Schlagen, Schütteln, EinsperrenInterview: Gewalt gegen Kinder geht uns alle an
4.8.2014 • Gesellschaft – Interview: Monika HerrmannRund 200.000 Kinder werden in Deutschland jedes Jahr misshandelt. Körperlich und seelisch, oft mit schlimmen Folgen. Experten gehen von einer hohen Dunkelziffer aus. Und wer tut so etwas? Wer sind die Täter? Meistens die Eltern oder den Familien nahe stehende Personen. Sie setzen ihre Babys auf heiße Herdplatten, schütteln oder treten sie, brechen ihnen Arme und Beine oder sperren ältere Kinder in dunkle Keller ein. Die Opfer leiden ihr Leben lang unter den Misshandlungen, wenn sie überhaupt überleben. Doch es gibt Hilfe. Und zwar für Opfer wie Täter. Der Kinder- und Jugendpsychiater Michael Kölch, Leiter der Kinderschutzambulanz im Vivantes Klinikum Berlin-Friedrichshain, weiß, warum Eltern ausrasten und Kinder leiden. „Das muss sich ändern“, sagt er.
Herr Professor Kölch, mit welchen Auffälligkeiten kommen die Kinder und Jugendlichen in Ihre Sprechstunde?
Wir sehen körperliche und psychische Misshandlungen. Wenn ein Kind ständig entwertet und nicht anerkannt wird, es keine Zuwendung erhält, oder wenn Eltern ihre Kinder bei geringsten Kleinigkeiten anschreien, leidet es. Natürlich besonders wenn sie zuschlagen, sie verbrühen oder Zigaretten auf den Körpern der Kinder ausdrücken. Eltern vernachlässigen ihr Kind, wenn sie ihm im Winter keine der Kälte entsprechende Kleidung anziehen oder es nur unzureichend ernähren. Das sind nur einige der Merkmale, denen wir dann nachgehen.
Was sind das für Eltern, die ihre Kinder misshandeln und vernachlässigen?
Ein großer Teil lebt sicher in sehr prekären sozialen Verhältnissen. Wir wissen, dass dies ein hohes Risiko darstellt: Arbeitslosigkeit, Armut, vielleicht Alkoholismus. Vernachlässigung gibt es aber auch in Familien mit höherem Bildungsstatus. Allerdings seltener. Aber letztlich ist es für uns egal, ob die Eltern Bankdirektoren sind oder von Hartz-IV-Leistungen leben. Wenn wir ein bestimmtes Verletzungsmuster bei den Kindern sehen, müssen wir diesem im Sinne des Kindeswohls nachgehen.
Suchen die Patienten selbst bei Ihnen Hilfe oder kommen sie mit den Eltern?
Unterschiedlich. Manchmal kommen Kinder und Eltern, manchmal ist das Jugendamt aktiv geworden. Es gibt ja oft keine eindeutigen Symptome. Die Kinder werden irgendwann psychisch auffällig. Lehrer nehmen eine Veränderung wahr, zum Beispiel wenn die Kinder selbst gewalttätig werden oder sich total zurückziehen, durch Traurigkeit auffallen. Im Kleinkindbereich ist es etwas anders: Da stellen Eltern uns meist selbst ihre Kinder vor, weil sie auch zugeben, dass sie geschlagen oder geschüttelt haben. Sie sagen dann: Ich konnte mir nicht mehr anders helfen. Mein Kind schreit die ganze Nacht.
Wenn die Eltern als Täter für die Misshandlung ausgemacht sind, plädieren Sie als Arzt und Therapeut dafür, dass die Kinder aus ihren Familien genommen werden?
Nicht generell. Es geht immer um die Frage nach der akuten Gefährdung des Kindes. Sehen wir die, dann plädiere ich auch für eine Trennung. Oder ich sage: Eltern und Kinder müssen gemeinsam in eine Einrichtung aufgenommen werden, wo ihnen professionell geholfen wird. Die gibt es ja. Oder es muss sofort ein Familienhelfer durch das Jugendamt bestellt werden. Oft ist es sinnvoll, die Kinder in einer therapeutischen Einrichtung unterzubringen, in der sie von Profis betreut werden. Das kann zum Beispiel hier in der Klinik sein. Stationär, teilstationär oder in manchen Fällen und in Absprache mit dem Jugendamt kann es eine so genannte Bereitschaftspflege-Familie sein.
Wie reagieren denn Ärzte, wenn sie Kinder sehen, die eindeutige Verletzungssymptome haben? Rufen sie die Polizei?
Eher selten. Es gibt andere Möglichkeiten der Soforthilfe: Zum Beispiel Kinderschutzgruppen in Kliniken, es gibt Sozialdienste, Vernetzungen mit Jugendhilfeeinrichtungen, mit Jugendämtern. Die schlimmsten Verletzungen passieren ja im ersten Lebensjahr. Es ist daher die Aufgabe der Kliniken auch Pflegepersonal und Ärzte auf diesem Gebiet weiterzubilden, damit Symptome eindeutig erkannt werden. Es gibt da durchaus Verbesserungsbedarf. Aber die meisten Ärzte wissen inzwischen schon, was sie im akuten Fall zu tun haben.
„Kinder haben oft eine ambivalente Beziehung zum misshandelnden Elternteil.“
Sie sagen Eltern geben die erfolgte Misshandlung auch zu. Müssen dann nicht Sanktionen folgen?
Ein Beispiel: Wenn ich einen Vater hier habe, der sein Kind prügelt, weil er seit Jahren drogenabhängig ist - Heroin, Kokain, Alkohol, Speed etwa - dann sagen wir: Das misshandelte Kind kann nicht in die Familie zurück. Denn der Risikofaktor weiterer Ausraster besteht ja durchaus. Manchmal haben Kinder aber eine ambivalente Beziehung zum misshandelnden Elternteil, weil er – trotz allem – geliebt wird und auch andere subjektiv für das Kind durchaus positive Eigenschaften hat. Dann geht es um die Frage: Hat das Erlebte ein Trauma hinterlassen, das verarbeitet werden muss oder hat das Kind das Erlebte emotional einigermaßen überstanden und kann es damit weiter leben? Darüber spricht ja das Kind dann. Dieser weitere Umgang mit dem Elternteil muss also individuell abgewogen werden und hängt vom Alter des Kindes ab.
Können ältere Kinder sich auch selbst schützen?
Natürlich. Durch Weglaufen etwa. Gegen Schlagen, Prügeln oder Einsperren ins dunkle Zimmer kann sich ein 10-Jähriger besser schützen als ein Ein- oder Zweijähriger. Der Kindernotdienst ist dann oft die erste Anlaufstelle für die Kinder, die abhauen und sich selbst Hilfe suchen. Manchmal sind es auch die Lehrer, die Kinder dann weiterleiten.
Wie helfen Sie Eltern, die einsichtig sind und ihr verhalten ändern wollen?
Kinder- und Jugendpsychiatrie ist immer mit Elterntherapie verbunden. Viele Eltern wissen ja gar nicht, wie sie mit ihren Kindern umgehen sollen, was sie ihnen zumuten können, was nicht. Weil das so ist, entstehen ja die Konflikte, die sich aufschaukeln und dann zu Gewalt führen. Die Eltern müssen lernen, welche Bedürfnisse ihr Kind überhaupt hat, wie sie mit ihm spielen, toben und einfach positive Erfahrungen machen können. Das lernen sie hier unter Anleitung.
Sind denn Eltern bereit zu lernen?
Die Bereitschaft ist durchaus da. Manche berichten, als Kind selbst geschlagen worden zu sein. Aber in den meisten Fällen wollen sie etwas ändern. Schwierig ist, wenn das problematische Verhalten zwar eingesehen, aber ihr Handeln im Alltag nicht ändern. Dafür muss man als Therapeut einerseits Verständnis haben, weil das nicht so einfach abzustellen ist, andererseits auch prüfen, ob die Chance für Veränderung gegeben ist. Für Eltern, die was verändern wollen, bedeutet das harte Arbeit, die richtig lange dauern kann.
Sind Kinder generell immer am besten bei den Eltern aufgehoben?
Das kann man so nicht sagen. Natürlich ist eine stabile Bezugsperson das Beste für ein Kind. Aber die muss nicht unbedingt Mama oder Papa sein. Es gibt eben Eltern, die können nicht gute Eltern sein. Das Familienrecht sieht deshalb auch vor, dass bei einem Unvermögen der Eltern die Sorge für das Kind jemand anderem übertragen werden kann. Etwa einer Pflegefamilie oder einer Einrichtung der Jugendhilfe.