Gemischtes Ensemble für MelancholieSo war das Konzert von Jóhann Jóhannsson in Berlin
2.12.2016 • Sounds – Text & Fotos: Thaddeus HerrmannKlassik als DJ-Set, mit Band!
Wie er das wohl machen wird? Stemmen wird, vielmehr, der Jóhann Jóhannsson? Im Foyer des Funkhaus Berlin pluckert sanfter Techno, während die Konzertbesucherinnen und -besucher – locker über 1.000 Menschen – genau diese Frage diskutieren. Hier draußen in Adlershof, direkt an der Spree, auf dem ehemaligen Gelände des DDR-Rundfunks und -Fernsehens, mit dieser phänomenalen Architektur, dem zusammengesammelten Marmor aus den Nazi-Prunkbauten und diesem noch viel phänomenaleren Sendesaal, dem besten Konzertsaal der Stadt. Wie wird Jóhann Jóhannsson das also machen? Wie wird er sein aktuelles Album „Orphée“ auf die Bühne bringen? Jóhannsson ist Thema. Zeitgeist. Nicht nur, weil er jetzt auf der Deutschen Grammophon für frischen Wind sorgt, sondern vor allem, weil seine Soundtracks für Hollywood viel bewegt haben in den vergangenen Jahren. Und: Weil er seit 300 Jahren nicht mehr in Berlin gespielt hat. Dabei wohnt er doch hier. Hat schnell gelernt von den Techno-DJs, der Jóhann.
Wie oft im Funkhaus, sitzen die Menschen um die Bühne herum. Intim und freundlich wirkt das mit den Keyboards, dem Flügel, der Bandmaschine, zwei elektronischen Arbeitsplätzen und fünf Stühlen, auf denen bald ein Streichquintett Platz nehmen wird. Das Licht geht aus, die Bandmaschine spielt Mitschnitte der Number Stations, dem Element, das „Orphée“ zusammenhält. Eine Art Einstimmung, ein Intro, das den Rahmen der kommenden anderthalb Stunden absteckt. Es geht um den Fluss des Klangs, um den Remix einer Platte, die dafür auf Tonträger eigentlich viel zu überlegt und ausgeklügelt wirkt. Aber das geht. Richtig gut.
Denn „Orphée“ ist durchaus eine streitbare Platte. Nach zahllosen Soundtracks, einem strengen Format, das der Isländer und Wahlberliner jedoch sehr schätzt, ploppte das Album mehr oder weniger unerwartet in die Welt, mit großen Momenten, die aber mehr oder weniger genau dem Paradigma des Soundtrack-Formats folgen – kurze „snackable“ Stücke, aneinander gereiht ohne nachvollziehbare Dramaturgie, die es vielleicht gar nicht braucht, aber doch erwartet wird von einem Komponisten wie Jóhannsson, dem Großmeister der Eigenbrötelei. Dass das hier in Berlin keine Soundtrack-Performance ohne Visuals wird, merkt man gleich zu Beginn. Die Aufnahmen der Number Stations sind der Auslöser, das Ensemble steigt irgendwo im Album ein. Leise, fast verhalten, geerdet von den sanften Dirigenten-Gesten von Jóhannsson selbst, der zwischen Synth, Flügel und Bandmaschine hin und her wechselt, manchmal sogar einfach nur erstarrt und seinem Ensemble zuhört. Melodie um Melodie, Motiv um Motiv: Alles schwebt durch den Raum, Zeit zum Klatschen bleibt nicht.
Denn Jóhannsson ist vor allem zweierlei: Priester und DJ. Das Konzert hat keine Pausen, alles fließt, klingt der eine Track aus, schwingt der nächste schon ein, die acht Musiker – inklusive Jóhannsson – sind perfekt aufeinander eingespielt, achten aufeinander, alles wirkt ruhig und sympathisch geplant.
Jóhannsson ist jemand, der die Tonbänder erst zurückspult, bevor er das nächste einspannt. Ein Moment des Innehaltens. Während des Rewinds grummeln und improvisieren seine Mitmusikerinnen und Mitmusiker eine leise Kakophonie, Jóhannsson steht derweil wie angewurzelt vor der Bandmaschine, nimmt die Spule ab, setzt die nächste ein, spannt das Band ein, legt den Hebel um, spult es händisch an die richtige Position, nimmt wieder Platz und weiter geht’s. Zuvor ein fast schon religiöser Moment: Jóhannsson hebt die Band-Spule empor, wie ein Priester bei der Wandlung, zeigt sie her in alle Richtungen. Das Tonband ist Jóhannssons Hostie, was dann doch ein wenig theatralisch und weird wirkt, aber auch ganz geil ist. Es ist eine epische Inszenierung, wie die eines DJs, der die besten Tracks aller Zeiten spielt und einen Scheiß auf das Beatmatching gibt. Genau richtig.
Es gibt zahlreiche, unfassbar wunderbare Momente an diesem Donnerstag in Berlin. Zum Beispiel, dass der „Hit“ der Platte, der Opener „Flight From The City“, einfach mitten drin im Konzert „passiert“, nur eine weitere Stellschraube des gesamten Sets repräsentiert und nicht anmoderiert wird. Das Ensemble arbeitet nicht darauf hin, das Publikum bleibt still, freut sich schweigend: Scheiße, ey, die Zeit steht fucking still, wenn Jóhannsson am Flügel diesen einen Akkord immer und immer wieder spielt, jedwede Idee von Sequenzen und zeitlicher Ordnung ad absurdum führt und seine Band mit einer beherzten Schulterbewegung einfach führt.
Es ist eine unglaubliche Performance, die Jóhannsson mit seinen Musikerinnen und Musikern hier auf die Bühne bringt. Ist „Orphée“ vorbei, folgen noch die Hauptthemen seiner ersten beiden Alben – „Fordlandia“ und „Englabörn“, große Momente, weil genau diese Platten genau das begründet haben, warum Jóhannsson heute da ist ist, wo er ist. Vielen hier im Saal wird das fremd sein. Vollkommen egal, die Unwissenheit geht unter im frenetischen Taumel.
Wie er das wohl machen wird? Natürlich genau richtig. Unaufgeregt, präzise und mit sehr viel Herz. Danke, Jóhann Jóhannsson.