Pageturner – Literatur im März 2021Samanta Schweblin, Taffy Brodesser-Akner, Olga Tokarczuk

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Wer schreibt, der bleibt. Vor allem dann, wenn das Geschriebene auch gelesen, bewertet und eingeordnet wird. In seiner Kolumne macht Frank Eckert genau das: Er ist der Pageturner und versorgt uns jeden Monat mit Reviews seiner literarischen Fundstücke. Das können dringliche Analysen zum Zeitgeschehen sein, aber auch belletristische Entdeckungen – relevant sind die Bücher immer. In „Hundert Augen“ beschreibt Samatha Schweblin wie es ist, wenn Plüschtier-Roboter unser Leben beherrschen. Taffy Brodesser-Akner widmet sich in „Fleishman is In Trouble“ der sexuellen Neuerfindung eines Manhattan-Mittvierzigers. Und Olga Tokarczuk legt mit „Die grünen Kinder“ eine wunderbare Sammlung von Kurgeschichten vor. Zukunft, Vergangenheit, Gegenwart: Die Verseltsamung der Welt hat Tradition.

Pageturner März 2011 - Samanta Schweblin

Hundert Augen (Affiliate-Link)

Samanta Schweblin – Hundert Augen (Suhrkamp)

Die Argentinierin Samanta Schweblin hat einen untrüglichen Blick für den Horror im Nahbereich des Alltäglichen. In ihrem Debüt „Das Gift“ waren es Pestizide, die eine Familie von innen heraus zerstörten, in „Hundert Augen“ ist es ein neuartiges Online-Spielzeug: die Kentukis, kleine Roboter in Form von Plüschtieren, die von zufällig von einem Server ausgewählten User*innen ferngesteuert werden. Diese Asymmetrie macht die ansonsten eher banalen Gadgets, letztlich nicht mehr als ein Mobiltelefon in einer bedingt mobilen Puppe, interessant – nicht nur, aber definitiv auch für Machtspiele und Remote-Sadismus. Die Steuernden bleiben anonym, hören und sehen potenziell alles, was in der Wohnung der „Herren“ los ist – fremde Sprachen oder Schriften können sogar simultan übersetzt werden. Die Besitzer*innen der Plüschtiere – obwohl „Herren“ genannt – haben wenig bis keine Kontrolle (außer der finalen Abschaltung) und können über den Kentuki auch nur indirekt kommunizieren. Kappt eine der beiden Seiten die Verbindung, ist das 279 US-Dollar teure Gerät verbrannt und kann nicht mehr reaktiviert werden. Bei dem offensichtlichen Geschäftsmodell, möglichst viele Verbindungen aufzukaufen und diese erfolgversprechend an passende Kunden (von Einsamen, Neugierigen, Immobilen bis hin zu Spannern, Pädophilen oder Sadisten) teuer weiterzuverkaufen, bleibt es natürlich nicht: Zwei-Wege-Kommunikation ist umständlich, aber möglich, etwa über Morsecode oder ein Ouija-Board.

Was Schweblin in den meist kurzen Episoden der verschiedenen User-Herren-Verpaarungen zeigt, ist, wie schnell sich aus gewollt ungleicher Kommunikation Dynamiken entwickeln, wie sie ähnlich auf Trollforen und Webseiten wie 8chan zu beobachten sind. In einer Überbietungslogik des Krassen entstehen moral-und rechtsfreie Räume, die mit wiederkehrender Regelmäßigkeit zu Gewalt und Missbrauch eskalieren. Die spannendsten der Storys sind aber gar nicht unbedingt die extremen, sondern zum Beispiel die einer älteren Frau aus Peru, die erst als Beobachterin und dann zunehmend auch als Teilnehmerin am Leben einer jungen Ostdeutschen mütterliche Gefühle für diese entwickelt, was sie bei ihrem eigenen entfremdeten Sohn so nie konnte. Oder ein Junge aus Antigua, der mit seinem Kentuki an einen „Befreier“ gerät. Die einzelnen Fäden konvergieren nicht in einer großen Katharsis, es bleibt praktisch alles offen, was die Geschichten eher noch überzeugender macht. Was Schweblin hier freilegt, ist das von nominell rationalen Rechtfertigungen verschüttete magische Denken, das es braucht, um mit der modernen Technik klarzukommen.

Taffy Brodesser-Akner – Fleishman is in Trouble (Random House)

Das Romandebüt der Essayistin Taffy Brodesser-Akner, die sonst vorwiegend für das „New York Times Magazine“ schreibt, geht direkt in die Vollen. Ihre Ambition? Definitiv der ultimative „Bright Lights, Big City New York“-Roman, die ausladende jüdische Familiengeschichte und in letzter Konsequenz natürlich die Great American Novel. „Fleishman is in Trouble“ ist aber gleichzeitig auch eine lässige Satire dieser meist männlich konotierten Vorstellung von (literarischer) Größe. TB-A lässt dieser einfach mal die Luft ab. Was bleibt, ist eine Geschichte, die nach den üblicherweise als groß und entscheidend erachteten Teilen des Lebens stattfindet: also nach dem Aufwachsen, nach dem Kennenlernen, nach der großen Liebe mit Kindern, nach der Aufsteigerkarriere, nach dem Streit und der Trennung. All das ist, ohne allzu harte „hard feelings“ zurückzulassen, eher leichte, aber permanente Verärgerung und Selbstmitleid.

Der Held der Geschichte ist der sich immer zu kurz gekommen fühlende – von der Körpergröße bis zum definitiv nicht unüppigen Jahresgehalt als Facharzt – Toby Fleishman. Er hat immerhin mit Anfang 40 noch volles Haar und erlebt dank einer Dating-App seine Art von sexuellem Erwachen, trifft in einem Monat mehr Frauen als im gesamten Leben zuvor. Doch als seine (von ihm) als überaus ehrgeizig charakterisierte Noch-Ehefrau plötzlich verschwindet, nachdem sie die Kinder bei ihm geparkt hat, ist Fleishman jetzt wirklich mal in Trouble und hustlet sich durch Job, Kindererziehung und Booty-Calls. Was sich zu einer Mischung aus Philipp Roth, „Sex and the City“ und ironischer RomCom verzwirbelt – wäre da nicht noch die Stimme der alten Freundin Libby, ehemals Journalistin, jetzt Vollzeit Soccer-Mom in Long Island, die Tobys aufgeblasenes Selbstbild und seine Larmoyanz mehr als einmal auf den Boden der Tatsachen zurückbringt. Es kommt in diesem Roman unweigerlich der Punkt, an dem man sich fragt, was einen das Sex- und Familienleben dieser begrenzt sympathischen, sehr reichen bis extrem reichen Manhattanites eigentlich angeht. Außer Statusmeldungen und Metasprüchen auf Yogatops nichts gewesen? Nein, das ist genau nicht der Punkt. Denn die Spannung, die dabei entsteht, sich in diese egomanen und (zumindest von mir) sozial Lichtjahren entfernten Charaktere einfühlen zu müssen, bleibt – und macht das Buch zu mehr als einer leichtgewichtigen High-Society-Reportage.

Pageturner März 2021 - Olga Tokarczuk

Die grünen Kinder (Affiliate-Link)

Olga Tokarczuk – Die grünen Kinder (Kampa)

Der jüngste Band mit Kurzgeschichten von Olga Tokarczuk arbeitet beharrlich an der Verseltsamung der Welt. Mal fies, mal absurd, immer abgefahren ist das jederzeit brillant geschrieben, in einer gerne altmodisch, verspult und spitzfingrig anmutenden Ausdrucksweise. Eine Sprache, die den Abstand dieser Geschichten und ihrer Protagonisten zur Welt, ihr existenzielles Anderssein unmittelbar greifbar macht. Ob die Handlung nun 1656 in unwegsamen polnischen Sümpfen spielt wie die Titelstory, oder heute, oder in einer nahen Zukunft. Fast durchwegs geht es um pragmatische rationale Menschen, in deren Leben eine Art von Unregelmäßigkeit einbricht, die befreiend sein kann, brüllend komisch, oder ein finsterer Abgrund. Oft ist diese Abweichung, dieses Abwegige mit der Wildheit der Natur verknüpft, mit einem Außenseitertum in Waldeinsamkeit. Es liegt wohl an der immensen Kunstfertigkeit von Tokarczuks literarischen Konstrukten, an der Fülle ihrer Sprache, dass derlei Technikskepsis und Naturverehrung nie kippt zu Technikfeindlichkeit und Naturverklärung. Deswegen sind diese kleine wenige Seiten umfassenden Storys große Literatur.

Leseliste 27. Februar 2021 – andere Medien, andere ThemenHumor, White House Staff, Kazuo Ishiguro, Verfahren auf Sicht

Carsten JostUnser Mix der Woche