Brexit und die Scheiß-Frage nach „persönlichen Konsequenzen“Warum es um viel mehr geht: ein Kommentar

Brexit Lead

Der Brexit ist real, die Briten haben abgestimmt. Unabhängig von direkter Betroffenheit, unabhängig von dem jetzt beginnenden politischen und wirtschaftlichen Chaos in Europa und besonders in Großbritannien ist für unseren Redakteur Benedikt Bentler noch etwas ganz anderes verloren gegangen: der Glaube an ein vereintes, friedliches Europa. Ein Kommentar.

Freitagmorgen, UK tritt aus. Ich bin völlig perplex, im ersten Moment weder zu Reaktionen, noch zu Emotionen fähig. Der Nachrichtenstrom lässt keinen Zweifel an der Gewissheit des Brexit. Und ich hatte keine Sekunde ernsthaft daran geglaubt. Während ich den Tag in schlechter werdender, wortkarger Laune verbringe, die ich mit dem Brexit begründe, werde ich verständnislos gefragt: „Aber Benne, welche ernsthaften Konsequenzen hat das denn für dich?“
Seriously? Immer und immer wieder diese Frage. Ich bleibe anfangs nett, irgendwann platzt mir der Kragen und einer bekommt alles ab. Es gibt mittlerweile eine Reihe von Menschen, die ich gut kenne, die mir teilweise auch nahe stehen und die aus Großbritannien kommen. Manche leben hier in Berlin, manche auf der Insel. Manche haben einen Elternteil aus Deutschland, andere nicht. Sie alle eint, dass sie in den letzten Wochen und Monaten einen Kampf für ein Vereinigtes Königreich als Teil der EU geführt haben: in persönlichen Diskussionen, durch die Initiierung und Unterstützung von Kampagnen, mit zahllosen Bremain-Postings in den sozialen Netzwerken. Jeder auf seine Art. Fast alle von ihnen müssen – dank des nie gewollten Ergebnisses, dank des Sieges von dreisten Lügen und Rassismus über Fakten und Besonnenheit – nun Entscheidungen treffen, die ihr Leben maßgeblich verändern. In welche Richtung auch immer. Zumindest aber in keine gewünschte. Das lässt mich nicht kalt, doch das nur am Rande.

Denn es geht um viel mehr – abseits von Freunden und Bekannten.

Nachdem ich den doch sehr dörflich geprägten Teil meiner Jugend hinter mir gelassen hatte, konnte ich mit „Deutschsein“ nicht mehr viel anfangen, im Gegenteil. Ich begann Nationalismus und Patriotismus in all seinen Formen abzulehnen. Ich ging „Raven gegen Deutschland“ und wenige, durch Hamburg geprägte Jahre später, hatte ich keine Band öfter live gesehen als Egotronic – auch bis heute nicht. Deutschlandflagge zur EM? Never ever.

„Anders als beim nationalistischen Stolz ging es hier nicht darum, wer zufällig wo geboren ist oder nicht. Es ging nicht um Abgrenzung, sondern um das Gegenteil.“

Stattdessen fühlte ich mich mehr und mehr als Europäer, trug die Idee eines vereinten Europa in meinem Herzen. Denn vereint hieß für mich vor allem eines: Nie wieder Krieg zwischen europäischen Staaten. Die EU war die Institution, in der diese Idee real wurde. Natürlich ist sie auch eine Wirtschaftsunion. Natürlich ist an ihr nicht alles geil. Wirtschaftskrisen, Arbeitslosigkeit und Flüchtlingssituation sind real und ernst. Aber dennoch ist die EU alles, was wir haben. In Brüssel steht der eine Tisch, an dem Europa sich versammelt, um seine Probleme gemeinschaftlich zu lösen – politische wie wirtschaftliche. Trennen lässt sich das sowieso nicht. Und dieser Tisch ist der relative Garant für Frieden. Wenn Frieden kein hehres Ziel ist, was dann? Rückblickend lief es lange Zeit ganz gut: Alle wollten dabei sein, sich den Kopenhagener Beitrittskriterien von 1993 unterwerfen. Das heißt: sich zu Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechten und den bürgerlichen Grundfreiheiten bekennen. Mitte der 1990er-Jahre kamen die Skandinavier dazu, 2004 und 2007 die osteuropäischen Staaten. Menschen setzten für diese Annäherung und Einigung ihr Leben aufs Spiel – und einige bezahlten mit selbigem, noch im Dezember 2013 in der Ukraine. Wir sprachen vom Euromaidan. Ein Kontinent, der vor einem halben Jahrhundert noch schlimmster Kriegsschauplatz war, der bis vor 25 Jahren noch die Welt in Ost und West teilte – ganz real, in Form einer Grenze – war dabei, eins zu werden.

Und darauf war ich stolz. Denn anders als beim nationalistischen Stolz ging es hier nicht darum, wer zufällig wo geboren ist oder nicht. Es ging nicht um Abgrenzung, sondern um das Gegenteil. Es ging darum, ein gesellschaftliches Bündnis für den Frieden in Europa einzugehen. Und mit Rückblick auf die letzten beiden Weltkriege war dieses Bündnis ein gar nicht mal so kleiner, aber unabdingbarer Schritt in Richtung einer friedlichen und konfliktfreien Welt. Durch gesellschaftliche Teilhabe, meine gelebte Identität als Europäer, wirkte ich aktiv daran mit.

Brexit Beerdigung

Sekt und Streuselkuchen

Seit Freitag ist alles anders. Ein Europa? Nur noch eine verschwommene Illusion. Denn die Ablehnung der EU beinhaltet immer und automatisch die Ablehnung der grundsätzlichen Idee des vereinten, friedlichen Kontinents. 52 Prozent der wählenden Briten haben mit ihrem Gang zur Wahlurne einen Teil meiner über 26 Jahre gebildeten, politischen und gesellschaftlichen Identität zu Grabe getragen.

Das tut weh.

Und damit bin ich (zum Glück) nicht allein. Am Freitagabend haben wir mit Sekt angestoßen und Streuselkuchen gegessen – Beerdigungsschmaus zum Brexit. Nicht als ironische Spitze in Richtung britischer Insel. Sondern in ernsthaften Gedanken an unseren einstigen Glauben an politische, gesellschaftliche und auch humanistische Weiterentwicklung. Als Kinder und Jugendliche saßen wir vor den Geschichtsbüchern und stellten uns die Frage: Warum wiederholt sich Geschichte? Warum lernen Menschen nicht aus geschichtlich schwerwiegenden Fehlern, die ihren Ursprung schon immer in Abgrenzung hatten? Ich kann die Frage nach wie vor nicht beantworten. Aber ich stelle den Fakt, dass es so ist, spätestens jetzt nicht mehr in Frage.

Cheers.

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