Endlich wieder Kino, endlich wieder Berlinale – als frühlingshafte Freiluft-Version statt bei sonst grimmigem Februarwetter. Unser Filmautor Sulgi Lie hat sich drauf gefreut, doch so ganz ging der Plan des Bingewatchings am Ende doch nicht auf: Er versteht bisweilen nur Bahnhof. Eindrücke vom ersten Berlinale Open Air.
In der Kino-Chronologie von Covid war die Berlinale 2020 wohl das letzte Filmfestival, das unter ganz regulären Bedingungen stattfinden konnte; ohne Masken, ohne Abstand, ohne all das, was wir von kulturellen Veranstaltungen seitdem als Vorsichtsmaßnahmen kennen. Zwar drangen schon damals im Februar beunruhigende Nachrichten aus dem italienischen Bergamo zu uns, so richtig gewurmt hat es aber bei der Berlinale wohl niemand. Auch weil sich Italiens Starphilosoph Giorgio Agamben sogleich über den staatlichen Ausnahmezustand angesichts einer recht harmlosen „Grippe“ empörte, riet mir mein erster theoretischer Reflex von übertriebener Sorge ab. Ob die hartnäckige Bronchitis, die mich um die Berlinale-Zeit plagte, wohl was mit Covid zu tun hatte, fragte ich mich dann erst später im März, als der erste Lockdown losging.
Ein Jahr später findet die Februar-Ausgabe nur Online für Presse und Markt statt. Zu diesem Zeitpunkt ist die für den Juni anvisierte Sommer-Auswahl einiger Filme natürlich noch alles andere als sicher. Dass diese allererste Open-Air-Berlinale nun doch im kleineren Rahmen stattfinden konnte, hat sich für viele Filmfans gewiss wie eine Befreiung angefühlt, die nach einer schier endlosen Zeit von Fernseh-, Laptop- und IPad-Screenings schon zu Blaulicht-Zombies mutiert sind. Wenn dazu noch der visuelle Over- und Workload des neuen Zoom-Regimes dazukommt, wie wohl bei den allermeisten digitalen Subjekten heutzutage, dann kann es schon mal zu prekären psychosomatischen Zuständen im Home Office kommen. Als mich während meines digitalen Dauerunterrichts als Filmdozent dann noch die erste Moderna-Impfung in einen zweiwöchigen Schwindel (allerdings ohne den ästhetischen Mehrwert von Hitchcocks Vertigo) versetzt, bin ich kurz vorm Durchdrehen und fahre kurzerhand für ein paar Wochen aufs Land. Leider muss ich von dort aus noch mehr Zoomen und WebExen, aber wenigstens vertreibt die frische Landluft die digitale Klaustrophobie im Kopf.
Zurück in Berlin ist dann plötzlich der Lockerungssommer eingetreten und tatsächlich muss ich bei meinem ersten Besuch einer Tanzperformance mit maximal zehn erlaubten und getesteten ZuschauerInnen feststellen, wie sehr mir nach über halbjährigen öffentlichen Kunstentzugs die Liveness einer Aufführung gefehlt hat. Und natürlich das Abhängen danach mit ein paar mehr Leuten. Etwas vorgelockert mache ich mich also Mitte Juni dann zu meinem ersten Berlinale-Filme im schönen „Silent Green“ im Wedding, um mir einen chinesischen Beitrag für die Forums-Sektion anzuschauen.
Im schönen Innenhof ist hier ein Mini-Open Air-Kino aufgebaut worden mit max. 20-30 Sitzmöglichkeiten und der laue Sommerabend verspricht eine angenehme Projektion. Leider wird die Freude an der filmischen Frischluftkur nun aber dadurch etwas getrübt, dass wegen der lärmempfindlichen Nachbarschaft der Sound von Kopfhörern übertragen wird. So kommt es zu der etwas absurden apparativen Anordnung, im halbwegs kollektiven Freien wieder akustisch individualisiert zu werden. Hinzu kommt, dass der Sound der Headphones nicht optimal eingestellt ist und Knackgeräusche produziert, die allerdings vielleicht auch der Tonspur des chinesischen Films entspringen könnten. Dann drücken die unbequemen Kopfhörer trotz der nur einstündigen Länge des Films irgendwann auf den Schädel, so dass unangenehme Erinnerungen an den Moderna-Schwindel bei mir geweckt werden.
Auch mit dem eigentlichen Film, „The Good Woman of Sichuan“, der sich in einem strengen „Nothing Happens“-Hyperminimalismus aus unendlichen Long Takes von Zugfenstern und schlafenden Körper übt, kann ich wenig anfangen. Irgendwie soll das Ganze wohl an Brecht angelehnt sein, aber ich verstehe nur Bahnhof. Trotzdem ist es befreiend, mal wieder einer „echten“ Projektion beizuwohnen. Und das Schönste am Freiluftkino ist eh der langsame Übergang vom Halbdunkel des Abends ins Dunkel der Nacht, der in seiner zeitlichen Dauer selbst etwas Kinematografisches hat.
Am nächsten Abend habe ich eigentlich einen weiteren chinesischen Forums-Film über die bekannt gewordene Stadt Wuhan auf der Viewing List und will bei der Gelegenheit auch ein neues Freiluftkino am Tempelhofer Feld abchecken. Doch die beginnende Hitze macht mich so träge, dass ich lieber zu Hause EM gucke. Am Tag drei steht ein Panorama-Film namens Dirty Feathers im Freiluftkino Kreuzberg auf dem Programm: Die großzügige Location am Bethanienhaus ist gut besucht, endlich kommt ein bisschen Festivalfieber auf und auch der sehr hip aussehende us-mexikanische Regisseur und sein Team sind angereist, um ihren Film über Obdachlose im Grenzgebiet von El Paso vorzustellen. Sehr eloquent erzählt Carlos Alfonso Corral vor der Vorführung von seinem tarantinoesken Selbststudium in einer Videothek und beschwört die Macht der Versammlung im Kinoraum. Leider schleicht sich schon nach der ersten Einstellung, in der ein geistig verwirrter Obdachloser ein Rap-Poem zum Besten gibt, bei mir der Verdacht ein, dass es sich bei dem Film um einen weiteren Beitrag zum Genre „pittoresker Elendskitsch“ handelt, der sich politisch geriert, aber die Verdammten dieser Erde bloß dekorativ ausbeutet.
Trotzdem hätte ich den Film gerne bis zum Ende eine Chance gegeben, aber plötzlich macht sich wohl wegen des zweiten Moderna-Jabs am Vortag eine unwiderstehliche Vaccination-Fatigue bei mir breit, so dass ich mehrmals auf dem Sommerstuhl einnicke. Wohl wissend, dass ich den Film niemals bei vollem Bewusstsein durchstehen werde, verlasse ich nach ca. 20 Minuten das Screening Richtung Hause. Im Nachhinein lese ich im Programmheft, dass der Regisseur von Dirty Feathers wohl der allergrößte Fan von Wim Wenders' Film „Der Himmel über Berlin“ ist, für mich vielleicht eines der übelsten Machwerke des metaphysischen Autorenfilms überhaupt. Nun bin ich nicht nur heilfroh, dass ich früher gegangen bin, sondern mir geht auch auf, dass die dreckigen Federn des Filmtitels wohl auf die Berliner Engelsflügel verweisen sollen, die beim Fall auf die Erde etwas Schmutz abbekommen haben: OMG! Zum Glück habe ich gerade im Seminar Harmony Korines Spring Breakersdiskutiert, in dem eine wahrhaftigere Engelslehre für unsere Zeit verkündet wird: Britney Spears ist hier der Fallen Angel der Kulturindustrie, die in James Francos herzzerreißender Cover-Version von Everytime wiederaufersteht. Aber das ist ein anderes Thema …
Noch benommen von Impfung und Hitze muss ich leider wieder am nächsten Tag Film Nummer vier canceln, „The Scary of Sixty-First“, auf den ich mich eigentlich sehr gefreut habe, verspricht es so etwas eine queer-feministische Hipster-Version des Giallos zu sein:
Von der neu errichteten Hauptlocation habe am Kulturforum habe ich von BesucherInnen von Julian Radlmaiers postrevolutionärer und post-komischer Vampir-Elegie Blutsauger nur gehört, dass die Atmosphäre sehr nice sein soll, allerdings eine flatternde Leinwand und die Autos am Potsdamer Platz den Genuss wohl etwas trüben.
Etwas enttäuscht von meiner bisherigen Auswahl und den dazugehörigen Engels-, Impf- und Hitze-Issues verspreche ich mir einen guten Abschluss beim letzten thailändischen Forums-Film im äußerst schönen Hof des „Haus der Kulturen Welt“ (siehe Bild oben). Mit einigen thailändischen FreundInnen esse ich vorher im leckeren „Chon Tong“ in der Kantstr. und wir fahren entspannt mit dem 100er-Bus ins HKW. Etwas abgekühlt hat es sich auch. Diese optimalen Rahmenbedingungen werden aber leider wieder durch einen extrem prätentiösen Film durchkreuzt, einen für Art School-Fellowships typischen Doku-Fiction-Hybrid irgendwo zwischen Apichatpong Weerasethakuls Tier-Mimikry, Rithy Panhs Trauma-Renactement und viel Unverständlichem. Wieder Mal habe ich nur Bahnhof verstanden, doch zum Glück geht es meinen thailändischen BegleiterInnen nicht anders.
Aber trotzdem bin ich am Ende der Berlinale sehr dankbar, das Kino wieder atmen zu können und freue mich schon auf den kalten Berliner Februar im nächsten Jahr!