sound Festival präsentiert 2021 zum achten Mal Held:innen des elektronischen Sounds mit frühen Werken sowie aktuellen und zukunftsweisenden Positionen von zeitgenössischer Kunstmusik bis hin zum anvancierten Pop. Das Line-up findet sich hier im Tape wieder und enthält Werke der Klangpionier:innen Laurie Spiegel und Annea Lockwood, sowie Ensemblewerke jüngerer Komponist:innen wie z.B. Malin Bång, Georgia Koumará und Sarah Nemtsow. Die internationale Berliner Szene ist vertreten durch u.a. Midori Hirano, Laura Mello und Mary Ocher.

Tracklisting:

  • 1 Annea Lockwood – Buoyant
  • 2 Dorit Chrysler – Swamp Behind My House
  • 3 Georgia Koumará – Trickster’s Parade (excerpt)
  • 4 Mary Orcher – Firstling II
  • 5 Daniela Fantechi – Tickling forest (excerpt)
  • 6 Giulia Lorusso – Untitled
  • 7 Laura Mello – Convida Dezenove (Invite19) (excerpt)
  • 8 Georgina Derbez Roque – La Forza Il Sparvier
  • 9 Sarah Nemtsov – RED
  • 10 Midori Hirano – Belong
  • 11 Neo Hülcker – Luci and Neele (excerpt)
  • 12 Ruth Anderson – Points
  • 13 Ying Wang – TunTu (excerpt)
  • 14 Laurie Spiegel – Appalachian Grove I
  • 15 Mary Orcher – The Irrevocable Temple of Knowledge
  • 16 Malin Bång – arching (excerpt)

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