Wenn Techno Politik wirdMein letztes Wochenende in Tiflis, Georgien
17.5.2018 • Kultur – Text & Fotos: Vincent NeumannDer Leipziger DJ Vincent Neumann war vergangenes Wochenende in Tiflis. Das Khidi, neben dem Bassiani der zweite bekannte Technoclub der Stadt, hatte ihn für das Closing-Set in der Nacht von Samstag auf Sonntag gebucht. Zu diesem Closing kam es nicht. Am Freitagabend führte die Polizei eine Razzia in den Clubs Bassiani und Gallery durch. Daraufhin kam es am Samstag und Sonntag zu Protesten vor dem Parlament. Vincent Neumann war das ganze Wochenende vor Ort, spielte statt eines Sets letztlich bloß zwei Tracks – die allerdings auf dem Platz vor dem Parlament. Was er an diesem Wochenende erlebt und währenddessen empfunden hat, hat er in einem detaillierten Bericht aufgeschrieben.
Ankunft
Als ich am Samstagmorgen gegen drei Uhr in Tiflis ankomme, begrüßt mich Roman vom Club Khidi mit einem Gesicht, das eine Mischung aus Schock, Angst und Hilflosigkeit ausstrahlt. Ich habe keine Ahnung, was passiert ist, saß ich doch die letzten Stunden im Flieger von Istanbul in die georgische Hauptstadt. So gut es geht berichtet er, was kurz zuvor passierte: Die Polizei kam zur Razzia ins Bassiani und ins Café Gallery. Der Grund? Es gab in der jüngeren Vergangenheit mehrere Drogentote, der Club wird von der Polizei dafür verantwortlich gemacht. Denn dort seien Drogen verkauft worden, auch jene „Killer-Droge“, die diese Leute umgebracht haben soll. Schweigend fahren wir zum Hotel. Ich hatte keine Ahnung, wie sich die Dinge entwickeln würden. Ich mache kein Auge zu, denn natürlich will ich spielen, aber zu diesem Zeitpunkt ist schon nicht mehr sicher, ob das klappen wird.
Samstagnachmittag
Ich stehe gegen elf Uhr auf. Sofort sehe ich die Ankündigung der Demonstration und nehme mir vor, zunächst – ganz Tourist – Tiflis anzuschauen und mich später in Richtung Parlament zu bewegen. Ich schaue mir Kirchen an, die Statue Kartlis Deda, bekannt unter dem Namen „Mutter Georgiens“ und jede Menge kleiner Läden und Weinbars.
Der Gig im Khidi steht zu diesem Zeitpunkt immer noch im Raum. Ich denke mir, es könnte cool werden, die Party entgegen des ganzen Troubles einfach durchzuziehen. „Fuck Tha Police“ von NWA würde mein erster Track sein, so der Plan.
Um viertel vor drei komme ich am Parlament an, der Platz ist bereits voller Menschen. Ich bewege mich schnell in Richtung Bühne, erkenne sofort die Jungs von Giegling, die an diesem Wochenende ebenfalls in Tiflis sind. Die Leute vom Bassiani und Khidi, die üblicherweise um das Wochenende konkurrieren, stehen zum friedlichen Protest beieinander.
Ich versuche herauszufinden, worum es in den Ansprachen geht. Man erzählt mir, die Razzien im Bassiani und im Café Gallery seien Teil einer größeren Kampagne gegen den westlichen Lifestyle der Jugend und gegen die Werte, die damit Einzug in Tiflis halten. Einige erzählen auch, die Polizei hätte die Todesfälle durch Drogen bewusst herbeigeführt. Ich bin kein Fan von Verschwörungstheorien, erinnere mich aber daran, dass Georgien immer noch autoritär regiert wird, von einer Regierung, die an Veränderung kein Interesse hat. Es geht nicht um das Bassiani, nicht um das Khidi oder die Gallery, es geht um den Kampf zwischen kulturellen Identitäten, zwischen Mindsets und Generationen.
Gleichzeitig fühlt sich alles ziemlich surreal an. Ich bin in einem Land, über das ich abseits der geographischen Lage, der Hauptstadt selbst und wachsenden Rave-Kultur fast nichts weiß.
Die Sprachbarriere ist unüberwindbar, ich versuche mich in die Demonstration einzufügen, aber will die Leute auch nicht damit nerven, mir alles übersetzen zu müssen. Es werden Schilder hochgehalten, auf denen „Stop Moscow“ steht, es werden Trillerpfeifen verteilt. Dann wird der Gig im Khidi doch gecancelt, aus Solidarität mit dem Bassiani und dem Café Gallery. Ich kann das verstehen, trotzdem trifft mich die Absage. Müde und hungrig geht’s um 17 Uhr zurück in Richtung Hotel.
Auf dem Weg treffe ich nochmal auf Roman vom Khidi, der mir erzählt, dass die Polizei allen Nachtclubs die Öffnung an diesem Tag untersagt habe. Es werde also definitiv keine Party und keinen Gig geben – nirgends.
Samstagabend
Irgendwann kehre ich doch zum Parlament zurück. Sie fangen an Musik zu spielen, die Leute von Giegling legen auf. Der Platz ist mittlerweile rappelvoll, die Straßen sind für zivile Fahrzeuge gesperrt, weil einfach zu viele Menschen auf den Straßen sind. Das Set ist großartig, die Musik passt perfekt (The Age of Love) und im Nachhinein schätze ich, dass ich das niemals so gut hinbekommen hätte, wie Ateq und DJ Dustin.
Währenddessen sind überall Kameras, TV-Wagen, hunderte schicken die Bilder durch ihre Instagram-Live-Stories in die Welt. Es entsteht ein wechselnder Rhythmus aus Ansprachen, Musik, Ansprachen, Musik. Zu diesem Zeitpunkt gibt es keinerlei Gewalt, keine Gegenproteste, nichts in dieser Art. Tamuna vom Khidi fragt mich, ob ich den Kameras für ein kurzes Statement zur Verfügung stehe, aber ich lehne ab. Ich höre mich zwar ganz gerne reden, aber fühle mich mitnichten selbstsicher genug, um hier über etwas zu sprechen, über das ich fast nichts weiß.
Zunächst finde ich es immer noch schade, dass die Party im Khidi entfällt, aber je mehr ich dort bin, je länger ich all diese Menschen völlig frei tanzen sehe, desto mehr begreife ich, wie viel wichtiger ist, was hier gerade passiert.
Jeder, der mir nach diesem Wochenende noch erzählen will, Techno sei unpolitisch, kann sich verpissen.
Für die Menschen hier bedeutet Techno in aller Konsequenz Freiheit und genau das leben sie, dafür kämpfen sie hier – protestieren tanzend. Das zu begreifen ist nicht einfach, wenn man in unserer gesättigten Techno-Bubble zu Hause ist, die jedes Wochenende Partys an jeder Ecke bereithält, besonders in Deutschland. Hier hingegen ist der Club noch der rare – und daher umso energischer verlangte und verteidigte – Safe Space.
Einer der Organisatoren bittet die Protestierenden sich der Polizei zuzuwenden und für eine Minute in völliger Stille die Hände zu heben. Es ist einer der eindrucksvollsten und stärksten Momente dieses Tages. Die Minute scheint ewig zu dauern. Dann fängt er langsam an zu klatschen, die Menschen schließen sich dem langsam an, die Botschaft: Kein Grund für Gewalt, das hier ist friedlicher Protest.
Das Ganze ist bewegend und doch kann ich immer noch nicht ganz fassen, was hier eigentlich passiert. Ich fahre erstmal zurück zum Hotel, Verschnaufpause.
Tamuna schreibt mir gegen 20 Uhr, bittet mich zurückzukommen. Der Protest sei nicht vorbei, Phase Fatale sei ebenfalls vor Ort und internationaler Support wichtig. Der Plan ist, alle internationalen DJs, die in der Stadt sind, spielen zu lassen. Ich erinnere mich an meine Eltern, die in der DDR protestiert haben. Es gibt keinen Grund im Hotel zu bleiben. Also geht’s zurück zum Parlament. Wenn alle Clubs geschlossen bleiben, findet die Party eben dort statt.
Vor Ort treffe ich Phase Fatale, die Masse der friedlich tanzenden Menschen ist inzwischen noch überwältigender. Langsam verstehe ich. Die Leute sind nicht hier, weil sie nichts Besseres zu tun haben, wie bei einem geheimen Open-Air in Deutschland. Sie sind hier, obwohl sie Gefahr laufen, von der staatsfreundlichen Polizei oder Gegenprotestlern aufgemischt zu werden.
Wie viele Leute tatsächlich da sind, ist längst nicht mehr einzuschätzen. Nur eines steht fest: Noch nie haben in Georgien so viele Menschen so lange zu dieser Musik getanzt – zwischen hunderten Polizisten und mit deren Drohnen über den Köpfen. Wie lange das hier gehen wird, weiß keiner.
Ich bewege mich in Richtung Bühne, Phase Fatale und ich treffen wieder auf die Jungs von Giegling. Ich werde von mir unbekannten Leuten erkannt und gefragt, ob ich noch spielen würde. Erst da wird mir klar, dass auch ich ja zum „internationalen Support“ gehöre. Und was für eine große Sache das eigentlich ist.
Leute vom Bassiani, vom Khidi, andere Szene-Angehörige sagen immer wieder den einen Satz: Hier wird gerade Geschichte geschrieben.
Ateq und ich witzeln darüber, wie verrückt und großartig das eigentlich ist. Wir stehen vor mehr als 5000 Menschen in Georgiens Hauptstadt, während neben uns der perfekte Soundtrack zur Stunde abgeliefert wird.
Um 23 Uhr fängt Phase Fatale nach einer weiteren Ansprache an zu spielen. Es beginnt zu regnen, aber die Leute sind vorbereitet. Es erklingen „Überall Polizei, Nirgendwo Gerechtigkeit“ von Metropolis und „The Wipe“ von Teste. Eigentlich soll ich nach ihm spielen, doch laute Musik nach Mitternacht ist in Georgien untersagt, und das Risiko gewaltsam von der Polizei geräumt zu werden, möchte man verständlicherweise nicht eingehen. Als die Musik aus ist, leert sich langsam der Platz.
Zurück im Hotel wird mir endgültig klar, dass ich hier einem vielleicht wirklich historischen Moment beiwohnen durfte. Ich bekomme eine Nachricht von Blind Observatory: „Ey Mann, vor dem Parlament zu spielen, nachdem die Polizei die Clubs geschlossen hat, war die größte Idee überhaupt.“
Ich falle todmüde ins Bett.
Sonntagmorgen
Ich wache gegen zwölf Uhr wieder auf, mein Handy zeigt mir 90 ungelesene Nachrichten von Menschen aus der ganzen Welt, überwältigt von den Geschehnissen in Tiflis. Newa, die gestern ebenfalls da war, teilt mir mit, dass der Protest um 15 Uhr weitergehen soll. Da ich im Khidi das Closing spielen sollte, geht mein Flug erst am Montagmorgen um vier Uhr in der Früh. Wieder hinzugehen steht also außer Frage.
Gestärkt von georgischem Streetfood mache ich mich auf den Weg. Der Aufbau vom Vortag steht noch um die Ecke am Rustaveli Platz, einer der Organisatoren hat die ganze Nacht aufgepasst. Um 15 Uhr sind wieder Menschen auf dem Platz, zirka halb so viele wie gestern. Die heutige Fortsetzung des Protests wurde nicht durch die Clubs Bassiani und Khidi angekündigt.
Trotz der kleineren Teilnehmerzahl ist die Polizei viel stärker vertreten als am Tag zuvor. Auch die Giegling Crew ist wieder da. Ich beschließe noch einmal kurz zum Hotel zurückzukehren – um Fotos und Videos per WLAN hochzuladen – und treffe auf dem Weg auf Hundertschaften der Polizei, die sich auf irgendwas vorbereiten.
Ich mache mir Sorgen, dass die Polizei sich bereitmacht, um den Protest aufzulösen, erfahre später allerdings, dass das Gegenteil der Fall ist. Es geht darum, den Protest vor gewaltsamen Gegenprotesten zu schützen.
Als ich um 17 Uhr zurückkomme, Newa treffe, sie umarme und wir uns freuen, dass dieses verrückte aber tolle Wochenende uns zusammengebracht hat, höre ich jemanden neben uns sagen: „Es geht hier nicht um dich, du Penner.“ Sofort löst sich das Ego wieder auf, ich bin hier bloß Außenstehender, wenn auch Unterstützer. Könnte ich noch spielen, wäre das toll, wenn nicht – nicht weiter schlimm. Das ganze Geschehen ist schon spätestens jetzt viel zu überwältigend. Die Residents des Khidi und ein lokaler Rapper spielen das Warm-up.
Nach einer Zusage, dass ich doch noch spielen könne, höre ich mich sagen: „Ich warte schon seit gestern darauf.“ In der freundlichsten Art und Weise, die ich je erlebt habe, schaut mir mein Gegenüber in die Augen und sagt: „Bro, wir haben 25 Jahre auf diesen Protest gewartet.“ Ein Satz, der meine Perspektive endgültig ins richtige Verhältnis setzt.
Sonntagnachmittag
Dann wenden sich die Dinge. Das hier ist nicht mehr das fröhlich-friedliche Get-together von gestern. Gegendemonstranten, nach Meinung der Veranstalter aus Russland finanziert, machen sich bereit. Das Risiko, sich fliegenden Steinen und Gewalt gegenüber zu sehen, ist von einer Sekunde auf die andere völlig real. Die Anspannung ist viel größer und schließlich ist aus Richtung des Rustaveli-Platzes auch die Front der Gegendemonstranten zu sehen, begleitet von Hooligan-artigen Parolen auf der Tonspur. Einschüchternd. Aus dem Protest auf dem Platz erklingt die georgische Nationalhymne, zweifellos um die Gegendemonstranten zu beruhigen und um Einigkeit statt Feindschaft zu vermitteln.
Als ich mich für die Decks bereitmache, werde ich ausgebremst. Einfach weiterzuspielen, könnte die Situation noch weiter eskalieren lassen. Keiner weiß, wie sich die Dinge entwickeln werden, alle sind vorsichtig, keiner will den Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringen könnte.
Es wird diskutiert, viel mehr als am Samstag, weil keiner die Situation einzuschätzen vermag. Mir wird erzählt, die Gegenprotestler würden versuchen, den Platz einzukreisen und dann von allen Seiten zu kommen. Das wirkt zunächst lähmend, beängstigend, denn es scheint nicht so, als stände die Polizei auf Seiten des friedlichen Protests. Ich spiele dann doch, man bittet mich um nicht-aggressive Tracks, die Anspannung nehmen, statt sie weiter zu erhöhen. Es werden zwei: „We Magnify His Name“ von Floorplan und „Let’s Go Juno“ von Rejected.
Die aggressiven Chöre aus Richtung der Gegendemonstranten sind trotzdem unüberhörbar. Was sie singen, kann ich nicht verstehen, aber nach „Let’s dance together“ klingt es auf jeden Fall nicht – soviel ist sicher.
Sonntagabend
Der Abend gestaltet sich zu einem Hin und Her aus Ansprachen, Diskussion, Sprechgesang und Klatschen. Im Gegensatz zu Samstag steht auch die Frage nach der Sicherheit die ganze Zeit im Raum.
Um 21 Uhr tritt der Premierminister im georgischen Fernsehen ans Mikrofon. Über das Soundsystem vor dem Parlament wird die Ansprache live übertragen. Unter Buh-Rufen und im Angesicht unzähliger nach unten zeigender Daumen sagt er unterm Strich so etwas wie: „Wenn ihr etwas wollt, schreibt es auf, anstatt zu protestieren.“
Um 23 Uhr wird mir klar, dass ich in zweieinhalb Stunden zum Flughafen gefahren werde, seit heute morgen zudem weder gegessen noch geschlafen habe. Ich frage, ob es ok sei, wenn ich gehe. Einer der Organisatoren sagt mir, sicher sei es nicht. Ich entscheide mich trotzdem, den Ort des Geschehens zu verlassen, mein Glück zu versuchen.
Ich verlasse den geschützten Bereich der Demo, laufe direkt durch eine Absperrlinie der Polizei. Quer auf die Straße hat man Busse gestellt, um die Gegenprotestanten am Durchkommen zu hindern. Mir wird gesagt, dass es durchaus Steinwürfe in Richtung des friedvollen Protests gegeben hatte. Während ich mir meinen Weg in Richtung Hotel suche, sehe ich, wie zirka hundert Polizisten mit Schilden und in voller Montur aus einer Seitenstraße stürmen. Für mich wird es definitiv Zeit, hier weg zu kommen.
Auf dem Weg gehe ich noch kurz in ein Restaurant, um etwas zu essen zu bekommen und stelle mich dumm. Ich frage den Kellner, ob er wüsste, worum es bei der Demonstration gehe. Er erzählt mir: „Aber ja, die wollen LSD und Marihuana und sowas legalisieren.“
Als ich gegen Mitternacht am Hotel ankomme, rufe ich Roman an, um zu fragen, ob ich zum Flughafen gebracht werde. Er erzählt mir, dass er immer noch vor dem Parlament sei, dass die Polizei versuche, sie zu evakuieren, und fragt, ob ich mir ein Taxi nehmen könne.
Das mache ich dann auch.
Rückblickend bin ich zutiefst dankbar für diese Erfahrung, fühle mich geehrt, so nah dabei gewesen zu sein. An diesem Wochenende habe ich erfahren, dass die Art, wie hierzulande gefeiert, sich der Party und der Musik und allem was dazu gehört, hingegeben werden kann, nicht die Regel und erst recht nicht garantiert ist. Fiedel, Bind Observatory, Volte-Face und viele andere haben völlig recht, wenn sie sagen: Georgien hat eine großartige, wachsende Szene und verdient all die Aufmerksamkeit, die es bekommt.