Jede Woche liest die Redaktion das Internet leer, um sonntäglich vier Lesestücke empfehlen zu können. Artikel, die interessant, relevant oder gar beides sind – und zum Glück abgespeichert wurden.
Wortprotokoll Innenausschuss
Am 12. September tagte der Ausschuss für Inneres und Heimat im Paul-Löbe-Haus. In der Sitzung ging es um die „Beurteilung der im Zusammenhang mit der Tötung von Daniel H. in Chemnitz stehenden Ereignisse durch das Bundesamt für Verfassungsschutz“. Buzzfeed hat das Wortprotokoll, das eigentlich nur für interne Zwecke gedacht ist, geleakt und es ist trotz seiner Länge ein spannendes Lesestück, zeigt Einblicke in die Hintergründe der Politik, aber auch wie zerfahren die Argumentationsstränge von heute geworden sind. Wie Hans-Georg Maaßen hier versucht, zwischen Echtheit, Authentizität, Hetzjagd, Nicht-Hetzjagd, Fälschung so wie Verfälschung und Falschaussage zu relativieren, hat schon Momente großen Theaters. Auch der Auftritt von Horst Seehofer ist nicht ohne Qualität. Wenn das Thema an sich nur nicht so frustrierend-bitter und traurig wäre. Lest und speichert das Protokoll bevor es wieder weg ist.
„Was die Bewertung angeht. Ich habe nicht gesagt, dass das Video gefälscht ist. Ich habe nicht gesagt, dass es falsch ist. Aber es ist offenkundig ein falscher Zusammenhang. Es ist nicht authentisch. Was die Kommunikationslinie angeht.“
AfD auf NSDAP-Kurs
Diese Geschichte, von der Schlecky Silberstein, zweifellos einer der bekanntesten Blogger des Landes, erzählt, fällt nicht bloß in die täglich übliche Kategorie des politisch Schockierenden, sondern ist wahrhaft und wörtlich beängstigend. In aller Kürze: Man wollte ein satirisches Video drehen, das die Funktionalitäten der rechten Stimmungsmache parodiert. Das Ergebnis: ein AfD-Abgeordneter steht mit Kamera neben dem Klingelschild von einem der Video-Macher, dessen jüdisch klingender Nachname für AfD und Gefolge wohl als Sahnehäubchen gelten dürfte. Und plötzlich lebt ein Medienmacher in diesem Land in ernsthafter Gefahr für Leib und Leben. Dank einer Bundestagspartei.
„Spätestens wenn Juden im Spiel sind, greift bei Teilen der AfD-Klientel der alte Vernichtungs-Reflex. Die Morddrohung aus dem Antisemitismus-Baukasten ging am 16. September ein und ich lehne mich hoffentlich nicht zu weit aus dem Fenster, wenn ich behaupte: Ohne die Initiative von Bundes- und Berlin-AfD, wäre sie uns erspart geblieben.“
Jack’s
Die traditionellen britischen Supermarkt-Ketten Tesco und Sainsbury’s sehen sich bereits seit einigen Jahren mit neuer Konkurrenz konfrontiert: Aldi und Lidl haben bereits jetzt 13 Prozent Marktanteil, dazu kommt der TK-Discounter Iceland. Vor wenigen Tagen eröffnete Tesco die erste Filiale des eigenen Discounters: Jack’s. Benannt nach dem Firmengründer, soll das Land in den kommenden mit weiteren Läden überzogen werden. Das Prinzip ist bekannt und etabliert: deutlich weniger Produkte als in „normalen“ Filialen, dafür günstige Preise. Aber Tescos Experiment kommt unangenehm nationalistisch daher. Schon heute ist die britische Flagge auf zahlreichen Lebensmitteln aller Marken in UK prominent auf den Verpackungen vertreten: british beef, british milk etc. Aber muss man großflächig auf die Wand schreiben, dass bei Jack’s jeder Tropfen Milch aus Großbritannien kommt? Für Rivkah Brown ist das Konzept und Kalkül. Die Journalistin kommentiert im Guardian, man wolle die Bevölkerung auf den No-Deal-Brexit vorbereiten: Wir können uns selbst versorgen – zu günstigen Preisen. Das ist hoch gepokert. In der Unternehmenskommunikation von Jack’s heißt es, 80 Prozent aller Waren würden in UK produziert. Faszinierend – nationale Erhebungen gehen davon aus, dass sich Großbritannien höchstens zu 60 Prozent selbst versorgen könne. Aber das ist am Standort der ersten Filiale – der Pro-Brexit-Hochburg Chatteris – vielleicht nicht so wichtig. Hier zeigt man lieber Flagge. Was passiert, wenn die Preise nach dem Brexit steigen? Abwarten.
„With food-based patriotism intensifying and the Brexit shit yet to hit the fan, now is arguably the best time to be opening a British-branded bargain basement.“
Jack's Little Englandism is about as convincing as its Cornish camembert
Verfassungsschutz-Geschichte
Die Sorge, dass Kritik an Verfassungsschützern dazu führen kann, dass bald keiner mehr den Job machen will, haben sich wohl erledigt – winkt bei rechtem Verhalten (mehr dazu oben links im Text) doch gar die Beförderung, wie wir diese Woche gelernt haben. Dieser Beitrag geht der Geschichte dieses Amtes nach, das quer zu allen anderen Institutionen des Staats zu liegen scheint. Von den Alliierten installiert, um das junge Land und seinen rechtlichen Rahmen zu schützen, und zugleich entzahnt, um es nicht zur Neo-Gestapo mutieren zu lassen, ist der Verfassungsschutz zu Beginn doch bestückt mit reichlich Alt-Nazis. Seine Blindheit auf dem rechten Auge ist systemisch, legt dieser Beitrag dar. Seine Chefs haben reihenweise Affären verursacht, wegen derer sie den Hut nehmen mussten, Öffentlichkeitsarbeit wurde als Propaganda mißverstanden, die Tausenden V-Leute haben mehr Schaden als Nutzen gebracht. Am Ende das klare Fazit: Das Amt muss weg, das Geld sollte für die Aufstockung des Verfassungsgerichts verwendet werden. Das hätte es nämlich nötig.
In Köln sucht man seit 68 Jahren vergeblich nach einem demokratiewürdigen Umgang mit der Öffentlichkeit.