Pageturner – November 2025: EntscheidungenLiteratur von José Brunner, Cynthia Fleury und Alena Buyx
5.11.2025 • Kultur – Text: Frank Eckert, Montage: Susann Massute
Egal ob in der Medizin, der Politik zwischen Krieg, Frieden und Verständigung oder der Akzeptanz von Abgründen im Persönlichen: Ohne Entscheidungen gibt es keine Veränderungen. Dass die nicht immer Besseres bringen, ist klar. Unverzichtbar sind sie dennoch. In seiner Kolumne stellt Frank Eckert drei Bücher vor, die sich mit Entscheidungen und den Konsequenzen auseinandersetzen.

Brutale Nachbarn (Affiliate-Link)
José Brunner – Brutale Nachbarn (Propyläen, 2025)
Was tun? Wie nicht verzweifeln? Der in der Schweiz geborene israelische Historiker und Psychoanalytiker José Brunner sucht in „Brutale Nachbarn“ nach Wegen aus der Gewalt, aus der Brutalität und Unvereinbarkeit der Positionen im Israel-Palästina-Konflikt. Es gilt sich der Eskalationslogik des Nachbarschaftsstreits zu entziehen – die ungefähr schwierigste Aufgabe überhaupt, in einem der verfahrensten und sich immer noch verschärfenden Konflikt. Das Problem, das Brunner als Historiker möglichst nüchtern und als Psychologe mit aller nötigen Empathie betrachten möchte, liegt in der Überlagerung individueller und kollektiver Traumata, von denen es auf beiden Seiten schon viel zu lange viel zu viele gibt, mit dem politisch-ideologischen Kalkül der jeweiligen Machthaber. Wie lassen sich in dieser verzweifelten Lage „Inseln der Vernunft“ bauen, in denen Dialog möglich ist?
Ein Anfang wäre zum Beispiel die Anerkennung der aktuellen Lage, die Rücknahme prinzipiell unerfüllbarer Extremforderungen. Sich überhaupt erst einmal der psychologischen Dynamik des Lagerdenkens bewusst werden, der bedingungslosen Identifikation mit einer Seite, die Identität als Opfer infrage stellen, die – von den perfide konstruierten ideologischen Angeboten – nur zu leicht angenommen werden kann. Ein wichtiger Punkt ist hier, dass Empathie und Mitgefühl angesichts der Grausamkeit und Unversöhnlichkeit keine selbstlosen Akte mehr sind, keine erbaulich-mildtätige Caritas, sondern schlicht Selbsterhaltung, Pflege der psychologischen Gesundheit. Damit verbieten sich pauschale Aussagen quasi von selbst. Etwa Israel die Absicht eines Genozids zu unterstellen. Solche Positionen schließen jede Art von Kompromiss aus, was sie besonders bei nicht direkt vom Konflikt betroffenen Ideologen so beliebt macht. Angesichts solcher extremen Positionen noch Hoffnung zu haben, ist absurd, aber eben auch absolut notwendig, um Mensch zu bleiben. Der Historiker wie der Psychologe Brunner wissen, dass dies selten aus selbstreflektierter Einsicht passiert, sondern viel eher, wenn man als Individuum oder Gemeinschaft die Grenzen der je eigenen Macht zu spüren bekommt, das Gefühl, nicht mehr gewinnen zu können. Davon sind wir wohl noch einiges entfernt. Aber es sagt immerhin, dass der Konflikt nicht „ewig“ sein kann, nicht unendlich eskalieren kann.

Hier liegt Bitterkeit begraben (Affiliate-Link)
Cynthia Fleury – Hier liegt Bitterkeit begraben (Suhrkamp, 2023)
Nichts weniger als eine fundamentale Theorie des Ressentiments und was man dagegen tun kann versucht die französische Philosophin Cynthia Fleury in ihrem Großwerk über die Verbitterung. Diese Bitterkeit kennt Fleury – und das ist das besondere und auch ziemlich alleinstellende Merkmal ihres Buches – aus der psychotherapeutischen Praxis. Die Doppelberufung als philosophische Psychologin gibt ihrer Arbeit ein tiefe praktische Fundierung, die mehr an den spezifischen Problemen und ihren strukturellen psychischen Ursachen interessiert ist als an einer alles umfassenden Theorie. Letztere entsteht eher beiläufig.
In der Praxis begegnet ihr das Ressentiment meist in Form einer wortreichen Umgehung oder schlichten Weigerung der Patient:innen, sich einer Analyse und möglichen Therapie ihrer Probleme zu stellen. Denn es ist immer noch einfacher und komfortabler, an der Bitterkeit, Reue und der Wut auf die miesen Umstände und die fiesen anderen festzuhalten, also die Schuld im Außen zu suchen, als einen Ausweg einzuschlagen, der das je eigene Selbstbild und Selbstverständnis in Frage stellen könnte. Und genau dieses trotzige Festhalten am Kummer und am sich ärgern ist jenseits der klinischen Fälle allgemein verstanden exakt der Nährboden, auf dem das Ressentiment gedeiht und die toxischen Knospen von Faschismus, Rassismus, Antisemitismus und all den weiteren Ismen treibt. Nicht zuletzt weil das Festhalten an der Kränkung auch eine lustvolle Komponente hat, unterläuft das Ressentiment einfache Step-by-Step-Lösungen, wie sie Lebenshilfe-Ratgeber en masse anbieten, ziemlich leicht.
Die internalisierte Bitterkeit ist komplex. Der Knoten lässt sich nur durch harte Arbeit auflösen, durch Problembewusstsein und stetes Fordern, Sublimieren, zu einem Werk machen wie Adorno, Nietzsche oder Norbert Elias, zu Melancholie wie Montaigne, mit Rilke, das Offene wählen. Geheucheltes Verständnis für boshafte Dummheiten – die Leute „mitnehmen“ – ist Fleurys Sache definitiv nicht. Klare Kante und Fordern bis zur Überforderung schon eher. Was übrigens auch für den immens dichten, assoziationsreichen und hyperkomplexen Text selbst gilt. Niemals vereinfachen, Bullshit niemals durchgehen lassen, beharren gerade dann, wenn es eigentlich schon zu viel wird.

Leben & Sterben (Affiliate-Link)
Alena Buyx – Leben & Sterben (S. Fischer, 2025)
Als Medizinethikerin an der TU München, als medienpräsente Expertin und ehemaliger Teil des deutschen Ethikrats ist Alena Buyx durchaus prominent, weit (oder sogar: vor allem) über akademische Kreise hinaus. Eine niederschwellige Einführung in die Praxis der Medizinethik gerade von Buyx war daher naheliegend und ist bis auf einige stilistische Eigenheiten, die mir die Lektüre etwas verleideten (z.B. permanente direkte Ansprache), durchaus gelungen und hilfreich. Es geht wie der Titel subtil andeutet um die ganz großen Fragen von der Geburt zum Sterbebett, die Buyx anhand von konkreten Fällen aufrollt und en passant die Prinzipien-Ethik und ihre Entscheidungsprozesse vorstellt. Ohne explizite Theoriebezüge – dafür verweist Buyx oft, wirklich sehr oft, auf den Anhang mit der weiterführenden Literatur.
Es geht von der Präimplantationsdiagnostik zur Palliativmedizin. Besonderes Augenmerk richtet Buyx auf die zunehmende Technisierung der Lebenswissenschaften, die zunehmend zu einer Abstraktion von Leben und Sterben und zur Automatisierung und Anonymisierung ärztlicher Entscheidungen führt. Dem entgegen beharrt Buyx darauf, dass Ethik immer konkrete Antworten auf konkrete Fragen findet, die in einer Konversation, einer sorgfältig abwiegenden kommunikativen Prozedur beruht. Diese sollte sich entlang der vier Grundprinzipien Selbstbestimmung, Nichtschaden, Fürsorge und Gerechtigkeit bewegen. Meist genügt da schon ein schmaler Katalog relativ simpler (aber nicht immer einfacher) Fragen. Klar ist jedenfalls, dass es keine allgemeine und ewige Wahrheit gibt, sondern nur um immer neue und immer spezifische Abwägung und Aushandlung im Spannungsfeld von Gesetzen, Regeln, Randbedingungen und Wünschen (von Patient:in, Angehörigen, Ärzt:innen, Krankenkasse und vielen Akteuren mehr). Und falls Sie, zu Hause vor den Bildschirmen, noch keine Vorsorgevollmacht und/oder Patientenverfügung haben, sollten Sie sich schleunigst darum kümmern.








