„Je suis Charlie.“ „Sicher?“Gedanken zum Hashtag-Aktivismus der bedingungslosen Solidarisierung
13.1.2015 • Gesellschaft – Text: Benedikt BentlerKann ich so einen Artikel jetzt überhaupt schreiben? Das Eis der Sachlichkeit über den Wogen der Emotionen ist möglicherweise (noch) sehr dünn. Ein paar Tage sind seit den grausamen Attentaten in Paris vergangen. 20 Menschen sind tot, 17 von ihnen sind Opfer einer kaltblütigen Tat von Islamisten. Der Tod für ein paar Zeichnungen. Das ist furchtbar, und Solidarität mit den Opfern und ihren Angehörigen ist das mindeste, was der Einzelne leisten kann. Im Fokus der Medien, im Fokus der Solidarität: die Redaktion des Satiremagazins Charlie Hebdo. Die Mediengeschichte dieses Ereignisses hat einen eindeutigen Protagonisten: #JeSuisCharlie. Aber wer ist Charlie - und wer weiß das überhaupt? Und müssen wir das wissen?
Als #JeSuisCharlie in der letzten Woche in immer kürzeren Abständen durch die Timeline flatterte, gepaart mit Mohammed-Karikaturen, Covern alter Ausgaben von Charlie Hebdo und Beileidsbekundungen aller Art, war ich etwas überrascht über die Geschwindigkeit. Denn das Attentat hatte sein Ende ja noch gar nicht gefunden. Noch immer waren die Täter unterwegs und hielten 88.000 Einsatzkräfte in Atem. Doch mir ging es nicht anders als anderen, ich schaute mir Karikaturen an, am nächsten Tag die künstlerischen Reaktionen von anderen Karikaturisten aus aller Welt. Nie wurde weltweit in so kurzer Zeit mehr Satire konsumiert, als nach dem Attentat auf Charlie Hebdo, dessen bin ich mir sicher. Das Attentat - Zeugnis eines Anschlags auf unseren Wertekonsens, auf den Journalismus, die Presse- und Meinungsfreiheit, auf Satire im Speziellen. Dinge, die ganz besonders in Frankreich groß geschrieben werden und Tradition haben.
##Zynismus-Vorwürfe sind billig
„#JeSuisCharlie“ tippte ich in mein Twitter-Eingabefeld. Nur kurz vor dem Senden hielt ich nochmal inne. Möchte ich wirklich Charlie sein? Wer ist Charlie? Das muss ich doch vorher wissen. Ich begann mich mit dem Magazin und den ersten Beileids- und Solidaritätsbekundungen in längerer Artikelform zu beschäftigen: Aus den USA kam gleich Gegenwind, die Zeichnungen seien vulgär und beleidigend, in Europa war man weitestgehend einhellig der Meinung: „Das ist Satire, das ist Kultur, das ist das Symbol unserer Meinungsfreiheit. Wie kann man es wagen, dies zu kritisieren?“ Gern auch: Kritik sei zynisch gegenüber den Opfern. Doch mit dem Vorwurf macht man es sich zu einfach: Zynisch es ist auch, dass der Angriff von Boko Haram zur gleichen Zeit in den Top-News keine Meldung und noch weniger Tweets wert war - obwohl mehrere hundert bis tausend Menschen gestorben sind. Genau weiß man das bis heute nicht.
Der Prozess meiner persönlichen Charakterisierung des Satire-Magazins zog sich über Tage hin, aber inhaltlich bekam ich Charlie Hebdo nicht zu fassen. Zwischenfazit: ernüchternd. Keine Artikel, die sich mit der grundsätzlichen inhaltlichen Ausrichtung des Magazins befassen. Dabei ist diese entscheidend: Ob ich mich zu 100 Prozent mit Charlie solidarisiere, und nichts anderes bedeutet #JeSuisCharlie, hängt vom Gesamtwerk ab. Nun ist es unmöglich, sich kurzfristig einen Überblick zu verschaffen: Ich müsste mir Inhalte und Cover der letzten Jahre ansehen, mich mit Äußerungen der Redaktionsmitglieder beschäftigen. Vielleicht wäre es noch am besten, jemanden zu fragen, der wirklich Bescheid weiß. Nur wen? Zumal in diesen Tagen alles überlagert wird - zum Beispiel von Mohammed-Karikaturen. Ein „objektiver Blick“ ist generell kaum mehr möglich, das Attentat wird zukünftig jede Bewertung des Magazins beeinflussen.
##Satire darf alles, aber was ist Satire?
„Satire darf alles!“, dröhnt es mir durch den Kopf. Daran kann - daran darf man keinen Zweifel hegen. Das ist aber vielmehr Totschlag- als Gegenargument, denn dann unterhalten wir uns über die Frage, was Satire ist und welchen Anspruch wir daran haben. Satire beinhaltet mehr als blöde Witzchen auf Kosten anderer. Satire soll überzeichnen, einem auf humorvolle Art und Weise die Augen öffnen, ironisch und bissig. Und ja, sie kann auch mal übertreiben und albern sein, erforderlich ist aber ein Bezug zu Realität, der wahre Kern, und wenn er noch so klein ist. Die Frage, ob es sich um Satire oder Hetze und Beleidigung handelt, entscheidet sich anhand der Frage nach den Tendenzen. Kriegt jeder sein Fett weg oder werden Ressentiments in bestimmte Richtungen erzeugt? Doch wie bereits erwähnt: Der erforderliche Überblick über mehrere Jahre Charlie Hebdo ist kein Nachmittagsprojekt, die Beantwortung der Frage damit vorerst unmöglich.
Bin ich nun Charlie? Ich weiß es nicht, aber ich kann es begründen. Doch wenn ich nach Tagen des Grübelns und Abwägens nicht weiß, ob ich mich mit den Inhalten eines Magazins völlig solidarisieren möchte: Wie viele der Menschen, bei denen ein „Je suis Charlie“ im Profilbild prankt, wissen das überhaupt selbst? Hier liegt das Problem: in der Praxis der völligen Vereinnahmung und des politischen Hashtag-Aktivismus innerhalb von Minuten. Jeder will dabei sein, denn es scheint irgendwie was Gutes zu sein. Es ist schnell und unverfänglich, ein Profilbild lässt sich jederzeit wieder löschen. Alle machen mit, man muss sich gar nicht erst erklären, geschweige denn rechtfertigen. Es ist in der Sache aber nicht unverfänglich, sich zu 100 Prozent mit etwas gemein zu machen, das man nicht kennt. Und wer näht sich den #JeSuisCharlie-Patch aufs Basecap, geht damit zum libanesischen Lieblingsrestaurant um die Ecke und lässt sich unter Umständen im echten Leben mit dieser Rolle konfrontieren? Wer steht zu seinen Überzeugungen? Und Rede und Antwort, wenn man auf die Inhalte zu sprechen kommt? Wer will außerhalb der virtuellen Welt Charlie sein?
##Sprachliche (Un-)Präzision für die gute Sache
Nun sind am Sonntag mehr als eine Million Menschen in Paris und an vielen anderen Orten unter dem #JeSuisCharlie-Banner auf die Straße gegangen, die Mahnwache in Berlin beginnt in diesen Minuten. Muslime, Christen und Juden reichen sich die Hände, um für die Opfer des Attentates inne zu halten und um ein Zeichen zu setzen - für die Meinungs- und Pressefreiheit: „Charlie, c’est nous!“ Das ist gut, das ist wichtig. #JeSuisCharlie ist zum Schlagwort geworden, das nicht zwingend für eine vollkommene Übereinstimmung mit dem Magazin steht, wie die Worte es inhaltlich nahelegen. Letztendlich handelt es sich also um eine sprachliche Unpräzision. Doch genau diese Unpräzision ist es, vor der wir uns zumindest in Zukunft hüten sollten, denn fehlende Differenzierung und sprachliche Ungenauigkeiten sind es auch, die Muslime als Islamisten dastehen lassen oder die Unterscheidung zwischen dem Judentum und dem Staat Israel verwischen, um nur zwei immer wiederkehrende Beispiele zu nennen. Sie sind die Kiesel auf dem Weg des Dialogs: klitzeklein, aber man rutscht leicht drauf aus. Nun kommt der „geflügelte Hashtag“ nicht aus einer Social-Media-Abteilung, die sich über die genaue Bedeutung jeder Silbe Gedanken gemacht hat, sondern ist ein kaum zu beeinflussender Selbstläufer. Das macht es umso wichtiger, dass jeder Einzelne sich ein paar Sekunden Gedanken um die Bedeutung von Worten macht, um die Unterscheidung zwischen antizipierter Aussage und dem, was die Wörter im eigentlichen Sinne bedeuten.
Und doch erscheint eine Karikatur oder Zeichnung eine angemessene Reaktion - auch in meinen Augen. Gesucht habe ich ein Werk, dass ohne die Erschaffung von Feindbildern und ohne billige Klischees auskommt. Dass sich in gebotener Zurückhaltung übt, aber dennoch auf den Punkt ist. Denn an allererster Stelle sind hier Menschen grausam ermordet worden, was furchtbar ist. Ein einziges Werk habe ich gefunden - vom iranischen Designer Arash Asghari: