„Für mich ist das Arbeiten mit Sounds eine persönliche Art der Meditation“Interview mit „Phasenmensch“ Wolfram Bange anlässlich der Ausstellung „Lost Places“ in Bochum
11.9.2020 • Kultur – Interview: Steffen KorthalsVerlassene Orte und Räume gibt es in Zeiten der Pandemie öfters zu erleben. Das eigenwillige Gefühl dabei mag ein ähnliches sein, wenn „lost places“ als Räume, die der gesellschaftlichen Wahrnehmung entzogen sind, besucht und Teil von künstlerischer Auseinandersetzung werden. Die besondere Aura jener Räume im Verhältnis zum Betrachter, zur Geschichte, Musik und Gesellschaft sind die Sphäre der renommierten Exposition urbEXPO inmitten eines verfallenen Ruhrgebietortes.
Seit 2012 widmet sich die urbEXPO fotografischen Positionen zu den Themen Lost Places, Ästhetik des Verfalls und Architektur. Einmal im Jahr zeigt die kuratierte Gruppenausstellung neue Arbeiten von internationalen Fotografinnen und Künstlerinnen. Damit hat sich die urbEXPO zu einer der größten regelmäßig stattfindenden Ausstellungen zu diesen Themen in Europa entwickelt. Eine Besonderheit der zum neunten Mal stattfindenden Schau sind die mit dem Thema korrespondierenden Ausstellungsräume in den Katakomben des Schlegel-Hauses in der Bochumer Innenstadt.
Im Rahmen der Ausstellung werden auch die Beziehungen von Klang und Raum zum Motiv. So etwa in einer Perfomance des Düsseldorfers Wolfram Bange mit seinem elektronischen Musikprojekt Phasenmensch. Seine zwischen Ambient, Industrial, Techno, Breakbeat und Electronica changierenden Stücke erscheinen u.a. auf dem Label Hands. Im Interview gibt er einen Einblick auf seine Sichtweise zu verlassenen Räumen und korrespondierenden Sounds.
Was ist der Startpunkt deiner Musikproduktion, wenn es wie bei urbEXPO um Räume geht: Ist erst der Sound da oder die Vorstellung vom Raum?
In der Regel entspringt mein Impuls zu musizieren aus dem Bedürfnis der Verarbeitung gesammelter Eindrücke, die sich aus der Rezeption von philosophischer Lektüre, Erfahrungen mit virtuellen und realen Orten und der Sichtung von Filmen zusammensetzen. Dabei richtet sich mein Blick oft auf das Abseits, das Dunkle bzw. Verborgene oder das Unscheinbare im Menschen und in der Welt. Insofern entsteht zunächst der Sound und im Anschluss offenbart sich der dadurch geschaffene Raum.
Woher nimmst du die Ideen für diesen Kompositionen, aus einem eher biographisch-emotionalen oder mehr intellektuell-konzeptionellen Ansatz?
Es ist natürlich ein bisschen von beidem, denn, wie zuvor auch schon erwähnt, entsteht das Bedürfnis, die Maschinen mal wieder heiß laufen zu lassen, immer aus einer bestimmten Lebenssituation heraus, die ein Teil bzw. das Ergebnis eines persönlichen Reflektierens und der damit verbundenen intellektuellen Weltaneignung ist. In den letzten drei Jahren habe ich mich beispielsweise sehr viel mit der Philosophie Arthur Schopenhauers, dem Buddhismus und der Erkenntnistheorie beschäftigt. Als nächstes steht eine erneute Lektüre von Baudrillards „Simulacra and Simulation“ an. Der eigentliche Akt des Musizierens ist bei mir dennoch eher ein assoziativ und emotional. Das bedeutet, dass ich weniger mit einem konkreten Bild vor meinem inneren Auge arbeite, als dass ich mich von den ersten Klängen, die in diesem Prozess entstehen, an die Hand nehmen lasse und somit in einen kathartischen Dialog mit mir selbst trete.
Welche Musik beeinflusst dein Werk? Und sind Räume für dich ein Thema, dass dich häufiger musikalisch packt und was wäre deine Faszination daran?
Musikalisch bin ich stark geprägt von der experimentellen Elektronik der 90er-Jahre, auch wenn diese Einflüsse nicht unbedingt ein expliziter Bestandteil meines eigenen musikalischen Schaffens sind. Ich versuche mich beim Komponieren nicht ausdrücklich an „großen Vorbildern“ zu orientieren oder diese zu imitieren, da ich mich nicht auf diese Art und Weise begrenzen möchte.
Künstler*innen oder Bands wie Autechre, Aphex Twin, Björk, Portishead und Boards of Canada haben mich in meiner Jugend fasziniert, meinen Musikgeschmack maßgeblich geprägt und die entsprechenden Weichen gestellt. Diese Erfahrungen haben dafür gesorgt, dass meine Neugier im Hinblick auf Musik keine Grenzen kennt. Gegenwärtig sind es Label wie Thrill Jockey, Denovali, Hands, Raster-Noton, Planet Mu, Sacred Bones oder Modern Love, deren (meist) hochwertiger und vielseitiger Output mich sehr konsequent durch mein Leben begleitet. Räume und Musik sind natürlich stark miteinander verknüpft und können eine spannende Synchronität oder Asynchronität entwickeln. Zu bemerken, dass ein Raum und Musik miteinander harmonieren oder einander abstoßen, kann sehr spannend und intensiv sein. Musik kann die Wirkung eines Raumes verstärken, aber auch konträr zu ihr sein. Beides, aber auch insbesondere letzteres, ist in der Regel sehr intensiv.
Das vage Terrain ist auch immer eines der Durchlässigkeit, welches Überschreitung und Verschwinden automatisch impliziert. Wo siehst du die Verbindung von lost places, deiner Musik und Philosophie?
Die Philosophie hatte schon immer eine signifikante Bedeutung für mein Schaffen und an dieser Stelle muss ich unweigerlich an das, ursprünglich auf Derrida zurückzuführende, Konzept der „Hauntology“ und an das „bewegte Bild der Ewigkeit“ bei Platon denken. Wir können uns der endlosen Veränderung des Seins und der Indifferenz des Universums natürlich niemals entziehen, auch wenn wir uns das gerne einreden bzw. es immer wieder versuchen, weil wir diesbezüglich auch nur bedingt eine Wahl haben. Das Verschwinden ist dabei nur eine vom Menschen etablierte Kategorie, die stark mit der Identitätsfrage und dem Bedürfnis der Aneignung verknüpft ist. Verlassene Orte sind insofern, so schreibt es auch Mark Fisher, das gebrochene Versprechen einer verlorenen Zukunft, die nicht eingetreten oder vorüber ist und die uns heimsucht, uns also dazu einlädt, eben diese Prozesse der unaufhaltsamen Veränderung zu reflektieren und letztlich darüber zu verzweifeln oder das Loslassen zu lernen. Schon bei Heraklit findet man den scheinbar paradoxen Gedanken, dass Dinge sich permanent verändern müssen, um konstant zu bleiben.
Sich dem unaufhaltsamen Fluss des Seins mithilfe von Kontrollzwang entgegenzusetzen, kann für uns selbst und andere gefährlich werden, das sich daraus oft gefährliche „Mittel zum Zweck“-Kategorien ergeben, die zugunsten einer vermeintlichen Konservierung, die denkbar schlimmsten Haltungen und Handlungen rechtfertigen. Erich Fromm schreibt in „Haben oder Sein: Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft“ darüber und Sartre beschreibt das, zum Scheitern verurteilte, Konzept der Vergegenständlichung des Selbst als „Unaufrichtigkeit“.
Sind lost places für dich daran gekoppelt, dass es Orte ohne Menschen sind? Schärfer gefragt: Geht es um Musik ohne Menschen, die quasi des Menschen nicht mehr bedarf wie sich die Postmoderne vom Subjekt schon lange verabschiedet, vielleicht im Sinne der angesagten akzelerationistischen Diskurse – geht es um Musik um der Musik willen oder abstrakt um eine vergangene Idee, die heimsuchend wiederkehrt oder denkst du ein Subjekt mit oder wird das Subjekt durch das unheimliche, gespensterhafte, verschwundene Subjekt ersetzt?
Ja, lost places und das Verschwinden des Menschen hängen für mich durchaus zusammen, da dies auch Teil der Definition des Begriffes ist. Das Adjektiv „verloren“ impliziert eine zuvor stattgefundene Aneignung und da mit hoher Wahrscheinlichkeit nur der Mensch in diesen Kategorien denkt, lässt sich hier, meines Erachtens, ein Bezug herstellen. Ähnlich ist es auch mit dem Begriff der Musik, denn was wir als Musik wahrnehmen ist natürlich in mannigfaltiger Hinsicht äußerst subjektiv. Es bedarf jedoch einer Einordnung wahrgenommener Klänge als „Musik“ durch einen Menschen – in der Welt als Vorstellung –, selbst wenn sich diese nicht weiter versprachlichen lässt.
Für mich ist der Schaffensprozess ein Moment, der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft explizit miteinander vereint. Es ist eine beinahe paradoxe Form der Subjektwerdung und gleichermaßen eine Auflösung dieses Subjekts. Ich löse mich in diesen Augenblicken von den Dingen, die mich heimgesucht oder begleitet haben, öffne mich einer noch ungewissen Zukunft und gehe gleichzeitig voll und ganz im gegenwärtigen Moment auf. Für mich ist das Arbeiten mit Sounds eine persönliche Art der Meditation.
Gerade in Zeiten der Coronakrise zeigt sich die Ambivalenz von vergessenen Orten: Als Möglichkeitsort der Transgression und safe space mit dionysischen Versprechungen, aber auch als menschenleerer Ort mit apokalyptischer Assoziation und dem Sterben als Schwingung. Wie siehst du gerade in der speziellen Krise lost places?
De Tendenz der Wahrnehmung schwankte in den letzten Monaten immer wieder. Wenn ich, zur Zeit der Beschränkungen, spazieren gegangen bin und die Innenstadt beinahe menschenleer wirkte, war die Situation oft gespenstisch und beruhigend zugleich. Mit sich selbst allein zu sein, ist eine harte Prüfung, der man sich allerdings unbedingt stellen sollte. Gerade das fasziniert mich an verlassenen Orten, denn es passiert im Alltag viel zu selten, dass man wirklich lernen kann, nur bei sich zu sein.
Musik an oder für lost places mutet oft melancholisch, düster, industriell und einsam an. Ist eine Klangästhetik in und für die urbanen Grenzräume denkbar, die die utopische Möglichkeit des Raumes atmosphärisch belebt, die Schnittstelle hoffnungsvoll für oder mit den Menschen beackert und feiert?
Sich im Hinblick auf urbane Grenzräume auf eine bestimmte Klangästhetik zu beschränken, halte ich, auch wenn es selbstredend gewisser Rahmen bedarf, um eine geteilte Existenz aufzubauen, nicht für erstrebenswert, da dies langfristig zu Stereotypisierung und Klischees führt und letztlich die subjektive Komponente dabei im Schlimmstfall zu stark außer Acht lässt. Welche Wirkung ein Zusammenspiel von Raum und Klang hat, ist, denke ich, nur bedingt zu prognostizieren, auch wenn es selbstverständlich gewisse Sounds und Klänge gibt, die mit bestimmten Orten mehr oder weniger zu harmonieren scheinen.
Wenn vergessene Orte das Element der individuellen Entdeckung in sich tragen und in der Musik oder als Aufführungsraum sowohl vergangene Nutzung als auch Utopie/Dystopie im wahrsten Sinne mitschwingen lassen, sind dann diese Räume – und die Musik dafür und darin – nicht auch immer zwangsläufig politisch, weil sie mit sozialen Praxen in gesellschaftlichen Kontexten verbunden sind?
Das ist natürlich eine Suggestivfrage. Aber, ja, selbstverständlich spielt eine politische Komponente dabei eine Rolle und natürlich sind sie mit sozialen Praxen in gesellschaftlichen Kontexten verbunden. Die zuvor bereits angesprochenen Versprechen einer verlorenen Zukunft sind niemals ohne diese Zusammenhänge anzusehen und somit niemals unpolitisch interpretierbar.
Wenn du deine Werke live spielst, wie an dem besonderen Ort der Christuskirche Bochum bei urbEXPO-Eröffnung und vor Publikum, verändert sich was am Sound oder bei dir beim Spielen?
Der jeweilige Ort – in Kombination mit der entsprechenden Veranstaltung – nimmt einen nicht unwesentlichen Einfluss auf die Art der Performance und ist bei meinen Vorbereitungen natürlich entscheidend. Ich wäge ab, welche Stücke sich besser oder schlechter für einen Auftritt eignen, würde daraus aber keine allgemeinen Regeln ableiten. Manchmal bin ich darauf aus, bewusst mit der Ästhetik eines Raums zu brechen und ein anderes Mal strebe ich das bewusste Harmonieren mit dem Raum an. Darüber hinaus nimmt ein Raum selbstverständlich auch Einfluss auf ein Publikum und daraus erwächst oft eine spannende Dynamik, auf die ich und mein Gitarrist dann reagieren müssen und auf die man sich nur bedingt vorbereiten kann.
Phasenmensch ist ein, einen philosophischen Ansatz verfolgendes, Musikprojekt aus Düsseldorf. 2019 feierte das Projekt sein zehnjähriges Jubiläum mit dem Album "Haunted [The Gentle Indifference Of The World]". Ziel des Projekts ist eine stilistisch (weitestgehend) freie Arbeit mit abstrakten Klängen, bei der es in erster Linie um die Konservierung, die Reflexion und den Transport von philosophischen Betrachtungen und/oder persönlichen Emotionen, Momenten und Gedanken geht. Das Projekt sieht sich deshalb nicht ausdrücklich auf eine spezifische Zielgruppe ausgerichtet. Mal harmonisch, mal aggressiv oder verträumt, Phasenmensch möchte sowohl zum Nachdenken als auch zum Tanzen anregen.
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