Plattenkritik: Actress – LXXXVIII (Ninja Tune)Angekommen in der Beletage

Actress LXXXVIII cover

Musik kann wie Sport sein. Bei vielen ist es in jungen Jahren wie Formel 1, Fußball oder Kraftsport. Im Falle von Actress ist die Musik zum Schach geworden. Ohne Schweiß und verkrampfte Muskeln, dafür mit weiser Voraussicht, interessanten Zügen und dem vertrauten Gefühl, dass man angekommen ist.

Seit fast 20 Jahren releast Actress aka Darren Cunningham Tracks, die sich immer an den Rändern des Clubs und Dancefloors bewegen. Anfangs gab es um Actress große Hypes und auszufüllende Luftmatratzenschuhe, die manchmal ein paar Nummern zu groß ausfielen. Das mag durchaus an seinem konzeptuellem Ethos liegen, das in seiner groß angelegten Trilogie „Hazyville“, „Splazsh“ und „R.I.P.“ durchschimmerte. Auch sein Label Werk Discs war immer vorne mit dabei und war Heimstatt für Moiré, Helena Hauff, Lukid und viele mehr. Ich muss sagen, ich verstehe Actress immer besser, seitdem die kollektiven Szene-Ausraster und Hypes seltener geworden sind. Mit den Jahren hat sich der Sound von Actress in seiner Vielfalt konsolidiert. Man ist in die guten Jahre gekommen und muss sich nicht mehr definieren, positionieren oder krampfhaft versuchen, sich nicht durch irgendwen (vor allem Medien) vereinnahmen zu lassen. Sein neuestes Album „LXXXVIII“, das auf Ninja Tune erscheint, spielt grafisch und visuell mit dem Thema Schach. Das Spiel der großen Meister, der Strategie und Taktik. Das Spiel der Besonnenheit und der Voraussicht. Auch den Tracks werden Quadranten auf dem Schachbrett zugewiesen. Der Albumtitel mit der römischen Zahl 88 verweist auf Cunninghams Mixtape „88“. Auch diesmal spart Actress ergo nicht mit enigmatischen Referenzen. Schach spielte beim stilprägenden Album „E2-E4“ von Manuel Göttsching, der im vergangenen Jahr verstarb, auch eine wesentliche Rolle.

„LXXXVIII“ ist ein vielschichtiges und elegantes Album. Zum einen tragen die tollen dezenten Pianos die Stücke harmonisch. Es ist vom Sounddesign divers, ohne eklektisch zu sein. Es ist eher selbstreferenziell. Mich erinnern die Produktionen von mal zu mal mehr an die amerikanischen Großmeister Moodymann oder auch Theo Parrish. Nicht, dass Actress wie die beiden klingen würde. Sondern eher, dass man diese eine klare individuelle Handschrift erkennt. Diese über Jahre erlangte Meisterschaft, auch ohne konstruierte Hits, dem eigenen Opus immer mehr integrale Bausteine hinzuzufügen. Dieses Lapidare, auch mal Tracks abzubrechen, mittendrin einzusteigen und gar nicht groß in die Arrangements gehen zu müssen, weil man seinen Trademark-Sound geschaffen hat und sich darin auch sichtlich wohl fühlt. Das alles und ein feines Gespür für deepe, inevidente Momente machen „LXXXVIII“ zu einer hörenswerten und angenehm komplexen Angelegenheit. Actress is Actress is Actress. Ohne Aufregung, ohne zu viel Pathos, ohne verkrampfte Reibung. Das ist so ziemlich gut.

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