Der Titel „Das Gasthaus – Ein Heimatort“ mag in dem einen oder anderen Ohr ein wenig bieder klingen. Aber der Inhalt ist es nicht. Erwin Seitz zeigt in seinem kleinen Buch, wie gastronomische Tradition 2021 im Sinne von Thomas Morus funktionieren kann: Kein Festhalten an der Asche, sondern ein Weiterreichen der Flamme. Jan-Peter Wulf hat gelesen.
Kürzlich habe ich an einem Online-Branchenevent teilgenommen, auf dem ein guter Satz fiel, ich paraphrasiere: Die Gastronomie gibt es seit Tausenden von Jahren, schon bei den Sumerern wurden Gästen Speisen und Getränke serviert – da wird so eine Krise die Branche nicht klein kriegen. Manchmal hilft es, auch in einer Zoom-Konferenz, rauszuzoomen und den Blick in die Länge zu ziehen, die Geschichte und Tradition aufzufahren, um eine aktuelle Situation etwas relativer zu sehen.
Genau dafür – unter anderem – ist auch das kleine Buch Das Gasthaus von Erwin Seitz hervorragend geeignet. Seitz, Spross einer fränkischen Wirtshausfamilie, gelernter Koch, Geisteswissenschaftler, Gastronomiekritiker und Genussmensch, kennt sich wie kaum jemand hierzulande mit der Geschichte der Gastfreundschaft, der Gastrosophie aus. Zwei größere Bücher hat er über dieses Thema schon geschrieben, „Die Verfeinerung der Deutschen“ und „Kunst der Gastlichkeit“. Wer sie noch nicht kennt, kann – meine Meinung – sein neues Buch sehr gut auch als Einstieg nutzen, denn es ist eine Art Essenz der beiden anderen, mit speziellem Fokus auf das Gasthaus freilich. Es spannt auf kompakten gut 130 Seiten einen historischen Bogen von den „Gastereien“ der Kelten bis zu modernen Versionen des Gasthauses, zum Beispiel dem „Rutz Zollhaus“ in Berlin oder dem „Essigbrätlein“ in Nürnberg, dessen Speisen er für ihre Klarheit und Ruhe, reintönigen Geschmack und feinwürzige Tiefe, das Interieur für das Gefühl von tiefer Zeitlichkeit und Geborgenheit lobt. Seitz macht sich im Gegensatz zur Schankwirtschaft, der Kneipe, um das Gasthaus (mit Speisen) überhaupt keine Sorgen. Altmodisch, ausgedient? Im Gegenteil. Er schreibt:
„Das Gasthaus gibt sich flexibel nimmt gelegentlich Elemente des Cafés, Bistros, Restaurants oder der Pizzeria in sich auf, sieht das Fremde, Ungewohnte als willkommene Erweiterung an. Die Holzvertäfelung, der Kachelofen oder der blanke Holztisch beißen sich nicht länger mit poliertem Beton. Die Stuben erscheinen aufgeräumter, die Gerichte entschlackter und pflanzlicher. Und es müssen nicht unbedingt alkoholische Getränke sein. Bezirzend sind ebenso fermentierte Säfte aus Obst, Gemüse, Kräutern. Das Gasthaus wird zum Symbol zeitlichen Wandels: ein Lokaltypus aus vor industrieller Periode für die nachindustrielle Gesellschaft, ein Signal veränderter Lebensführung. Es bleibt in der Tradition verwurzelt – und ist doch offen für Neues.“
Was macht das gute Gasthaus aus? Seine Mitte. Bodenständigkeit, aber mit gehobener Qualität, nicht dekadent, doch bedacht auf gute Zutaten. Und: Gemütlichkeit. Aber keine piefige. Verbinden wir mit dem Biedermeier, nun ja, Biederkeit, so zeigt der Historiker, dass es ganz und gar anders ist, dass es nach Zeiten des Verspielten (Rokoko: Ornament is crime auf Steroiden) um eine gewisse Gradlinigkeit geht, vom Möbel bis zur Speise. „Überlegte Einfachheit“ nennt Seitz es. Er räumt zudem, das hat er in „Die Verfeinerung der Deutschen“ bereits en gros getan, auf mit dem Klischee, hierzulande sei Genusskultur etwas nicht Tradiertes. So schreibt er auch hier, wie der französische Philosoph Michel de Montaigne vor knapp 500 Jahren durch das Land reiste und verblüfft feststellen musste, dass die Speisen „in den guten Gasthäusern mit solchem Wohlgeschmack zubereitet (sind), dass kaum die Küche des französischen Adels damit verglichen werden kann.“
Eine Weile aber war das Gasthaus weg, konstatiert Seitz. Erst blähte es sich zu den großen Wirtshäusern und Brauhaus-Hallen auf. In den 1920ern war dann das an den Grand Hotels der Neuen Welt Orientierte in den Metropolen en vogue. Die neue „Food-Revolution“ seit ca. 2005 sieht er als Treiber für das Re-Entry des neuen Gasthauses mit dem Kultivieren alter Traditionen, quasi im Sinne eines Thomas Morus: Weiterreichen der Flamme, nicht Festhalten der Asche. Damit ist keineswegs die „Heustadl-Glückseligkeit“ gemeint, die manche Konzepte, sogar Ketten simulieren, sondern das Gasthaus 2.0, zu denen er bereits genannte Häuser ebenso zählt wie ein veganes, as Berlin-Mitte as can be ausgerichtetes „Frea“, das „Hallmann & Klee“ oder das „Hinterland“. „Das Gasthaus blüht gemeinsam mit erneuertem Lebensmittelhandwerk auf, traditionsnahen Bäckereien oder Craft-Bier-Brauereien. Damit verbunden ist ein Revival des Kiez-Gefühls, sprich der Ausbau von kleinstädtischen Strukturen innerhalb der großen Stadt, die Pflege von überschaubaren Vierteln mit Verkehrsberuhigung, Fuß- und Fahrradwegen. Der Kiez als wohltuendes mittleres Maß, als idealer Ort für Gasthaus und Handwerk.“ Sogar die umlaufenden hölzernen Wandbänke – einst in den Gastereien verbaut, damit niemand hinterrücks angegriffen werden konnte – finden in diesen neuen Gasthäusern wieder ihren Platz. Das klingt beinahe so, als seien sie der ideale Betriebstyp für eine entschleunigte, ortsbezogene, regional-saisonale, nachhaltige Post-Corona-Gastronomiewelt. Vielleicht ist es ja auch ganz einfach so.